Ursula Krechels Gedicht „Wie ihm der Schnabel gewachsen ist“

URSULA KRECHEL

Wie ihm der Schnabel gewachsen ist

so sperrt er ihn auf
was alles herausquillt
Phrasen vom jüngsten Tag
und vorgestriger Plunder
Plaudertaschen trägt er herum
wie liebevoll gehegte Fetische

so sperrt er ihn auf
ob dann gebratene Tauben hineinfliegen
ob Körner, gequollen, geschrotet
vollmundig hineingemampft
so schiefmäulig spricht er
Grünschnabel, der.

1995

aus: Ursula Krechel: Landläufiges Wunder. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1995

 

Konnotation

Unser Sprechen, vor allem die öffentliche Rede, ist für Stereotypen anfällig – weil sich die Redner gerne des rhetorischen Plunders bedienen, der gefälligen Phrasen, die unkontrolliert eingesetzt werden. Die Dichterin Ursula Krechel (geb. 1947), die sich nach ihren Anfängen als Protagonistin der „Neuen Subjektivität“ immer mehr einer sprachkritischen Poetik zuwandte, verweist in diesem Gedicht auf die Folgen einer entfesselten, unreflektierten Rhetorik. Dabei zitiert sie die metaphorischen Bezeichnungen für uferloses Sprechen – die „Plaudertasche“, den „Grünschnabel“ und den Phrasendrescher, der redet „wie ihm der Schnabel gewachsen ist“.
Im Gedichtband Landläufiges Wunder (1995) eröffnet das Gedicht ein Kapitel mit reich facettierten Porträts, wobei der „schiefmäulige“ Redner in dieser Porträt-Reihe als fast lächerliches Opfer seiner eigenen Sprech-Wut charakterisiert wird. Ursula Krechel folgt den Wörtern, den „semantisch ungebundenen Gesellen“, bis in ihre Verzweigungen und spielt mit Assonanzen und Alliterationen, die zu immer neuen WortAbenteuern einladen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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