Wurm in Person
Ich stehe – ein halbes Jahrhundert ist seither vergangen – in der Warteschlange vor dem Postschalter für Ein- und Auszahlungen. Vor mir ein breiter Rücken mit hohen Schultern, ein zerknitterter Parka, Kragen hochgeschlagen, auf dem mächtigen Kopf eine Art Schiffermütze. Langsam schieben wir uns, Körper an Körper, in der Schlange voran. Endlich ist mein Vordermann an der Reihe, er muss sich tief herabbeugen, um durch die Trennscheibe mit der Frau hinterm Schalter auf Augenhöhe reden zu können. Zu reden gibt offenbar die Tatsache, dass der Mann Geld abholen will, nun aber grade seinen Personalausweis nicht dabei hat. In der Hand hält er schon das offene Portemonnaie, er behauptet, hier schon immer sein Geld abgeholt zu haben, alle hier im Amt müssten ihn eigentlich kennen und seine Identität bestätigen können. Nochmals fragt ihn die Schalterdame nach dem Namen. „Wurm!“, brüllt er mit gesenktem Kopf: „Franz Wurm! Aber das ist doch grotesk, ruft er aus: Das ist doch nicht möglich!“ Er haut mit der flachen Hand – was für ’ne Pranke – klatschend auf den Schaltersims und wendet sich abrupt ab.
Wurm?! Ja, jetzt hatte ich’s begriffen: Das war meine erste Begegnung mit dem Dichter Franz Wurm. Die schwere Pranke, die er auf den matten Marmor geknallt hat, ist seine Schreibhand. Ein Gespräch mit ihm mied ich damals, und danach traf ich ihn kaum noch; zweimal bei einer gemeinsamen Lesung. Wir korrespondierten aber im Lauf der Jahre immer mal wieder, vorab über Celan und Holan.
Ebenfalls auf dem Korrespondenzweg versuchte ich ihn – er hatte mich mit seiner frühen Lyrik nachhaltig angesprochen – zum Weiterschreiben anzuregen, erbat neue Gedichte von ihm, war ihm dann hilfreich bei der Suche nach einem Verleger. Schliesslich erschien, nach längerem Hin und Her, tatsächlich ein weiterer Band – Abbruch seines langjährigen beharrlichen Schweigens, Aufbruch zu seinem poetischen Spätwerk, das freilich keine Resonanz mehr fand.
aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne
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