Karl Mickels Gedicht „Epistel“

KARL MICKEL

Epistel

Liebe Freundin, ein Dach ist schön
Wenn Regengüsse niedergehn
Im Ofenloch Feuer loht
Wein auf dem Tisch, weiß oder rot
Reichlich Brot Wurst Käs in der Küche
Einiges davon mit auf dem Tische
Daß Deine Hand es uns greift
Dein Arm meinen streift
In leichtem Bogen Dianas Bogen
Das Bett kühl bezogen
Das Bett ebenso lang wie breit
Viel Zeit
Ich bin ehrlich, du mir offen
Was wolln wir noch hoffen

1960er Jahre

aus: Karl Mickel: Schriften I. 1957–1974. Mitteldeutscher Verlag. Halle/Leipzig 1990

 

Konnotation

Es ist alles bereitet für eine erotische Lustbarkeit: Ein Obdach für die zwei Liebenden ist vorhanden, auch ein handfestes kulinarisches Setting für das Vergnügen zu zweit. Karl Mickel (1935–2000), in der DDR und auch nach deren Ende der unerreichte lyrische Großmeister der klassischen Form, hat in einer eher nüchternen „Epistel“ festgehalten, dass die Chancen auf die Erfüllung der sich anbahnenden Erotik gar nicht so schlecht stehen.
Aber in der Ausmalung der schönen Liebes-Utopie lauern Widerhaken. Die Geliebte wird als bewaffnete Jägerin beschrieben („Diana“), als deren Jagdobjekt nur das Ich des Gedichts in Frage kommt. Es gehört auch zu den Irritationen dieser „Epistel“, dass affektive Momente der lyrischen Figuren weitgehend ausgespart bleiben zugunsten einer Atmosphäre der Sachlichkeit. Es ist noch nicht absehbar, ob sich aus der „Offenheit“ der Situation heraus das Feuer der Leidenschaft entzünden kann. Aber es gibt Hoffnung.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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