Mahmoud Darwish: Der Würfelspieler

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Mahmoud Darwish: Der Würfelspieler

Darwish-Der Würfelspieler

Wie leicht wäre es möglich
Hätte mich nicht befallen der Dschinn
Altarabische Verse wie eine Krankheit
Wenn die Haustür nach Norden hin
Und nicht zum Meer zu öffnen war
Wenn die Armeepatrouille das Feuer nicht sah
Wie es die Nacht gebacken hatte
Wenn die fünfzehn Ermordeten
die Barrikade hätten wieder errichten können
Wenn jener dörfliche Ort nicht zerbrach
Vielleicht wäre ich jetzt ein Olivenbaum
Oder Geographielehrer
Oder ein guter Kenner des Ameisenreiches
Oder des Echos Wächter

 

 

Nissmah Roshdy: The Dice Player

 

 

Mahmoud Darwish und die Fata Morgana des Friedens

I
Vor genau vierzig Jahren, 1969, übernachtete Mahmoud Darwish bei uns in Leipzig. Am Morgen ging ich, um ihn zu wecken. Dieses Bild werde ich niemals vergessen: Ein schlafendes Kind lag da, ein ruhiges, friedliches Kind mit gekreuzten Fäusten über der Brust, wie im Mutterleib. Und als ich ihn 2004 während der Frankfurter Buchmesse und danach bei Lesungen zehn Tage lang begleiten konnte, entdeckte ich, wie sehr er manchmal immer noch wie alle Menschen auf diesem Planeten die Welt so zu erblicken wünscht, wie sie ein Kind erblickt – friedlich, unschuldig und schön.

„Dabei wissen wir doch“,
schrieb Brecht in seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“,

Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.

II
Mahmoud Darwish starb am 9. August 2008 nach einer Herzoperation. Wenige Wochen vor seinem Tod veröffentlichte er sein langes Gedicht „Der Würfelspieler“.
Schon mit den ersten Versen setzt er zu einer schonungslosen Selbstbefragung an, jenem Sich-selbst-in-Fragestellen, das sein Spätwerk bestimmte. Dabei werden Leben und Dasein zu einem Spiel des Zufalls und stehen unter der spürbaren Gegenwart des Todes, während die Suche nach der verlorenen Heimat weitergeht.
Die Unmittelbarkeit, mit der Darwish diese Gratwanderung mit Bildern von Vergeblichkeit und Hoffnung, Zweifel, Zerrissenheit, Trauer und Liebe verbindet, macht dieses Gedicht nicht nur zu einem sehr persönlichen Bekenntnis, sondern auch zu einem poetischen Vermächtnis.

III
Obwohl der Roman der arabischen Lyrik in den letzten Jahrzehnten ihren Platz streitig macht, bleibt sie die ureigenste literarische Gattung der Araber. Kein Wunder, dass sich ein Philosoph wie Hegel in seiner Ästhetik zu folgender Äußerung hinreißen ließ: „Von Hause aus aber poetischer Natur und von früh an wirkliche Dichter sind die Araber.“
Einer dieser „wirklichen Dichter“ ist Mahmoud Darwish, und seine Lyrik gehört zweifelsohne zur Weltliteratur. Bereits 1964 wandte sich der Dreiundzwanzigjährige mit einem programmatischen Gedicht im Gedichtband ÖIbaumblätter direkt an seine Leser:

Erwarte nicht von mir, mein Leser, dass ich flüstere!
Erwarte beim Lesen kein Entzücken!
Hier ist meine Qual
Ein vergeblicher Schlag in den Sand
Und in die Wolken ein Schlag!
Genug ist mir mein Zorn
Der das Feuer entfacht!

Wer heute diese frühen Gedichte in arabischer Sprache liest, merkt deutlich, dass sich hier ein wirklicher Poet mit Vehemenz und Wucht zu Wort meldet. Seine Stimme, eingebettet zwar in den Chor der arabischen Lyrik der fünfziger und sechziger Jahre, war eine neue, authentische, einzigartige. Angelehnt an arabische Dichter wie Nizar Qabbani und Abd al-Wahab al-Bayyati, aber auch an internationale Dichter wie Aragon und Neruda oder Lorca, dem er ein Gedicht widmet, sind diese Verse trotz Zorn und Trauer auch voller Zärtlichkeit und Anmut. Mit einer einzigen Metapher, die diese Empfindsamkeit manchmal durchbricht, streut er Feuer ins Gedicht.
Dieser Band enthielt auch sein damals berühmt gewordenes Gedicht „Identitätskarte“:

Schreibs auf, ich bin Araber!
Nur diesen Vornamen besitze ich
Und keinen Nachnamen sonst
Geduldig leb ich in einem Land in dem
Alles lebt vom Zorn

Meine Wurzeln
Schlugen sich in die Erde hier
Vor der Geburt der Zeit
Vor Ölbäumen und Zypressen
Und ehe das Gras gewachsen war
(…)

Für die in Israel verbliebenen Palästinenser wurde dieses Gedicht über Nacht beinahe zu einer Nationalhymne. Hier fanden sie einen jungen Dichter, der ihrem Widerstand gegen permanente Marginalisierung und Heimatlosigkeit im eigenen Land eine authentische Stimme verlieh.

IV
Im Alter von sieben Jahren flüchtete Darwish mit seiner Familie in den Libanon. Als er bald darauf zurückkehrte, musste er sehen, dass sein von israelischen Soldaten zerstörtes Heimatdorf al Birwe, in dem er 1941 geboren wurde, zwei Kibbuzim hatte weichen müssen.
„Eine moderne Armee“, schrieb er 1999 in seinem Essay „Das abgestufte Exil“, „besiegte damals eine Kindheit, die vom Westen her nichts weiter wahrnahm als salzigen Meeresgeruch und das Gold des Sonnenuntergangs, das sich über die Korn- und Maisfelder streute. (…)
Unsere Pflugscharen waren zerbrochen bei der Verteidigung einer uralten friedlichen Beziehung zwischen guten, einfachen Landbewohnern und einem Boden, auf dem sie geboren wurden. (…)
Ab jetzt wurden unsere Namen geändert. Ab jetzt waren wir alle gleich, ohne jeden Unterschied. Ab jetzt wurden wir mit einem einzigen Stempel gezeichnet: Flüchtlinge… Als wir heimlich über die Grenze zurückkamen, fanden wir nichts von unseren Spuren und unserer früheren Welt. Die israelischen Bulldozer hatten den Ort neu formiert, als wäre unsere Existenz dort ein Teil römischer Altertümer, deren Besuch man uns untersagte.“
Dieses Grunderlebnis brannte sich tief in sein Gedächtnis ein. Es wurde zu einer Metapher seines ganzen Daseins, die ihn bis ans Lebensende nicht mehr losließ.

Mit vierzehn Jahren wurde er nach einer Protestaktion zum ersten Mal in ein israelisches Gefängnis gebracht. Nach wiederholten Repressalien und Inhaftierungen ging er 1970 ins Exil und begann ein rastloses Leben.
Auch wenn sein Zelt später aus Stein gebaut war und zeitweise in Tunis oder Beirut, Moskau oder Paris, Amman oder Ramallah stand, so blieb es trotzdem ein Zelt, das ihn zwang, unaufhörlich von Küste zu Küste und von Flughafen zu Flughafen auf Wanderschaft zu sein. Deshalb wurden Worte wie „Reisen“ und „Wandern“ zu zentralen Begriffen in seiner Lyrik.

V
Darwish verschrieb sich der arabischen Sprache in ihrer ganzen Schönheit, hier bewahrte er seine Identität. Sie wurde ihm zur Heimat und zur eigentlichen Behausung. Seine Lyrik war stets auf Entdeckungsreise nach Poesie im Alltäglichen. Dies verknüpfte er mit einer weit in die Historie zurückreichenden Sicht, die er philosophisch zu durchdringen suchte. Er bündelte in sich, in seinem Innern, die Geschichte des Daseins in all ihren kulturellen, nationalen und individuellen Elementen. Sie gehen ineinander über, kreuzen und vermischen sich, um eine Ganzheit zu bilden. Er beherrscht alle künstlerischen Mittel der arabischen Lyrik ebenso wie die poetischen Leistungen der Moderne und setzt sie meisterhaft ein. Er strukturiert seine Metaphern nicht, er genießt sie.
Damit schuf er etwas, was in der neueren arabischen Lyrik kein anderer zu erreichen vermochte: Er vereinte in sich die poetische Größe eines Lyrikers wie Adonis und die ungeheure Popularität eines Nizar Qabbani. Adonis hatte der internationalen Moderne französischer Prägung eine arabische Stimme verliehen. Seine Popularität aber vermochte nur selten den Kreis der Intellektuellen zu durchbrechen. Hingegen eroberte Nizar Qabbani mit seiner gängigen Lyrik unzählige Herzen, vor allem die von Frauen, ohne sich jedoch den Fragen der Moderne zu stellen, wie es andere arabische Lyriker seit Mitte der sechziger Jahre intensiver getan hatten.
Darwish verband in seiner Lyrik die Moderne mit einer sinnlichen, realitätsbezogenen Bildersprache, die es ihm ermöglichte, zu einem der bedeutendsten Innovatoren der arabischen Lyrik zu werden, ohne seine anhaltende Popularität einzubüßen.

VI
Sein eigentlicher Ruhm begann nach dem Sechstagekrieg 1967. Die israelische Armee besiegte damals die Streitkräfte von drei arabischen Ländern binnen sechs Tagen. Eine ganze Nation fühlte sich gedemütigt und begann, sich selbst zu zerfleischen. Da entdeckte man diesen palästinensischen Dichter, der es wagte, dem übermächtigen Gegner stolz und ohne Furcht ins Gesicht zu sagen:
„Schreibs auf, ich bin Araber!“
Millionen Menschen in der arabischen Welt haben Mahmoud Darwish ins Herz geschlossen. Sie gaben ihm Namen, die zugleich eine Erwartungshaltung zum Ausdruck brachten: „Gewissen des palästinensischen Volkes“, „Liebender aus Palästina“ und viele weitere. Innerhalb weniger Jahre wurde er zum unumstrittenen Dichter des Widerstands. Doch auch wenn er als das „leuchtende Symbol des palästinensischen Widerstands“ und „die poetische Stimme Palästinas“ galt, versuchte er immer zu vermeiden, im Plakativen zu verharren. In seinen Gedichten setzte er sich nicht nur mit der israelischen Besatzung auseinander, sondern auch mit der „arabischen Phraseologie“, die „für einen ganzen Erdball voller Zelte“ auszureichen schien, wie er einmal schrieb.
Bereits 1968 veröffentlichte er einen Artikel mit dem Titel „Rettet uns vor dieser grausamen Liebe!“, in dem er gegen die undifferenzierte und bedingungslose Heiligsprechung der Widerstandsdichter polemisierte.
Die Aufmerksamkeit, die man in der arabischen Welt dieser Dichtung schenkte, verglich er mit einem traditionellen Liebhaber, „der in der Geliebten nichts anderes sieht als das, was sie nur zu einer Angebeteten macht“.
In dieser Situation könne man aber eine solche gefilterte Aufmerksamkeit nicht einfach dankend hinnehmen, ohne gleichzeitig zuzugeben, dass es diese Dichter „nicht verdienen, in einer Zeit geheiligt zu werden, die weder Heiligtum noch völlige Gewißheit“ erlaube.

VII
Dichter sein, heißt im Bewusstsein der breiten Masse in der arabischen Welt, Prophet sein. Also Verkünder und Mahner zugleich. Stimme einer Nation, die keine Stimme hat. Träger einer Botschaft, für die er leben und sterben soll. So hat man Darwish unmittelbar nach 1967 wahrgenommen. Und so wollte man ihn auch immer sehen, hören, erleben.
Gerade diese Umarmung durch seine Leser, vor allem aber durch seine Zuhörer drohte ihn allmählich zu erwürgen. In ihrem überschwänglichen Enthusiasmus vergaßen sie oft den sensiblen, leisen Dichter, der alles in Poesie zu verwandeln vermochte, vergaßen die Tagebücher seiner alltäglichen Traurigkeit.
Seine politische Arbeit bezeichnete er als unfreiwillig. Denn er könne sich den Luxus nicht leisten, sich von der Politik fernzuhalten: „Ich sitze in meiner Wohnung und sehe vor meinem Fenster einen Panzer“, sagte er in einem Interview, „so kommt die Politik zu mir, auf dem Rücken eines Panzers. Der Baum, unter dem ich Schatten suche, ist am nächsten Tag abgeholzt. Es ist die Politik, die ihn abholzt. Zwischen Schwert und Blut habe ich nicht die Möglichkeit, neutral zu bleiben, denn es ist mein Blut, das fließt.“
Seine Mitgliedschaft im Zentralrat der PLO legte er 1993 aus Protest gegen die Unterzeichnung des Osloer Friedensabkommens nieder. „Als Intellektueller konnte ich diesen Text nicht akzeptieren“, sagte er zur Begründung, „weil er das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes als Volk nicht anerkennt und die Besatzung nicht Besatzung nennt… Ich sage dies, weil ich einen wirklichen Frieden erreichen möchte und keinen einfachen Waffenstillstand voller Gründe für künftige Kriege… Wenn unsere Beziehungen jedoch so bleiben, wie sie sind, zwischen Herrn und Sklaven, Besatzer und Besetzten, Lebenden und Toten, sind solche Beziehungen kein Frieden, weder für uns noch für sie.“
Er musste miterleben, dass die Geschichte ihm Recht gab. Denn noch immer haben die Palästinenser nicht den versprochenen eigenen Staat, noch immer sitzen Tausende von ihnen in israelischen Gefängnissen, noch immer wird das künftige Palästina durch Siedlungsbau und Mauern zerstückelt, noch immer sind syrische und libanesische Gebiete von Israel besetzt. Und noch immer gibt es ihn nicht, den wirklichen Frieden, von dem er träumte.

VIII
Immer wenn Darwish im Begriff war, zu sich zu finden als Dichter, als Individuum, als Mystiker des Wortes, holte ihn die Tragödie seines Volkes zu den Massen zurück. Ständig musste er sich genötigt fühlen, Zeugnis für all ihre Demütigungen, Entbehrungen, Entrechtungen und Träume abzulegen.
Seine Größe liegt vor allem in seiner unermüdlichen Suche nach einer Poetologie, die das tägliche Leid der Palästinenser, aber auch ihren Überlebenswillen und ungebrochenen Widerstand auf eine allgemeinmenschliche Ebene zu heben vermag. Was in seinen ersten Gedichten manchmal wie ein Appell anmutete und doch ein tief empfundener Aufschrei war, wurde in den Werken, die er besonders in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten seines Lebens schrieb, zu einer Zwiesprache mit sich selbst.

In seinem Gedicht „Der Würfelspieler“ rebelliert er als Gefangener seines Ruhmes gegen das erhabene Bild einer Legende, das andere ihm als Spiegel vorhalten. Er spricht seine Leser an und meint im engeren Sinne seine Bewunderer und Verehrer, für die er nur der Mythos, die Legende, die Ikone ihrer selbst und kein Mensch aus Fleisch und Blut war. In ihrer Hilflosigkeit verkürzten sie ihn zu einer Metapher. Unmerklich, fast beiläufig fließen dabei die tragischen Momente seines Lebens von Zeile zu Zeile dahin. Kein außermenschlicher, höherer Sinn wird beschworen. Alle möglichen kleinen und großen Ereignisse sind dem Zufall unterworfen, auf eine sehr irdische, unspektakuläre Ebene gestellt. Denn alles hätte leicht anders verlaufen können: die eigene Biographie wie die große Historie, die untrennbar miteinander verwoben sind.
Darwish wusste, dass er nach zwei schweren Herzoperationen nicht mehr lange zu leben hatte. Er stand in einem zermürbenden Wettlauf mit dem Tod. So wird dieses Gedicht zu einem Gedankenspiel um die allgegenwärtigen Möglichkeiten des Todes – Flucht, Krankheiten, Flugzeugabstürze, Schüsse, Unfälle – Gefährdungen von Kindheit an bis in das Jahr, in dem er starb.
Hier spricht ein angreifbarer, fragiler, verletzlicher Mensch mit vielen Facetten, eingebunden in eine Kette von Generationen, ein „Märtyrer der Liebe“, der in der Geschichte genauso wie sein Volk ein Opfer war und der zufällig überlebte.
Doch trotz aller Melancholie zieht er ein illusionsloses, aber auch hoffnungsvolles Fazit seines Lebens. Hoffnung auf Normalität im Kleinen wie im Großen, auf ein einfaches, normales Leben ohne die tägliche Furcht, eines gewaltsamen Todes zu sterben, ein Motiv, das er oft in seinen letzten Gedichten variiert.
Welche Zeilen könnten diese Sehnsucht so intensiv, so suggestiv, so paradox formulieren wie jene, die er in seinem Gedicht „An einem Tag wie diesem“ schrieb:

Und ich will nur dies
Nur dieses Eine:
Einen einfachen ruhigen Tod
An einem Tag wie diesem
Im versteckten Winkel der Lilien
Vielleicht entschädigt er mich ein wenig
Für ein Leben, das ich zählte
Minute für Minute
Weggang um Weggang
Nur einen Tod im Garten will ich
Nicht mehr und nicht weniger

IX
Ein Liebender aus Palästina heißt einer seiner ersten Gedichtbände. Immer wieder kreisen seine Gedichte um die Liebe. Sie war der Ausgangspunkt jeder Suche nach Identität – Liebe zur Mutter, zur Geliebten, zur Erde und zum Leben. In einem Interview sagte Darwish: „Die Poesie führt die Menschen zusammen und treibt sie nicht auseinander… In ihr spiegeln sich das Erstaunen des ersten Menschen, die Freude über das Universum und die Angst vor Vergänglichkeit. Ihr Anliegen ist es, Widerstand zu leisten gegen alles, was die Freiheit des Menschen oder die Herrlichkeit des Lebens bedroht.“
Das ist es, was Mahmoud Darwish so einzigartig macht. Denn was für eine menschliche Größe und visionäre Kraft muss ein Poet besitzen, um in einem Gedicht, das er an seinen Gegner richtet und dem er den Titel „An einen anderen Mörder“ gab, folgende Zeilen zu schreiben:

Hättest du das Kind im Mutterleib
Noch dreißig Tage leben lassen, hätten sich
Alle Wahrscheinlichkeiten geändert: Vielleicht
Endet die Besatzung. Vielleicht
Erinnert sich der Säugling nicht an die Zeit
Der Belagerung. Vielleicht
Wächst gesund das Kind auf und wird
Zum Mann. Vielleicht
Studiert er an einem Institut
Die alte Geschichte Asiens
Gemeinsam mit deiner Tochter. Vielleicht
Fallen sie beide ins Netz der Liebe. Vielleicht
Bekommen sie dann eine Tochter, die der Geburt nach
Jüdin ist
Was hast du bloß getan?
Deine Tochter ist jetzt verwitwet
Und deine Enkelin verwaist
Warum hast du deine Familie auseinandergerissen?
Und warum trafst du drei Tauben
Mit einem einzigen Schuss?

Auch hier betreibt Darwish ein Gedankenspiel um Eventualitäten wie in seinem Gedicht „Der Würfelspieler“. Seine Vision von der Freiheit des Menschen und der Herrlichkeit des Lebens machte ihn zu einem Widerstandsdichter, und ihr ständiges Bedrohtsein in seinem Leben und im Leben seines Volkes machte ihn zum Visionär.
Alle Widerstandsdichter in der Geschichte der Literatur haben es uns vorgemacht: Gedichte vermögen Visionen zu formulieren. Und die einzig mögliche Vision in der heutigen Welt, in diesen finsteren Zeiten, in der das Gute und das Böse auswechselbar zu sein scheinen, kann nur die des friedlichen Zusammenlebens von Menschen und Kulturen sein. In seinen Gedichten hat Mahmoud Darwish wie kaum ein anderer diese Vision eines gerechten, dauerhaften und umfassenden Friedens jenseits von Besatzung, Belagerung, Zerstörung und gegenseitiger Zermürbung zu formulieren versucht, eines Friedens, der den Dialog zwischen zwei Stimmen und zwei Sichtweisen fördert, ohne dass die eine sich der anderen gewaltsam aufzwingt.

X
Ihm war bewusst, dass von Anfang an „den Kampf um den Boden ein Kampf um die Vergangenheit und die Symbole begleitete“, wie er in dem Essay „Das abgestufte Exil“ schrieb, und er sah, wie das Bild Davids in der Vorstellung der Welt „die Rüstung Goliaths trug, während das Bild Goliaths den Stein Davids in der Hand“ zu halten scheint. Dennoch glaubte er an die sanfte Gewalt der Vernunft, aber auch an den Überlebenswillen seines Volkes. Er griff nicht in die Vergangenheit, um einen toten Stein zu berühren und ihn mit einer Träne zu benetzen, sondern versuchte, der Geschichte des Steins eine freie Zukunft zu entlocken.
Dort, im alten Jerusalem, innerhalb der alten Mauern, sah Darwish, wie sich die Propheten die Geschichte des Heiligtums teilten, während in der Realität die Tagebücher der neueren Geschichte der Stadt mit Waffen auf die Körper der Menschen geschrieben werden. Im Doppelspiel zwischen dem Heiligen und dem Profanen droht das Profane das Heilige zu töten. Doch dieser doppelte Tod löst kein Problem, weil in diesem Konflikt die Getöteten auf beiden Seiten entschlossen sind, sich in einen Phönix zu verwandeln und immer wieder aus der Asche aufzusteigen. Solange dieser Kreislauf nicht durchbrochen wird, kommt kein Frieden und keine Eintracht in die Stadt.
In seinem Gedicht „In Jerusalem“ aus dem Band Entschuldige Dich nicht für Getanes (2004) klingt das so:

Ich laufe über einen Abhang und
Frage mich: Warum streiten sich die Überlieferer
Über die Worte des Lichts im Stein? Wie
Können Kriege sich entfachen aus einem Stein
Mit wenig Licht?
(…)
Ich laufe nicht, ich fliege
Und werde ein anderer in der Verwandlung. Ohne Ort
Ohne Zeit. Wer also bin ich? Ich bin
Nicht ich im Angesicht der Himmelfahrt. Aber
Allein der Prophet Mohammad
Sprach Hocharabisch. Na und?, denke ich
Na und?, schrie plötzlich eine Soldatin:
Du schon wieder? Hab ich dich nicht getötet?
Und ich sprach: Du hast mich getötet – aber ich vergaß
Genau wie du
Zu sterben

Dieses Gedicht ist eine Herausforderung. Und das Angebot heißt hier: Überleben. Da die Überlebenschance der einen Seite auf Kosten der anderen ergriffen und verwirklicht wurde, muss sie nun auch der anderen Seite ermöglicht werden. Hier akzeptiert das Opfer die Opfergeschichte des anderen, auch wenn er ihn als Täter empfindet, und ihm gleichzeitig seinen Willen kundtut, Widerstand zu leisten, um zu überleben.

In seinem Gedicht „Der Frieden“ will Darwish sagen, genau so wie im Gedicht „Der Würfelspieler“, dass alles anders sein könnte. Ein Traum, der bisher eine Fata Morgana blieb:

Friede ist ein vertrauter Morgen, ein freundlicher
Leichtfüßiger, fern jeder Feindschaft
(…)
Friede heißt den Garten pflegen und fragen:
Was pflanzen wir demnächst?
(…)
Friede heißt einen Jungen beweinen, dem ein Frauenblick
Das Herz durchbohrte
Keine Kugel, keine Granate

Adel Karasholi, Vorwort

 

Neuauflage zum 70. Geburtstag von Mahmoud Darwish

„Während mehr als vier Dekaden war Darwish nicht nur eine Ikone der Palästinenser; er galt als der größte lebende Dichter arabischer Sprache schlechthin und als einer der bedeutendsten Innovatoren der arabischen Lyrik… Vielleicht zum ersten Mal in der neueren Geschichte haben arabische Könige und Präsidenten den Tod eines Lyrikers beklagt“, schrieb der jordanische Schriftsteller Fakhri Saleh in seinem Nachruf in der Neuen Zürcher Zeitung.
Wenige Wochen vor seinem Tod im August 2008 veröffentlichte Mahmoud Darwish in der in London erscheinenden Zeitung Al-Quds al-arabi sein langes Gedicht „Der Würfelspieler“.
Bereits mit den ersten Versen setzt Mahmoud Darwish zu einer schonungslosen Selbstbefragung an, jenem Sich-selbst-in-Frage-stellen, das sein Spätwerk bestimmte. Dabei werden Leben und Dasein zu einem Spiel des Zufalls und stehen unter der spürbaren Gegenwart des Todes, während die Suche nach der verlorenen Heimat weitergeht.
Die Unmittelbarkeit, mit der Darwish diese Gratwanderung mit Bildern von Vergeblichkeit und Hoffnung, Zweifel, Zerrissenheit, Angst und Liebe verbindet, macht dieses Gedicht zu einem literarischen Vermächtnis.

Der Gedichtband vereinigt den arabischen Text und die Übertragung in die deutsche Sprache durch den engen Freund und Lyriker Adel Karasholi, der auch das Vorwort verfasste.

A1 Verlag, Ankündigung

 

Die positive Kraft des Zufalls

− Die Poesie des vor einem Jahr im Alter von 67 Jahren gestorbenen Palästinensers Mahmoud Darwish hat sehr unterschiedliche Phasen durchlaufen, von sehr eingängigen, vielfach vertonten Texten in den 60er-Jahren zu hochkomplexen, mit Mythen und Symbolen aufgeladenen Wortgebilden in den 80er- und 90er-Jahren. Das jetzt in einer deutsch-arabischen Ausgabe erschienene Langgedicht „Der Würfelspieler“ vereint das Beste aus beiden Phasen. Es ist Darwishs literarisches Testament. −

Wenn man dieses Gedicht liest, sollte man wissen, wer es geschrieben hat – am besten so wie die arabischen Leser. Gleich die ersten Zeilen sind ungeheuerlich, wenn man weiß, von wem sie kommen:

Wer bin ich, euch zu sagen
Was ich euch sage?
[…]
Ich bin ein Würfelspieler
Zuweilen gewinne, zuweilen verliere ich
Ich bin wie ihr
Oder ein bisschen weniger.

Ausgerechnet der größte palästinensische Dichter steigt in einem der letzten Texte vor seinem Tod vom Podest herab, das ihm seine Anhänger errichtet haben, und spricht als einer von ihnen, „oder ein bisschen weniger“. Freilich ist im Hintergrund noch eine andere Stimme am Werk: Es geht, wenngleich in bewusst einfacher Sprache, um die letzten Dinge, und somit steht „Der Würfelspieler“ auch in der Tradition von Stéphane Mallarmés berühmtem Gedicht „Un coup de dés“ („Ein Würfelwurf“), welches es zugleich erdet. Man könnte das 40-seitige Gedicht eine poetische Biographie nennen, die Suche des Dichters nach seiner Bestimmung und Identität in einer kontingenten, von Gott verlassenen Welt: „Wie leicht wäre es möglich, nicht zu sein!“ Der Zufall entpuppt sich jedoch überraschend als eine positive Kraft, die es möglich macht, die Geschichte anders zu denken. Dadurch werden all diejenigen Ideologen entlarvt, die der Geschichte einen tieferen Sinn zuweisen und ihren Verlauf als Bestätigung für ihr Weltbild und ihre Ansprüche nehmen – das im Heiligen Land und der Heimat Darwishs übliche Verfahren, einseitige Besitzansprüche geltend zu machen:

Zufällig lebten Chronisten
Und zufällig sagten sie:
Hätten die anderen die anderen besiegt
Bekäme die Geschichte der Menschheit
Andere Überschriften

Die persönliche Rückbindung zeitigt bewegende Momente, und auch hier wieder ist es gut, wenn man die Biographie des schwer herzkranken Dichters kennt, der, ständig infarktgefährdet, dem Tod mehrfach von der Schippe gesprungen ist und schließlich doch bei einer Herzoperation starb:

Ich glaube an meine Begabung
Den Schmerz zu entdecken um zehn Minuten
Vorm Sterben den Arzt zu rufen
[…]
Und das Nichts zu enttäuschen.
Wer bin ich, das Nichts zu enttäuschen?
Wer bin ich?

Der Verzicht auf die Zeichensetzung führt in der deutschen Fassung zu mancher Doppeldeutigkeit („ich sage nicht weit von hier sei…“ wo es heißen muss: „ich sage nicht, weit von hier sei“). Dennoch erschließt sich der Text auch anhand der deutschen Übersetzung. Ein einfühlsames Vorwort des Übersetzers, der mit Darwish lange befreundet war, rundet den Band ab.

Stefan Weidner, Deutschlandradio Kultur, 7.8.2009

Poetisches Testament im Würfelbecher

Die Macht des Zufalls anerkennen macht frei von Ideologie. Darum kreist das letzte Werk von Mahmoud Darwish, der Stimme Palästinas. Das jetzt in einer deutsch-arabischen Ausgabe erschienene Gedicht „Der Würfelspieler“ ist sein literarisches Testament. −

Was für ein Wurf! Ein Würfelwurf, kurz vor dem Tod im August vor einem Jahr, als könne der Dichter, mit etwas Glück, das Schicksal in Form seiner Herzkrankheit noch einmal in die Knie zwingen. Die Rede ist von Mahmoud Darwish, dem größten und beliebtesten arabischen Wortkünstler der Gegenwart, der literarischen Stimme Palästinas. Die Poesie des 1941 in Galiläa Geborenen hat unterschiedlichste Phasen durchlaufen, von sehr eingängigen, vielfach vertonten Texten in den sechziger Jahren zu hochkomplexen, mit Mythen und Symbolen aufgeladenen Wortgebilden in den achtziger und neunziger Jahren. Das jetzt in einer deutsch-arabischen Ausgabe erschienene Langgedicht „Der Würfelspieler“ vereint das Beste aus beiden Phasen. Es ist Darwishs literarisches Testament.
Man sollte wie die arabischen Leser zumindest eine Ahnung haben, wer dieses Gedicht geschrieben hat. Wenn man weiß, von wem sie kommen, sind gleich die ersten Zeilen ungeheuerlich:

Wer bin ich, euch zu sagen
Was ich euch sage?
(…) Ich bin ein Würfelspieler
Zuweilen gewinne, zuweilen verliere ich
Ich bin wie ihr
Oder ein bisschen weniger.

Während in der klassischen arabischen Poesie bis weit in die Gegenwart der Dichter eine ausgezeichnete Position beansprucht und das dichterische Selbstlob eines der beliebtesten Genres ist, steigt ausgerechnet der größte palästinensische Dichter im letzten längeren Gedicht vor seinem Tod vom Podest herab, das ihm seine Fans errichtet haben.

Es geht um die letzten Dinge
Der Kenner freilich ahnt, dass im Hintergrund noch eine andere Stimme am Werk ist. Es geht um die letzten Dinge, und somit steht „Der Würfelspieler“ natürlich in der Tradition von Stéphane Mallarmés berühmten Gedicht „Un coup de dés“ („Ein Würfelwurf“), das hier durch die bewusst einfache arabische Sprache Darwishs gleichsam geerdet wird. Schließlich ist der Würfelspieler niemand anderes als ein (vor)islamischer Gott, das Schicksal, wie es schon in der vorislamischen Dichtung besungen wurde, auf die Darwish im Lauf des Textes ebenso anspielt wie auf den Koran, mit der Pointe, dass das Initiationserlebnis Mohammeds, die Begegnung mit dem Erzengel Gabriel, bei Darwish als Begegnung mit einer Fata Morgana erscheint, die ihn anspricht: „Lies!“ Aber was Mohammed dann liest, sind nicht, wie in der islamischen Überlieferung, die frühesten Worte des Korans, sondern nur: „Wasser, Wasser, Wasser!“
Man könnte das vierzigseitige Gedicht eine fiktive poetische Biographie nennen, die Suche des Dichters nach seiner Bestimmung und Identität in einer vom Zufall regierten und von Gott verlassenen Welt: „Wie leicht wäre es möglich, nicht zu sein!“ Der Zufall entpuppt sich überraschend als eine positive Kraft, die es möglich macht, die Historie anders zu denken. Dadurch werden all diejenigen Ideologen entlarvt, die der Geschichte einen tieferen Sinn zuweisen und ihren Verlauf als Bestätigung für ihr Weltbild und ihre Ansprüche nehmen – das im Heiligen Land und der Heimat Darwishs übliche Verfahren, einseitige Besitzansprüche geltend zu machen. Wäre der Würfel anders gefallen, hätte die Geschichte zugunsten der Palästinenser ausgehen können, nachträgliche Geschichtsdeutung ist Willkür:

Zufällig lebten Chronisten
Und zufällig sagten sie:
Hätten die anderen die anderen besiegt
Bekäme die Geschichte der Menschheit
Andere Überschriften.

Die Doppeldeutigkeit der deutschen Fassung
Die persönliche Rückbindung zeitigt bewegende Momente, und auch hier ist es gut, wenn man die Biographie des schwer herzkranken Dichters kennt, der, ständig infarktgefährdet, dem Tod mehrfach von der Schippe gesprungen ist und schließlich doch bei einer Herzoperation starb:

Ich glaube an meine Begabung
Den Schmerz zu entdecken um zehn Minuten
Vorm Sterben den Arzt zu rufen
(…)
Und das Nichts zu enttäuschen.
Wer bin ich, das Nichts zu enttäuschen?
Wer bin ich?

Die einfache Sprache macht es dem Übersetzer nicht allzu schwer, aber man hätte sich ein gründlicheres Lektorat gewünscht. Der Verzicht auf die Zeichensetzung führt in der deutschen Fassung zu mancher Doppeldeutigkeit („ich sage nicht weit von hier sei“ wenn es heißen muss: „ich sage nicht, weit von hier sei“), und ein Satz wie „Weil tausende Soldaten starben dort“ klingt arg umgangssprachlich, zumal wenn es keine metrische Notwendigkeit gibt, die zur Umstellung des Verbs zwingen würde. Dennoch erschließt sich der Text dank des syrischstämmigen Leipziger Dichters Adel Karasholi auch in der deutschen Übersetzung. Ein einfühlsames Vorwort Karasholis, der mit Darwish gut befreundet war, rundet den Band ab.

Stefan Weidner, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.11.2009

NICHTS ALS EIN WÜRFELSPIELER BIN ICH …,

Kurz vor seinem Tod im August 2008 veröffentlichte der palästinensische Dichter Mahmud Darwisch (auch Mahmoud Darwish) das mehr als zwanzig Seiten lange Gedicht DER WÜRFELSPIELER in der in London erscheinenden Zeitung Al-Quds al-arabi. Die deutsche Übersetzung liegt seit einigen Wochen durch den Münchner A1 Verlag vor.
Dem zweisprachigen Lyriker Adel Karasholi ist nicht nur eine ganz wunderbare Übersetzung gelungen: in dem ungewöhnlich langen Vorwort MAHMOUD DARWISH UND DIE FATA MORGANA DES FRIEDENS schildert er zudem das Leben seines literarischen Weggefährten in sehr persönlicher und liebevoller Weise. So gibt er einen Abriss über dessen künstlerische Entwicklung, die untrennbar, ja sogar abhängig von der Geschichte des palästinensischen Volkes ist.
Adel Karasholi nimmt Abschied von einem ganz besonderen Menschen, der als einer der herausragenden Dichter der arabischen Welt und als die poetische Stimme des palästinensischen Volkes gilt.
Mahmud Darwisch hat an seinem Ruhm, der ihn nach und nach vereinsamte, schwer getragen. Auch darüber schreibt er im WÜRFELSPIELER.
Geboren wurde er 1941 im Dorf Al Birwe bei Akko (ehemaliges Palästina). Als Siebenjähriger flieht er während des israelischen Unabhängigkeitskrieges in den Libanon und kehrt nach israelischer Staatsgründung heimlich in sein Geburtsland zurück. Siebzehnjährig veröffentlicht er sein erstes Gedicht und wird umgehend verhaftet.
Nach mehreren Inhaftierungen und jahrelangen Hausarresten geht Mahmud 1970 ins Exil und lebt vorübergehend u.a. in Beirut, Tunis, Paris, auf Zypern, in Amman und zuletzt in Ramallah.
Die Heimatlosigkeit begleitet ihn bis zu seinem Tod; auf die Frage WER BIN ICH OHNE EXIL? schreibt er:

An deinen Namen bindet mich das Wasser… nichts führt mich aus den Schmetterlingen meiner Träume in die Wirklichkeit: kein Feuer, kein Lehm. Wir sind so leicht wie unsere Häuser in den fernen Winden. Wir sind Freund den fremden Geschöpfen zwischen den Wolken…

Mahmud Darwisch ist bislang vielleicht der einzige, dem es gelang, arabische Dichtung durch kreative Inspiration mit moderner, europäischer Literatur in Einklang zu bringen.
Seine Gedichtbände erreichten Millionenauflagen, und das in der arabischen Welt, wo immer noch ca. 60% der Bevölkerung Analphabeten sind.
Die Franzosen haben Darwisch schon vor Jahrzehnten viel und gerne gelesen, das deutsche Publikum tut sich jedoch schwer, seine Gedichte gelten nach wie vor als Geheimtipp. Vielleicht werden Adel Karasholis Gedanken über Mahmud Darwisch dazu beitragen, dass auch die deutsche Übersetzung vom WÜRFELSPIELER gerne gelesen und verstanden wird.
Im vorliegenden Gedichtband werden Leben und Dasein zu einem Spiel des Zufalls und stehen unter der spürbaren Gegenwart des Todes.
Die Unmittelbarkeit, mit der Mahmud Bilder von Vergeblichkeit und Hoffnung, Zerrissenheit, Trauer und Liebe verbindet, macht dieses Gedicht nicht nur zu einem sehr persönlichen Bekenntnis, sondern auch zu einem poetischen Vermächtnis.
Angelehnt an arabische Dichter wie Nizar Qabbani und Abd al-Wahab al-Bayyati, aber auch an internationale Dichter wie Aragon, Brecht, Lorca und Neruda, sind seine Verse trotz Zorn und Traurigkeit voller Anmut und Zärtlichkeit.

2004 schrieb er noch in seinem Gedicht IN JERUSALEM:

Plötzlich schrie eine Soldatin:
Du schon wieder? Hab ich dich nicht getötet?
Und ich sprach: Du hast mich getötet – aber ich vergaß
genau wie du
zu sterben.

2008 schrieb er im WÜRFELSPIELER:

Ich glaube an meine Begabung
den Schmerz zu entdecken um zehn Minuten
vorm Sterben den Arzt zu rufen zehn Minuten
genügen um zufällig am Leben zu bleiben
und das Nichts zu enttäuschen.

Mahmud setzt sich im WÜRFELSPIELER nicht nur mit der israelischen Besatzung und seiner Herzerkrankung auseinander. Er beschreibt auch, wie sehr er unter seinem Ruhm litt, wie die begeisterte Umarmung seiner Leser, vor allem aber seiner Zuhörer ihn allmählich zu erwürgen drohte. Er, der mit seinen Lesungen wiederholte Male Fußballstadien füllte, rebelliert nun offen gegen das erhabene Bild einer Legende, das andere ihm als Spiegel vorhalten:

Umarme mich sanft damit mich der Wind nicht verstreue
auch im Wind kann ich mich nicht lösen
vom Alphabet
Ach wenn ich nicht auf einem Berg stünde
hätte mich des Adlers Einsiedelei beglückt denn
kein Licht ist höher
doch ein Ruhmesraum wie dieser derart gekrönt
mit goldnem unendlichem Blau
ist schwer zu besuchen: Der Einsame bleibt einsam dort
Absteigen kann er nicht auf eigenen Füßen
denn weder der Adler will laufen
noch fliegen kann der Mensch
Ach wie ein Abgrund ist dieser Gipfel
dieses Berges hohe Abgeschiedenheit

Und er schreibt weiter über Zufälligkeiten, die Liebe und vom Frieden:

Nichts als ein Würfelspieler bin ich
zuweilen gewinne zuweilen verliere ich
wie ihr bin ich und vielleicht
ein wenig weniger

Und mein Unglück ist dass ich mehrmals
gerettet wurde als ich vor Liebe sterben wollte
und mein Glück ist dass ich noch fügsam genug bin
die Liebe zu erfahren

Wenn der Himmel ergraut
und ich plötzlich eine Rose blühen sehe
aus den Rissen in der Mauer
so sage ich nicht der Himmel sei grau
sondern betrachte lange die Rose
und ich sage ihr: welch ein schöner Tag

Friede ist ein vertrauter Morgen, ein freundlicher
Leichtfüßiger, fern jeder Feindschaft

Frieden heißt den Garten pflegen und fragen:
Was pflanzen wir demnächst?

Friede heißt, einen Jungen beweinen, dem ein Frauenblick
das Herz durchbohrte
keine Kugel, keine Granate

Marion Sens „ms“, amazon.de, 3.5.2009

 

Mahmud Darwischs Poetik des Sandes

Wenn man sich mit einem Dichter beschäftigt, stellt man gern Überlegungen zu seinem essentiellen Vokabular an. Bekanntlich kann jeder Dichter sich eine besondere Sprache erschaffen, die unablöslicher Bestandteil seiner Dichtung ist und seine Opfergabe an die Leser darstellt. Bei der Beschäftigung mit Mahmud Darwisch fragte ich mich, welches wohl sein Wortschatz wäre. Die Frage war alles andere als unerheblich, denn als Arabischschülerin wollte ich in guten Händen sein (unwillkürlich hegt man eine gewisse Unsicherheit, wenn man in eine neue Sprache vordringt). Wohin würde dieser Dichter mich führen, welche Worte mir beibringen, welcher Sprache sich bedienen? In welchem Gebiet, welcher Landschaft würde ich mich wiederfinden?
Was mich gleich überraschte, war die Einfachheit von Darwischs poetischem Grundwortschatz. Ich rede nicht von seiner Sprache, deren semantische Bandbreite sehr groß und reichhaltig ist (man weiß, daß er ein großer Leser des von Ibn Manzur verfaßten Lisan al-Arab, eines Wörterbuchs des Arabischen, war), sondern von dem, was seiner Dichtung zugrunde liegt, woran man ein Gedicht von Mahmud Darwisch gleich erkennt. Sein dichterisches Abc beruht auf einigen unveränderlichen, sorgsam ausgewählten Motiven, die immer wiederkehren: Wind, Wolken, Ölbäume, Palmen, Rose, Wäscheleine, Taschentücher, Spiegel, Tauben, Zugscheiben, Wasserspiegelung, Kaffee…
Zu diesen Dingen zählt der Sand. Der Sand verblüffte mich durch seine Fülle, durch die Vielfalt seiner Erscheinungsformen und durch sein Mysterium. Gleich im ersten, „An den Leser“ adressierten Gedicht des Bandes Ölbaumblätter ist er präsent, als der Dichter in unbedachter, sinnloser Wut in den Sand und dann nach den Wolken schlägt. Der Sand taucht in den letzten Gedichten wieder auf, sowohl in einer Passage der Sammlung Mandelblüten und darüber hinaus, die mit Al-Ma’arris „Luzûmiyyât“ Zwiesprache hält, als auch im posthumen Würfelspieler. In Mandelblüten und darüber hinaus schreibt Darwisch:

Ich werde mir Ma’arris Vers vornehmen
und wandele ihn ab: Mein Körper ist ein Lappen aus Sand, oh Schneiderer
des Universums, nähe mich!
Ich werde schreiben: Oh Schöpfer des Todes,
laß mich noch etwas… in Ruhe!

Der Sand hat Anrecht auf ein eigenes Gedicht, „Das Gedicht vom Sand“ (Qasîdat al-raml) in dem Band Hochzeiten. Er eröffnet sogar ein Triptychon, das durch „Das Gedicht vom Brot“ und „Das Gedicht von der Erde“ vervollständigt wird. Wir haben es also mit einem ganz wesentlichen Element von Darwischs Dichtung zu tun, ebenso grundlegend wie Brot und Erde.
In einer der ersten Szenen des Dokumentarfilms Mahmud Darwich. Et la terre comme la langue… von Simone Bitton und Elias Sanbar blickt Darwisch von der Höhe des jordanischen Bergs Nebo auf sein Geburtsland Palästina. Dort, am Ostufer des Toten Meeres und des Jordans, steht er an der Stelle, von wo Moses einst das versprochene Land betrachtete, die Parallele ist unmißverständlich. Palästina liegt auf der anderen Seite des Flusses, und Darwisch weist mit einer Geste auf das „zum Greifen nahe“ Abwesende hin. Er sagt, er liebe diesen Ort, denn hier könne er die Abwesenheit aufrechterhalten, sie (wie eine geliebte Frau) umarmen, den Abstand aber auch vergrößern. Genauso ist es mit seinem Verhältnis zum Sand, in dem mal Abwesenheit und Abkehr mitschwingen – eine Höhlung, worin die Dichtung sich zusammenrollt –, mal ein fruchtbringender Abstand, aus dem ein neues Gedicht entsteht. Eine doppelte Bewegung: Eingraben einerseits, andererseits Aufblühen.
Sand bedeutet zunächst Zerstörung, doch raml hängt auch mit dem Adjektiv murmil zusammen, welches „seines Ehepartners beraubt“ bedeutet, und mit armala, der Witwe. Es handelt sich um eine machtvolle Art des Zerstreuens, verbunden dem Bild alter Zeiten, der Zeit des Sandes. Die Körnchen sind die zerstoßenen Krümel dessen, was einst Leben war und nun bloß Staub und Asche ist. Der Sand stammt von zermahlenen Felsen, und die Dünen, die er bildet, treiben im Wind, verwandeln sich, ändern die Landschaft. Er steht für das staubige und verlorene Land, das der Dichter in seinen Versen mit sich trägt, wie der Rabe in einem seiner Gedichte die Tinte an seinen Flügeln. In mehreren frühen Gedichten reicht eine Handvoll Sandkörner, um eine Landschaft, einen Vorfall, eine sprachliche Episode entstehen zu lassen. Der Vorgang ist flüchtig, wie ja auch der Sand beweglich ist, und jedes Gedicht wird dem In-alle-Winde-zerstreut-Werden entrissen, das es mit Nichtexistenz bedroht. Viele handeln von solchen später in „Das ermordete Haus“ (aus Die Spur des Schmetterlings) aufgezählten Zerstörungen, und Darwisch sprach es 2007 gegenüber Jean-Pierre Siméon ganz offen aus:

In meiner Sprache habe ich stets irgendwie versucht, diesen zerbrochenen Ort wiederzuerschaffen, ich habe versucht, ihn in der Sprache fortdauern zu lassen.

Diese Aufgabe ist für Darwisch eine Bewährungsprobe: Sand bedeutet Leere, er ist eine ontologische Lücke, ein unbeständiger Ort, in dem das Sein kaum Wurzeln schlagen kann. In einem Abschiedstext zum Gedenken an seinen Vater („Und er verbot mir zu reisen“ im Band ’Âbirûn fî kalâmin ’âbir, auf französisch L’Exil recommencé) nennt er diesen einen „Liebhaber des Ackerbodens“. Der Vater ist ein schweigsamer Mann, den Werken und Tagen hingegeben (wie Hesiod sagen würde), ein Mann, der pflanzt: Sesamwiesen, Bäume. Die Erde hat ihn stumm gemacht, hat seine Zuwendung und seine Sprache aufgesogen. Und von dieser Liebe wird die Erde wieder grün. „Denn mein Vater war weniger mein Vater als ein Vater für Pflanzen und Bäume“, schreibt Darwisch, der zunächst seinen Großvater für seinen Vater hält (L’Exil recommencé). Im Exil ist der entwurzelte Vater dann wie ein verdorrter Baum. Er findet zwar die Sprache wieder, hat sein Land aber gleich zweifach verloren: in Gestalt seiner Heimat und auch seines Grund und Bodens. Seine Hand pflanzt nicht mehr an, sondern zählt Kiesel. Der Sohn wiederum verlegt sein Schaffen in die Sprache, ins „Buch vom Sand“. Die wüstenartige Weite ist sein Ackerboden. Für Jorge Luis Borges ist das „Sandbuch“ bekanntlich eines ohne Anfang und Ende: Jede umgeblätterte Seite erweist sich als eine andere, man liest sie nur einmal, sie taucht nie wieder auf. Das Buch ist unendlich, wie der Sand unzählbar ist. Und Darwischs Dichtung vertieft diesen Gedanken unermüdlich; Schritt für Schritt enthüllt er dessen Potential. Denn der Sand ist nicht neutral, sondern veränderlich, mehrdeutig. Tahar Ben Jellouns L’Enfant de sable (Kind aus Sand, deutsch unter dem Titel Sohn ihres Vaters) ist ein Roman über eine unbeständige Identität, die Geschichte eines Wesens, das weder Mädchen noch Junge ist.
Zudem gebraucht Darwisch das Bild des Sandes in allen Registern. Im Titelgedicht des Bandes Die Vögel sterben in Galiläa füllt Rita in der Stunde des Lebewohls die Kamera rasch und durcheinander mit Fotos von den Gärten und Vögeln Galiläas, die verwaisen und eingehen, während sich der Dichter am Strand räkelt. Der erste Abschnitt endet mit zwei unbestimmten Worten, durch Auslassungspunkte getrennt, ramlan… wa nakhîlan, Sand… und Palmen, als zerfiele vor Entkräftung auch die Welt. Allerdings spielt dieses gefühlvolle Bild ironisch mit Fotos, die man von Werbung für Erholungsurlaube kennt (Sandstrand, Palmen…). Sand und Palmen sind eine Antwort auf das räuberische Kameraobjektiv der abreisenden Rita: Der Sand ist nicht bloß Verlassenheit und Zerstörung, er trägt Welten in sich, ist er doch gleichermaßen die Spur von etwas und das Zeichen von dessen Fehlen. Und deshalb gelingt es dem Künstler Ernest Pignon-Ernest so gut, Darwisch zu porträtieren, über den er in der ihm gewidmeten Nummer der Zeitschrift Europe schreibt:

Die Bilder, die ich zeichne, stellen immer lebensgroße Körper ohne stilistische Effekte dar. Sie fungieren ein wenig so wie Abdrücke. Sie sind wie Schritte im Sand. Sie sprechen zugleich von Anwesenheit und von Abwesenheit.

Sand ist die Zeit der Ewigkeit. Er hängt mit Wahrsagerei und Spuren zusammen. Er gleicht einer uralten Schrift. Die Weite des Sandes ist der Spiegel des Himmels. In ihm erscheint eine geheimnisvolle Schrift, der Telegraph der Gottheit. Schon früh erscheint in Darwischs Dichtung die Wahrsagerin, qâri’at al-raml, wörtlich: „die im Sand liest“, und zwar in dem Gedicht „Geburt“ (Wilâda) aus der Sammlung Ölbaumblätter, das später aus den „Frühwerken“ entfernt wurde, das man aber in alten Ausgaben des Diwan Mahmud Darwisch noch lesen kann. Sie ist die Seherin, welche die karge und sterile Natur entschlüsselt und ihre Nachricht dem Dichter raunend übermittelt. Das Motiv des Sehers, des Lesers im Sand kehrt viel später in Mandelblüten und darüber hinaus wieder, und zwar in dem Gedicht „Exil (2), dichter Nebel über der Brücke“:

Im Sand lasen wir unsere Spuren.
Wir waren weder klar noch mehrdeutig,
Wie das Bild einer Morgendämmerung voller Gähnen.

Man kann es mit dem vermächtnisgleichen Satz in Verbindung bringen, den der Dichter auf der letzten Manuskriptseite des Würfelspielers handschriftlich vermerkt hat:

Möge ein junger Dichter es vollenden.

Man könnte sagen: Ist der Dichter im Arabischen shâ’ir (der Verstehende), so versteht er vor allem die Zeichen im Buch des Sandes zu lesen. Er ist als Dichter auch nicht weniger modern dadurch, daß er seine Poesie mit Tinte auf Papier zeichnet, wie man in dem Film Et la terre comme la langue von Sanbar und Bitton sehen kann. Sand ist ein altes Hilfsmittel, wenn man mit Tinte schreibt. Bevor im 15. Jahrhundert das Löschpapier erfunden und im 19. Jahrhundert die Löschwiege gebräuchlich wurde, trocknete man sie mit Sand (in Form von feinem Bimssteinstaub).
Eben diese doppelte Bewegung – Poesie als Weissagung einer alten Sprache, die im Sand geschrieben steht, und zugleich als Akt, der in der Moderne ein von jemand anderem fortzuführendes Gedicht hervorbringt (wir erinnern uns: „Möge ein junger Dichter es vollenden“) – ist einer der faszinierendsten Aspekte dieses Werks. Darin spiegelt sich seine komplexe Beziehung zu den Ursprüngen der arabischen Dichtung.
Um das zu zeigen, müßte man die Vorstellungswelt vieler Gedichte und auch das gelehrte Wechselspiel erklären, das sie mit einer reichen dichterischen Tradition unterhalten. Ich beschränke mich auf ein paar Bemerkungen zu zweien davon, „Andalusische Gewölbe, Wüste“ aus der Blockade der Lobreden auf das Meer und „Ein Reim für die Mu’allaqat“ aus der Sammlung Warum hast du das Pferd alleingelassen?
Im ersten, das wohl unter dem Eindruck von Ma’arrîs Gruft sowie der Blockade von Beirut entstand, ist von der weiten Wüste und dem bedrohlichen und erneuernden Sand der alten Dichtung die Rede:

Und glaube an meinen eiligen Aufbruch nach Córdoba
Und meine Trennung vom Sand und den alten Dichtern und von Bäumen, die keine Frauen waren.

Der Dichter spricht auch von der schwankenden Mauer der Sprache, die er bröckelig machen, die er hinter sich lassen muß wie ein Briefvogel, eine nach Andalusien reisende Taube, und von den Datteln seiner Worte (denn seine Sprache ist ein Baum, eine Palme) und seiner dichterischen Identität:

Ich bin tausend Jahre des arabischen Augenblicks und errichte im Sand, was der Wind heranträgt…

Hier merkt man die tiefe Verbindung seiner Dichtung mit der vorislamischen Ode. Einen solchen Vers zu verfassen heißt, an den Ausgangspunkt der ersten mu’allaqa, nämlich jener von Imru’ al-Qais, zurückzukehren:

Haltet laßt uns hier an der Stelle der Erinnerung weinen
Dort wars, am Rande des geschwungen sandigen Hügels
Dort stand ihr Zelt umher das Lager.
(Nachdichtung von J. W. Goethe)

Der Wagemut ist groß und schön: Im Sand zu schreiben heißt nichts anderes als zu versuchen, jenen ersten Vers neu zu erschaffen, noch einmal tausend Jahre Dichtkunst zwischen Auslöschung und Spuren zu durchstreifen und das Gedicht in die Moderne hinüberzutragen.
Das ist die Herausforderung in „Ein Reim für die Mu’allaqat“, worin der Dichter ein Reisender und sein Weg eine symbolische Reise ist, auf der er sich von der alten Dichtung entfernt, obgleich er doch in ihren Spuren wandelt, und seiner Imagination folgt (die Geliebte als Gazelle, die Dattelpalmen als „Mu’allaqat im Buch des Sandes“; Nachdichtung von Christine Battermann), aber die zyklische Zeit der Vergangenheit sprengt. In seinem letzten Roman Rasamtu khattan fi-l-rimâl (Ich zog einen Strich im Sand, 1999) schildert der syrische Schriftsteller Hani al-Rahib die Araber als Sandvölker: feindliche Brüder, jedes für sich wie ein Sandkorn, den Lebensstil des Beduinen pflegend, der sich auf die Zivilisation nicht einläßt… Darwisch freilich nutzt diese Vorstellung als zwiefach treibende Kraft einer Poetik, die sich zwischen dem Alten und dem Neuen zu verwurzeln sucht. Für ihn ist der Sand eine Falle, aber auch Material für sein Schaffen, Hohlform, in der sich die neue Gestalt heranbilden kann. Mir scheint, das „Gedicht vom Sand“ aus Hochzeiten bringt das kraftvoll zum Ausdruck.

Mona Hatoum ist eine im Libanon geborene Künstlerin palästinensischer Abstammung, die in Großbritannien lebt (je nach Kontext wird sie mal als libanesische, mal als englische Künstlerin palästinensischer Abstammung präsentiert). 1979 konzipierte sie ein „Self-Erasing Drawing“ (Selbstauslöschende Zeichnung), eine kinetische Skulptur aus Holz, Sand, Metall und einem Elektromotor. Der Motor dreht einen Stab, an dem eine Nadel sich wie der Arm eines Schöpfers mit fünf Umdrehungen pro Minute über eine Sandfläche in einer Kiste bewegt. Das eine Ende des Stabs ritzt also kreisförmige Linien in den Sand, die an Felszeichnungen erinnern, an Marcel Duchamps Staubkulturen, an Amphitheater im Augenblick der Tragödie oder auch an Labyrinthe. Sogleich aber streicht das andere Ende des Stabs über den Sand und versetzt die Fläche zurück in den Tabularasa-Urzustand – aber wieder nur für einen Augenblick, bis das andere Ende des Stabs sie wieder aufreißt, kerbt, makellose Halbkreise hineinzeichnet. Zeichnen, um auszulöschen, und auslöschen, um abermals zu zeichnen: Die Skulptur ist ein Werk, in dem die Gegensätze sich begegnen oder miteinander ringen, so wie in Darwischs Dichtung die Widersprüche einander aufheben. Das eine kann ohne das andere nicht existieren: prägen, schreiben und wieder zudecken, auslöschen; um so intensiver existieren, als diese Existenz vom Verschwinden bedroht ist und das Verschwinden bereits in sich trägt. In einer späteren, zwischen 1994 und 2004 geschaffenen Version hat Hatoum diese Arbeit wieder aufgegriffen, den Rahmen weggelassen, das Ganze übernatürlich vergrößert und ihm den minimalistischen Titel „+ and –“ gegeben. Nun steht man vor einem archaischen Altar, einem Spiegel des Himmels, in den die Nadel der Zeit das Plus und Minus der Existenz, der Sternbilder, des unergründlichen Laufs der Welt eingräbt.
Genau  so  hat  Mahmud  Darwisch  im „Gedicht vom Sand“ das Positive mit dem Negativen zusammengebracht, das Plus mit dem Minus, Gewinn und Verlust, und das in beinah jedem Vers:

Sand ist Form und Möglichkeit.

Eine Orange, die von meiner ersten Lust nichts mehr wissen will.
Ich sehe in dem, was ich sehe, das Vergessen. Es könnte die Blumen und das Staunen verschlingen,
Und der Sand ist der Sand. Ich sehe, wie eine Epoche aus Sand uns begräbt
Und aus der Zeit wirft.

Aber auch:

Der Sand ist der Körper künftiger Bäume, Wolken, die Ländern ähneln.
Gleicher Farbe sind Meer und Schlaf, die Liebenden gleichen Gesichts
… Wir werden uns an den Koran gewöhnen zur Deutung für das, was geschieht,
werden tausend Flüsse in die Wasserläufe gießen.

Dabei stammt dieses Gedicht aus dem Band Hochzeiten. Im vorletzten Abschnitt kommen die Liebenden für immer zusammen und klagen:

Wie kurz war die Zeit des Sandes.

Denn der Sand ist alles, was möglich ist. In dem eindringlichen Refrain „Ich bin die Anfänge. / Ich bin die Enden“ ist es vielleicht nicht der Dichter, der „ich“ sagt. Eher spricht hier ein eindringliches, geheimnisvolles und ungemein ertragreiches Motiv seiner Dichtung: der Sand.

Evanghélia Stead, Sinn und Form, Heft 5, 2021
Aus dem Französischen von Gernot Krämer
Übersetzung der Gedichte aus dem Arabischen von Christine Battermann

 

 

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + Instagram + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Galerie Foto Gezett +
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Ibrahim M. Abu-Hashhash: Tod und Trauer in der Poesie des Palästinensers Maḥmud Darwīš

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram 1, 2 & 3 + KLfG +
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Nachrufe auf Mahmud Darwisch: Quantara ✝ FAZ ✝ Der Spiegel ✝
die taz ✝ The Economist

 

Mahmoud Darwish – Algerie 1983 (Eloge de l’ombre).

3 Antworten : Mahmoud Darwish: Der Würfelspieler”

  1. Nader sagt:

    Wie kann ich dieses gedicht “Der Würfelspieler“ finden

  2. Redaktion sagt:

    Hier finden sie das Gedicht „Der Würfelspieler“:

    http://www.zeit.de/2009/20/Gedicht

  3. Nader sagt:

    Vielen Dank

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