YVAN GOLL
Gesichte von einem irren Europa
Gesichte von einem irren Europa:
Alle Milch des Kontinents schwärzte.
Die heilige Geis aß vom Donnerbusch
Die Beeren des dunklen Hasses
Und stärkte die müden Krieger
Die den gelben Hügel stürmten
Die Kühe kauten den schwarzen Klee
Der übernacht gewachsen
Auf den Hügeln der sieben Sorgen
Und deren Milch floß wie Quecksilber
In die Glieder der Heroen
aus: 100 Gedichte. Hrsg. v. Barbara Glauert-Hesse. Wallstein Verlag, Göttingen 2003
Der Aktivisten des französischen Surrealismus hatten sich in den 1920er Jahren die Lizenz zur unbegrenzten und auch a-logischen Freiheit der lyrischen Bildfügung erteilt. Der Elsässer Yvan Goll (1891–1950), der sich schon vor den offiziellen surrealistischen Manifesten zum „Überrealismus“ bekannte, entwarf mit Vorliebe grelle Panoramen einer aus den Fugen geratenen Alltagswirklichkeit. Seine in den 1930er Jahren entstandene Vision eines „irren Europa“ erinnert an die biblische Erzählung von den „sieben Plagen“.
Die Offenbarung des Johannes beschreibt die „sieben Plagen der Endzeit“ als eine Folge unvorstellbarer katastrophischer Naturereignisse, in deren Verlauf die menschliche Spezies zugrunde geht. Im „irren Europa“ des Yvan Goll finden zwar auch Verfinsterungsprozesse statt, aber es gibt offenbar noch Möglichkeiten, der Apokalypse zu entkommen und sich „auf den Hügeln der sieben Sorgen“ in einer Art neuer Normalität einzurichten.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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