JOSEPH VON EICHENDORFF
Man setzt uns auf die Schwelle,
Wir wissen nicht, woher?
Da glüht der Morgen helle,
Hinaus verlangt uns sehr.
Der Erde Klang und Bilder,
Tiefblaue Frühlingslust,
Verlockend wild und wilder,
Bewegen da die Brust.
Bald wird es rings so schwüle,
Die Welt eratmet kaum,
Berg’, Schloß und Wälder kühle
Stehn lautlos wie im Traum,
Und ein geheimes Grausen
Beschleichet unsern Sinn:
Wir sehnen uns nach Hause
Und wissen nicht, wohin?
um 1830
Die Ferne, ein zentraler Begriff in der Poetik Joseph von Eichendorffs (1788–1857), spielt auch in diesem Gedicht eine prominente Rolle. Doch anders als in der berühmten Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“, wo Gott den Menschen ausschickt „in die weite Welt“, um ihm seine Wunder zu zeigen, markiert die Fremde in diesem ersten Gedicht des Zyklus „Der Pilger“ den Bereich außerhalb des irdischen Lebens, einen Bereich, den der Dichter evozieren, den er gleichwohl nicht verorten kann.
In der Form eines Reimgebetes durchläuft dieses Gedicht mit den Jahreszeiten ein ganzes Lebensalter, um so zu enden, wie es beginnt: mit der spielerisch leichten Ahnung einer Welt hinter den Erscheinungen. Diese Welt, so könnte man mit Joseph Görres sagen, der großen Einfluß auf die Ästhetik Eichendorffs hatte, „schwingt als unaussprechlicher und zarter Nachklang“ in den Versen mit, als Quell, dem die Seele entspringt und zu dem sie zurückkehren wird.
Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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