Kino

Ich hatte den Nachmittag im Strandbad am See verbracht, war irgendwo unter der Sonne eingeschlafen und erst wieder aufgewacht, als die Vorstellung bereits begonnen hatte. Dennoch fuhr ich in die Stadt zurück, um mir – nun eben mit Verspätung – »Die Reprise« anzusehen. Ich kannte den Film aus meiner Studienzeit. Am deutlichsten war mir die Schlußszene auf dem Bahnhof in Erinnerung geblieben, und diese bestimmte Erinnerung wollte ich nun mit jener vagen Szene vergleichen, die ihr zugrunde lag.
Als ich beim Bahnhofskino anlangte, war der Film schon zur Hälfte gelaufen, aber was tat’s, ich konnte mich an die Handlung und insbesondere an deren Anfänge – der Plural war mir ein Rätsel – ohnehin nicht erinnern. Trat also ein, sah zunächst nichts, stieß mit dem linken Knie an eine Reihe von Ellenbogen, was jedesmal ein mannhaftes Murren oder einen kleinen weibischen Schrei auslöste; dann ließ ich mich fallen, saß fest. Und kaum hatten sich meine Augen an das relative Dunkel gewöhnt, als ich – mein eigener Auftritt war noch nicht aktuell – mit Erstaunen bemerkte, daß außer mir nur rund ein Dutzend (vielleicht auch etwas mehr) Besucher gegenwärtig waren, die meisten, mit gesenktem Kopf und also selbstvergessen, auf den Plätzen ganz links in den vordersten Reihen. Ja. So.

Und schon sah man den Chef auf dem fast menschenleeren Bahnsteig, sah, wie er auf einen fetten Jeansjungen einging, dann aber plötzlich erschrak, die Sprache verlor, sich sogleich bückte und, aus der Hocke, mit langsamem Blick dem Jungen folgte, bis nur noch, durch den Bodenspalt in der Pissoirwand, dessen nackte Füße zu sehen waren. Und weiter konnte man, genau meiner Erinnerung entsprechend, sehen, daß nun auch der Chef seine Schuhe auszog, die kniehohen Socken, dann die Hose, die Unterhose, die karierte Jacke, das Hemd, die Brille, den Hut; und daß er, nach einem letzten Blick hinüber zu Pelosi, die Gafferschaft, die ihn inzwischen umstellt hatte, wie ein Schwimmer mit großen rudernden Gesten zerteilte und durch das Mittelschiff der Bahnhofshalle zum Ausgang rannte, in die Wüste, wo er sich, ohne jemals wieder ins Freie zu gelangen, die Füße wundlief.
Und doch scheint die Erinnerung besser als der Film gewesen zu sein. Denn als es nun allmählich hell wurde im Saal, richteten sich die übrigen Zuschauer, als würden sie von oben an Schnüren gezogen, ruckartig in ihren Sesseln auf, schauten sich, während sie sich erhoben, um, sahen mich aus dunklen Sonnenbrillen an. Alle waren sie gleich gekleidet; sie trugen über einem schwarzen, eng anliegenden Trikot einen durch und durch durchsichtigen, über der Brust geöffneten Regenschutz, dazu schwarze Handschuhe und – für die Jahreszeit ebenso erstaunlich – einen Borsalino mit auffallend breitem schwarzem Hutband.
Die Damen, noch immer wortlos, begannen nun, als wollten sie Stellung beziehen, im Saal sich zu verteilen, wobei ihre Regenhäute wie ein großes Feuer knisterten. Wie ein Mann standen sie schließlich, nur locker formiert, im Kinogelände. Das ist er! dachte ich bei mir. Das ist der kollektive Heissenbüttel! Und tatsächlich schlagen sie jetzt – alle zugleich – ihre Schöße zurück, um ein winziges Glied zu entblößen, das sie lächelnd, dann lachend und schreiend bereiben, bis es kommt, bis zuletzt, bis zur völligen Vermeerung des Saals, über dem sich nun endlich, weiß und für immer, der offene Himmel wölbt.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00