KURT BARTSCH
Einer
Einer hat auf einen geschossen.
Einer war da. Jetzt ist einer weg.
Einer ist um die Ecke gegangen.
Einer kam nicht vom Fleck.
Einer hat das Fenster geöffnet.
Einer war tot. Einer bekam einen Schreck.
Einer hat das Fenster geschlossen.
Einer lachte und steckte seinen Revolver weg.
Einer lag auf dem Pflaster.
Einer sah einen Schatten.
Einer hörte den Schuß.
Einer fuhr weg im Leichenauto.
Einer ging weg zu Fuß.
nach 1980
aus: Jahrbuch der Lyrik 1984. Hrsg. v. C. Buchwald u. G. Laschen. Luchterhand Verlag, Darmstadt 1984
Zu den am meisten gefürchteten Waffen des 1937 geborenen Dichters, Erzählers und Drehbuchautors Kurt Bartsch gehörte die Parodie. In der DDR, wo er bis 1980 lebte, mokierte er sich über opportunistische „Staatsschriftsteller“, im Westen kritisierte er hochgejubelte Mode-Autoren. Aber auch jenseits seiner Parodien ging Bartsch als Dichter seine eigene „Hölderlinie“. In einigen sehr düsteren Gedichten aus den 1980er Jahren entwirft er Fallstudien des Scheiterns und Verunglückens.
Das Gedicht spricht von namenlosen Tätern und Opfern, die offenbar in einer völlig anonymisierten Gesellschaft ohne jede solidarische Regung leben. Der Autor beschränkt sich auf die lakonische Reihung von ebenso unheimlichen wie undurchschaubaren Vorgängen. Ausgangspunkt des Gedichts ist offenbar ein Tötungsversuch an einer Person, dessen Begleitumstände hier protokolliert werden. Aber die Akteure bleiben namenlos und das Geschehen rätselhaft.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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