Richard Pietraß’ Gedicht „Suppenruf“

RICHARD PIETRASS

Suppenruf

Heute gibt es Ampfersuppe, Ampfersuppe.
Während eines Froschkonzerts zupfte
ich ihn von der Wiese. Rudere zurück
aus deinem Luftgrab, Vater, rudere zurück.

Löse deine Kampferbinden von geborstner
Schläfe, Mutter. Ampfer stampfte
ich vorm Gewitter. Saure Suppe gibt es heut.
Ruf dein träges Blut, ruf es zurück.

Hört auf zu sterben, heute gibt es Ampfersuppe.
Kartoffeln und Eier brachte ich vom Markt.
Haltet ein! Reinigt Teller und Löffel. Seht
Die Suppe dampfen, liebe Brüder, süße Schwester.

um 2000

aus: Richard Pietraß: Freigang. Faber & Faber, Leipzig 2006

 

Konnotation

Da tönt uns zunächst wie in alten Märchen oder heiteren Geschichten ein beschwingter „Suppenruf“ entgegen, der die Familie am Tisch versammeln soll. Wie ein sächsischer Schamane sendet das lyrische Ich des Dichters Richard Pietraß (geb. 1946) seinen anrührenden Lockruf von der „Ampfersuppe“ aus – um zu heilen, was nicht mehr zu heilen ist. Denn die Familie, die hier fast litaneiartig zu Tisch gerufen wird, existiert nicht mehr: Vater und Mutter sind tot, und auch die „lieben Brüder“ und die „süße Schwester“ scheinen nicht wirklich anwesend zu sein.
Die Heiterkeit des stets humorbereiten „Schalkschädels“ Richard Pietraß, der sein Formbewusstsein und seine Reim-Artistik stets überzeugend zu demonstrieren weiß, verbindet sich hier mit elegischer Wehmut. Das Familienglück, das einst durch rituelles Beisammensein gestiftet werden konnte, ist unwiederbringlich dahin. So bleibt nur die emphatische Aufhebung des Todes im Gedicht: „Hört auf zu sterben, heute gibt es Ampfersuppe.“

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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