Karl Krolows Gedicht „Volkslied“

KARL KROLOW

Volkslied

Was ich noch übrig hab:
Wieviel davon ich begrab,
tagein, tagaus.

Es fällt mir deshalb leicht,
weil es mir längst schon reicht:
mach mir nichts draus.

Nichts kommt mir in den Sinn,
als daß ich garnichts bin:
nichts als Poet,

dem es vielleicht gelingt,
zu tun, was garnichts bringt,
daß er noch weiter singt, dem Tod entgeht.

1999

aus: Karl Krolow: Im Diesseits verschwinden. Gedichte aus dem Nachlaß. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2002

 

Konnotation

Schreiben, um nicht zu sterben: Das ist die Strategie der Lebensrettung, die viele moderne Schriftsteller kultivieren – und nicht nur in unmittelbarer Nähe des Lebensendes, wie hier im Fall des stoischen Lakonikers Karl Krolow (1915–1999). Hier schaut einer auf die Finalität des Daseins, die in Sichtweite kommt – Anlass für eine Bilanz. Selbst die Erfahrung des individuellen Lebens-Überdrusses wird noch in Kunst verwandelt, in ein allgemeingültiges „Volkslied“.
In fieberhafter Produktivität hat Krolow in den letzten Jahren seines Lebens noch einmal sein ganzes Formbewusstsein demonstriert und locker geflochtene Kreuz- oder Schweifreime in großer Zahl verfertigt. Allein in den letzten sechs Monaten seines Lebens entstanden rund einhundert Gedichte, darunter das „Volkslied“ vom Februar 1999. Selbst die Verkündung der eigenen Nichtigkeit kann man als großes dichterisches Schaulaufen zelebrieren.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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