ROBERT GERNHARDT
Er und ich
Ich habe stets von ihm gewußt,
nun hockt er schwer auf meiner Brust.
Er ist der Strick. Ich bin das Kalb.
Ich bin sein Traum. Er ist mein Alp.
1997
aus: Robert Gernhardt: Gesammelte Gedichte 1954–2006. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2008
Bei einem Großmeister der Komik und des schwarzen Humors wie Robert Gernhardt (1937–2006) ist man überrascht, wenn man auf dunkle Evokationen einer Seelenfinsternis stößt. In seinen letzten zehn Lebensjahren hat Gernhardt jedoch eine ganze Reihe von Gedichten geschrieben, in denen das Ich in seinen eigenen Abgrund blickt. Etwa in der 1997 erstmals veröffentlichten Miniatur über die beständige Heimsuchung des Ich durch einen bedrohlichen „Er“.
Es ist eine sehr mächtige Instanz, die da von dem Ich Besitz ergreift und seine Bewegungsfreiheit lähmt. Eine negative Erwartung erfüllt sich in furchtbarer Weise: Denn das Ich ist zum Gefangenen seines eigenen Alptraums geworden, es wird vorgeführt wie ein Kalb am Strick. Der Protagonist des Gedichts ist der furchteinflößende Anonymus, das Ich ist an die zweite Stelle gerückt und zum lateinischen „sub-iectum“, also zum „Unterworfenen“ geworden.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
Schreibe einen Kommentar