Nora Bossongs Gedicht „Überläufer“

NORA BOSSONG

Überläufer

Mit Großvater gingen wir am Kanal,
vorbei an Dohlennestern, Tannenzapfen.
Schneemädchen nannte er mich, mit ihr
sprach er nicht. Seine Schritte schielten.
Sie sagte: Fallsucht. Sie sagte: Nicht mal
gehen kannst du mehr.
Was bist du noch?
Er sah mich an, er fragte: Mädchen, frierst Du?
Sie rief: Schneemädchen, Schneemädchen,
du totes Kind! Wie gut, dass wir nicht mehr
zusammen sind!
Sie rief es und lief
in den Forst, in den Frost. Ihr Lachen,
Herabstauben des Schnees von Nadelzweigen.

2007

aus: Neubuch. Neue deutsche Lyrik. Hrsg. Von Ron Winkler. yedermann verlag

 

Konnotation

Die Gedichte Nora Bossongs (geb. 1982) geben vor, Geschichten zu erzählen, aber diese Geschichten lassen durch Verkürzungen und Verknappungen alles in der Schwebe, sie siedeln in einem Zwischenraum, in dem nichts auserzählt wird, sondern alles nur im Modus der Andeutung greifbar wird. Szenisch erfasste Momentaufnahmen aus dem Alltag, Partikel sinnlicher Wahrnehmungen, kleine Traumsequenzen und Wunschbilder werden auf so fesselnde Weise in Versen miteinander verbunden, dass ein eigener Erfahrungsraum entsteht.
Die poetische Erinnerung verwebt hier widerstreitende Motive: Da ist zunächst die Gestalt des Großvaters, der im Tonfall des Märchens seinem „Schneemädchen“ die Welt zu erklären scheint. Neben dieses begütigende Sprechen treten aber auch Signale der Bedrohung. Fremde, Unheil verheißende Wörter rücken dem „Schneemädchen“ gefährlich nahe: „Fallsucht“ und die Beschwörung des „toten Kindes“. Wer die sinistre dritte Gestalt in dieser Konstellation dreier Gehender ist, lässt das Gedicht bewusst offen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00