KONRAD WEISS
Verkündigung
Als Maria, da der Engel ihr
Jungfrauengemach verlassen, schier,
wie die Flut ihr Herz hinuntertrank,
hinverlöschend durch des Weinens Gier
auf das Kissen, wo sie kniete, sank,
da, noch eh der Tau vom Auge brach,
sah sie, daß vorm Fenster – ihr Gemach
wurde hell davon – ein Baum im Reif
stand, wie knospet Gold durch Wasser, sprach
sie, die weiße Flamme. – Herz begreif!
nach 1920
aus: Eines Morgens Schnee. Hrsg. von Norbert Hummelt. Lyrikedition 2000, München 2006
Als „einen Dichter, dunkel aus Demut, und undurchdringlich aus echter Bescheidenheit“, haben ihn prominente Zeitgenossen beschrieben. Der geistliche Dichter und Marien-Mythologe Konrad Weiß (1880–1940) hat sich wie kein anderer Autor seiner Generation mit großer Emphase den biblischen Urszenen von der Gottesmutter Maria und der Heiligen Familie hingegeben. Was heute kaum ein Autor mehr wagen würde, hat Weiß zu seinem lyrischen Grundsatzprogramm gemacht – die direkte Ansprache der Heiligengestalten, das Gedicht als inniges Gebet.
Als dunkle Melodien, murmelnde Beschwörungen, die als Selbstgespräche der Seele nach innen gerichtet sind, strömen Weiß’ Verse dahin, bis sie im semantischen Innenraum ihren theologischen Glutkern erreichen. Auch die „Verkündigung“ ist in diesem Sinne das pathetische Selbstgespräch eines tief religiösen Katholiken, der die Visionen der Gottesmutter als persönliche Offenbarung durchbuchstabiert.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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