ULLA HAHN
Ich bin die Frau
Ich bin die Frau
die man wieder mal anrufen könnte
wenn das Fernsehen langweilt
Ich bin die Frau
die man wieder mal einladen könnte
wenn jemand abgesagt hat
Ich bin die Frau
die man lieber nicht einlädt
zur Hochzeit
Ich bin die Frau
die man lieber nicht fragt
nach einem Foto vom Kind
Ich bin die Frau
die keine Frau ist
fürs Leben.
1983
aus: Ulla Hahn: Spielende. Deutsche Verlags-Anstalt, München 1983
Für ihre kunstvolle Restaurierung eines konservativen Lyrik-Begriffs ist die 1946 geborene Dichterin Ulla Hahn in den 1980er Jahren viel gescholten worden. Eine starke literaturkritische Fraktion attackierte sie als „Musterschülerin des poetischen Kanons“ – als sei bereits die virtuose Aneignung klassischer Formen schon ein Sakrileg. Dass Ulla Hahn auch prägnante frei rhythmische Verse mit leichter Hand schreiben kann, demonstrierte sie in ihrem Gedichtband Spielende (1983).
In einem lakonischen Selbstporträt diagnostiziert hier ein weibliches Ich das Faktum der eigenen Unerwünschtheit. Die hier beschriebene „Frau“ kann immer nur als Lückenbüßerin tätig werden, abgedrängt in eine Ersatzfunktion. Dieses weibliche Ich repräsentiert gewissermaßen alle Frauen, die nicht im Zentrum familiärer oder intimer Beziehungen stehen, sondern im Verborgenen bleiben müssen – die klassische Außenseiterin.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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