JÜRG HALTER
Kernfusion
Wir drehen uns im Kreis,
ich, Proton, du, Neutron.
Kommen zu keinem
gemeinsamen Stillsein.
Wenn ich über etwas schweige,
schweigst du über etwas anderes.
Wir spiegeln uns gegenseitig,
bis sich nichts mehr regt in uns.
Wer bin ich und wer bist du?
Unsere Fusion bleibt aus.
Neue Namen müssen her.
Sind nur Schall und Rauch.
2005
aus: Jürg Halter: Ich habe die Welt berührt. Ammann Verlag, Zürich 2005
Mit Selbstbewusstsein ist dieser Schweizer Aktivist der sogenannten „Spoken Word-Poetry“ reichlich ausgestattet. „Ich bin als Prophet gekommen“, teilte er einer Journalistin mit, um hinzuzufügen: „Ich liebe mein Volk, ich werde zu ihm sprechen.“ Sein Volk, das waren lange ausschließlich die Besucher internationaler Poetry Slams. Den Schritt vom wilden „Spoken Word-Poeten“ zum seriösen Lyriker vollzog Jürg Halter (geb. 1982) dann 2005 mit seinem Band Ich habe die Welt berührt.
Ein Liebesverhältnis in die Kategorien der modernen Physik übertragen – darauf zielt die Analogiebildung in diesem Gedicht. Obwohl die physikalische Korrektheit dieser Metapher bezweifelt werden muss. Denn eine „Kernfusion“ ist ursprünglich die Verschmelzung zweier Atomkerne zu einem neuen Kern, wobei die naturgegebene „Abstoßungskraft“ zwischen den positiv geladenen Kernen überwunden werden muss. Jürg Halter evoziert die fast objektive Unmöglichkeit einer Vereinigung zweier Liebender – auch „neue Namen“ werden da nicht weiterhelfen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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