ROLF BOSSERT
Fragen eines lesenden Maulwurfs
Wo ist die Weisheit mit dem Silbenbart?
Wo sind die Köpfe, wo Vernunft sich paart
Mit Unverstand, mit toter Ironie?
Wo ist die krause, liebe, grüne Industrie?
Wo ist der rote Bart der Anarchie?
Wo sind die Kinder die nicht wissen wie
Das Hirn ins Herz springt oder umgekehrt?
Dem Maulwurf ist ein Suff acht Zeilen wert.
1985
aus: Rolf Bossert: Ich steh auf den Treppen des Winds. Gesammelte Gedichte. Hrsg. v. Gerhardt Csejka. Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, Frankfurt a.M. 2006
Wie sein Vorbild Bertolt Brecht (1898–1956) hatte sich der rumäniendeutsche Dichter Rolf Bossert (1952–1986) lange die Zuversicht bewahrt, durch literarischen Widerstand ein repressives politisches System in seinen Fundamenten erschüttern zu können. Brecht selber hatte diesen Optimismus in seinem im dänischen Exil entstandenen Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ aus dem Jahr 1935 demonstriert. Von der kommunistischen Despotie des rumänischen Diktators Nikolae Ceauşescu absolut zermürbt, ist bei Bossert diese Zuversicht zerbrochen. Seine im Januar 1985 entstandene Brecht-Kontrafaktur ist geprägt von bösem Sarkasmus.
Hier ist es kein auf gesellschaftliche Veränderung hoffender Arbeiter mehr, der „Fragen“ stellt, sondern ein naturgemäß blinder „Maulwurf“. Dieser unterzieht die gesellschaftlichen Verhältnisse einer anarchischen „Lektüre“. Auf „Weisheit“ und „Vernunft“ lässt sich keine Hoffnung mehr gründen, sie sind nur noch als Groteske präsent. Worauf sich der desillusionierte Dichter noch verlassen kann, ist sein anarchisches Temperament – auf jenen „roten Bart der Anarchie“, den der Dichter Rolf Bossert auch im wirklichen Leben trug.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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