Wolfgang Hilbigs Gedicht „Matière de la poésie“

WOLFGANG HILBIG

Matière de la poésie

Das Meer verhüllt von Licht: verhüllt von Helligkeit…
im Sinn von Licht: ein Lilienweiß um nichts zu sein
als Weiß der Lilien – und Meer um nichts als Meer
zu sein und ohne Maß: und Mond-Abwesenheit –
welch Leuchten das seine lange Überfahrt antritt
und jedes Land vergißt auf nichts bedacht als Ewigkeit –
das Meer: das nicht mehr Tag noch Nacht ist sondern Zeit.

2003

aus: Wolfgang Hilbig: Werke. Band 1. Gedichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2008

 

Konnotation

Wolfgang Hilbig (1941–2007) war in der DDR Heizer und Hilfsschlosser, ein Experte der Finsternis, der verrotteten Fabriken und Kohlenhalden in der Gegend um Leipzig, der autodidaktisch zur hohen Literatur fand, die er um höllische Landschaften bereicherte. Hilbigs Dichtung wirft in das Nichts, das uns umgibt, ein flüchtiges Licht, einen Funken Sprache, die gegen die Dunkelheit anspricht, aus der wir stammen und in der wir wieder versinken werden: „Nun fällt die Nacht: die Zeit die dauernd endet.“
Auch „Licht“ zählt zu Hilbigs Lieblingsvokabeln, das Reine, das aus dem Schlamm hervorragt; im vorliegenden Gedicht ein „lilienweißer“ Bilderstrom im jambischen Metrum, ein sprachbesessener Rausch, der zum finalen Sog wird. Das „leuchtende“ Meer, das Hilbig ein paar Tage vor seinem Tod noch einmal zu sehen begehrte, war von den Blitzen eines Gewitters, nicht von Sonnenstrahlen erhellt. Doch der bedingungslose Meeresgesang, von Reimen unterstützt, ist von gleicher Natur. Das Gedicht stammt aus Hilbigs Nachlass und entstand 2003.

Michael Buselmeier (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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