JÜRGEN THEOBALDY
Bunte Kreide
Und jeder Sommertag sei uns der längste Tag,
nach Drinks gemessen, rund wie eine Aprikose,
die in die Form wächst eines Aprikosenbaums,
gekreuzigt in der Mittagshitze vor der Mauer,
vom Tisch genommen aus der Fruchtfleischschale:
im Mund behalten wie den Leib des Herrn,
getränkt vom Licht im Juli, rot, orange und gelb,
die Frömmsten schimmelgrau, darüber Himmelblau.
nach 2000
aus: Jürgen Theobaldy: 24 Stunden offen. Verlag Peter Engstler, Ostheim 2007
Der Sommer ist die bevorzugte Jahreszeit des Lyrikers Jürgen Theobaldy (geb. 1944), der in den 1970er Jahren als Repräsentant der Poesie der „Neuen Subjektivität“ viel Bewunderung auf sich gezogen hat. 1983 veröffentlichte der bis dahin formal eher lässig verfahrende Theobaldy den Band Die Sommertour, indem er erstmals mit klassischen Formen, mit Oden und elegischen Distichen experimentierte. Und auch sein 20 Jahre danach entstandener Text „Bunte Kreide“ erweist sich als Hymnus auf den Sommer.
Die emphatische Feier der Farben des Sommers und die Beschwörung der Atmosphäre des Südens werden hier verbunden mit den Symbolen einer christlichen Metaphorik. Die Realien der Natur: die Hitze, die Aprikose und der Aprikosenbaum bindet Theobaldy an ein genuin christliches Zeichensystem: an das Abendmahl („im Mund behalten wie den Leib des Herrn“). Das Genießen des Sommers – es hat Züge einer Liturgie.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
Schreibe einen Kommentar