LUDWIG THOMA
Auf Höhen
Und ich fragte meinen Lehrer,
Wo der liebe Herrgott wohnt.
„Ei, im blauen Himmel oben,
Wo er mit den Englein thront.“
Und die grauen Felsenberge
Ragen doch so hoch empor!
Sieht man von dem steilen Gipfel
In das offne Himmelstor?
Sieht man auch die Engelsscharen?
Hat der Himmel dort ein Loch?
„Ja, natürlich,“ sprach der Lehrer,
„Warte, du begreifst es noch.“
Nein ich hab’ es nie begriffen,
Als ich dann nach manchem Jahr
Oft und oft und immer wieder
Auf den Bergesgipfeln war.
Hoch zu Häupten, fest verschlossen
Wölbte sich das Himmelszelt,
Und ich sah nur kleiner werden
Unter mir die Erdenwelt.
um 1900
Immer wenn die religiös unsicheren Helden des sehr bayrischen Satirikers und Erzählers Ludwig Thoma (1867–1921) die Nähe des „Herrgotts“ suchen, geraten sie in Schwierigkeiten. Der Protagonist in Thomas berühmtester Erzählung Ein Münchner im Himmel (1911) fühlt sich unter den Engeln nicht wohl und kehrt an seinen Stammplatz im Münchner Hofbräuhaus zurück. Das lyrische Subjekt eines um 1900 entstandenen Gedichts grübelt über den Wohnsitz des „Herrgotts“ nach und findet ihn nirgendwo – auch nicht auf den höchsten Berggipfeln.
Hinter solchen im Kindervers gehaltenen Idyllen verbirgt sich bei Thoma oft eine religionskritische Pointe. Die Moral- und Gesellschaftskritik war auch seine Domäne, als er zu den wichtigsten Autoren der satirischen Zeitschrift Simplicissimus zählte (von 1896 bis 1914). Der Erste Weltkrieg machte aus dem linksliberalen Bohemien einen ultrakonservativen Nationalisten. Nach 1916 exponierte sich Thoma fast nur noch mit anti-semitischen und anti-republikanischen Schmähreden und Hetzartikeln.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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