SCHWESTER VON ST. KATHARINA
Die Wasserstelze
Ein Wasserstelzlein ist mein Nam’,
Die Mäßigkeit ist mein Gesang;
Ich will dich lehren nüchtern sein,
Zuweilen Wasser trinken für den Wein;
Doch sollst du es zu streng nicht machen,
Daß du zuweilen noch magst lachen,
Und geht die Andacht nicht, wie du gedacht,
So denk: aus Wasser hat ja Jesus Wein gemacht
vor 1500
Ein kleiner schlanker Vogel, der sich gerne an Gewässern herumtreibt, wird hier zum Wunder der Schöpfung und zum Muster tugendhafter Mäßigung. Verfasserin des Gedichts ist eine geistliche Dichterin des Mittelalters, deren zarte Naturzugewandtheit sich einer unerschütterbaren Frömmigkeit verdankt. Solche Gedichte einer innigen Verknüpfung von Natur und Gotteserfahrung entstanden ab 1225 in den Gemeinschaften der sogenannten Beginen, die in geschlossenen Klöstern ein kontemplatives Leben führten.
Das Rollengedicht auf die Wasserstelze stammt vermutlich von der Ordensschwester Barbara Hufeisen, die im 15. Jahrhundert im Katharinenkloster in St. Gallen lebte. „Für die Schwestern des beschaulichen Lebens“, so erläutert eine Studie über die deutsche Mystik, „hatte jede Blume auf dem Felde, jeder Fisch im Wasser, jeder Vogel in der Luft eine Stimme, um irgendeine Tugend zu verkünden und die Berufenen stets an ihr ewiges Ziel und Ende zu ermahnen.“ Genußfähigkeit und Frömmigkeit, so zeigt sich hier, schließen sich nicht aus.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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