WILHELM LEHMANN
Fallende Welt
Das Schweigen wurde
Sich selbst zu schwer:
Als Kuckuck fliegt
Seine Stimme umher.
Mit bronzenen Füßen
landet er an,
Geflecktes Kleid
Hat er angetan.
Die lose Welt,
Wird sie bald fallen?
Da hört sie den Kuckuck
Im Grunde schallen.
Mit schnellen Rufen
Ruft er sie fest.
Nun dauert sie
Den Zeitenrest.
1962
aus: Wilhelm Lehmann: Gesammelte Werke in acht Bänden. Bd. 1: Sämtliche Gedichte. Klett-Cotta, Stuttgart 1982
„Ist nicht jedes Gedicht von Rang, jedes wirklich gelungene, gültige Gedicht Natur-Lyrik?“ So zitiert der alte Wilhelm Lehmann (1882–1968) im Juni 1966 einen Bewunderer seiner Gedichte – und er bekräftig damit sein lyrisches Programm der Naturmagie. Die Lehmann-Exegeten nach 1968 haben dem Dichter vorgehalten, seine Anknüpfung an Goethes „Naturfrömmigkeit“ verbinde sich mit einer restaurativ orientierten Beschwörung der Wiederkehr des Immergleichen.
In Lehmanns spätem Gedichtband Abschiedslust (1962) findet sich diese raunende Evokation der „fallenden Welt“, ein Gedicht, das tatsächlich das Schicksal der Menschheit und der Welt an eine Kreatur der Schöpfung bindet – an den Gesang des Kuckucks. Die dritte und vierte Strophe schreiben dem mythisch überhöhten und gleich einer Skulptur modellierten Singvogel („Mit bronzenen Füßen / Landet er an“) sogar eine Funktion der Welten-Rettung zu. Der Untergang der Welt ist noch einmal abgewendet – der Kuckuck verleiht der Zeit und damit auch dem Menschengeschlecht Dauer.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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