KONRAD BAYER
marie dein liebster wartet schon
marie dein liebster wartet schon
mit einer stange von beton
in seiner guten sanften hand
im haar trägt er ein seidenband
er schlägt den prügel dir ums ohr
da spritzt das blut gar hell empor
dein neuer hut er ging entzwei
ihm war das alles einerlei
warum geht er so eilends fort
warum spricht er kein einzig wort
was hat den knaben so bewegt
dass er dich einfach niederschlägt
er war so still er war so zart
sein kinn war weich und unbehaart
wer hätte das von ihm gedacht
marie er hat dich umgebracht
um 1960
aus: Konrad Bayer: Das Gesamtwerk. Hrsg. v. Gerhard Rühm. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1971
Am Ende von Georg Büchners berühmtem Drama Woyzeck kommt es zu einem tragischen Mord: Der sozial erniedrigte Soldat Woyzeck tötet in einem Anfall von rasender Eifersucht seine Geliebte Marie. Der österreichische Dichter Konrad Bayer (1932–1964), der provokativste Kopf der Wiener Gruppe, hat aus diesem Motiv des Geliebten-Mords ein schaurig-böses Liebesgedicht gemacht.
Die Suche nach einer Verbindung von Schönheit und Schock führt hier zu einem rabiat-provokativen Gedicht, das auf die Elemente der Ballade und der Moritat zurückgreift. Der Text weicht durch seine konventionelle Form von der experimentellen Poetik Bayers ab, die darauf abzielt, die Grenzen auf unserer sprachlichen Landkarte zu verschieben. Bei seinem Versuch einer radikalen ästhetischen Revolte griff Bayer zu ungewöhnlichen Mitteln: Er beschäftigte sich mit Magie und Geheimriten, er wollte die Kunst erlernen, sich unsichtbar zu machen. Nach einem unglücklich verlaufenen Auftritt bei der Gruppe 47 beging er am 10. Oktober 1964 Selbstmord.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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