– Zu Marcel Beyers Gedicht „Don Cosmic“. –
MARCEL BEYER
Don Cosmic
I
Kingston, Jamaica. Was kannst du
erkennen: hier kam deine Mutter
zur Welt, hier brachte dein Ahn das
Familiengeschäft, den Bremer
Rumimport in Gang. Davon lebst
du. Vom Urwald, von der Masse aus
Saft. Alle Höllenyards, alle
Plantagen werden für dich bestellt.
Zucker. Im Hintergrund Musik,
der Pianist bleibt auf den schwarzen
Tasten, Dinah, ein Dauerton
fast, scharlach und violett, und Glut.
II
Ein Flüstern, ein Rauschen und ein
Kriechen aus dem Dunkel, hunderte
Negermädchen summen dieses
eine Lied, du hörst es überall
in Seitenstraßen, hinter den
Schuppen und in Pflanzungen: Dinah,
sonst nichts. WAS BIST DU? Knastgesang,
ein Abgrund, Vibration der Insel?
Die Mittagsfrau? Natürlich kannst
du Sprache – aber in diesem Fall
bloß: Kokespann. Und oben: durch
keine Wolke gemildertes Blau.
III
Die dir zugewinkte Stille
von hinterm Schritt einer Schwarzen? – Wohl
kaum. Gebt Rillen, Höllenyards, gebt
uns den Groove, laßt endlich die ganze
Geschichte kippen, alles ins
Zwischenreich, alles in Moll. Her mit
dem Bademantelblues, gebt uns
die Ohren voll, der Zucker steht im
Rohr, steht gut. Die Riesenblüten,
Dinah, ich racker mich wahnsinnig
ab, Dinah, Dinah, was bist du
so schlapp: ein Dauerton, ein Schatten.
IV
Don Drummond, der Posaunist von
Weltbedeutung, den man hier nur Don
Cosmic nennt, ersticht am ersten
Januar Neunzehnfünfundsechzig
vor Tagesanbruch, gegen drei
seine Geliebte, Margarita,
die Limbotänzerin, und stellt
sich kurz darauf der Polizei. Voll
unter Strom. Knochengeschichte,
Geisterzeug. Also geschlossene
Abteilung, Bellevue Hospital,
mit allem, was da kommen mag, die
Suizidversuche, langes
Abendrot, Elektrotherapie
vielleicht, Gegenzauber und ein
frühes Ende. Bekannte Titel
waren etwa: Confucius, Black
Sunday oder Eastern Standard Time.
V
Palmfett schmiert die Kontakte. Ein
wenig Tropenzauber auf deinem
Teller, was Selbstgedrehtes im
Gesicht, nur zu. Vorhöllenahnung,
das Tiroler Nußöl immer
griffbereit. Und du, vor Ort, auf der
Terrasse, rätselst lange. Bis
du wie aus dem Nichts begreifst, das sind
Gesänge auf Pflanzenbasis,
sonnenklar, die Verse beruhen
auf Extrakten: Dinah, die mal
eine Schönheit war, ist – der AFFE.
VI
Was willst du von mir, Aap? Was heißt
das: Nisten? EIN SYMPTOM? Wohin
also mit EINGENISTET IN
DIE SOMMERSTUNDE, mit Ska In The
Vienna Woods, wohin mit DAS
GEWÜRZ von ackee und salt fish UND
WALD. So. Kalt erwischt. Keine fast
magisch hingehauchten Phrasen mehr,
keine zwölf Takte Schwermut und
kein: Dinah, du bringst mich noch ins Grab.
Milchzahn, chops, Hornhaut – spar dir das.
Dem sind die Lippen festgezittert.
VII
Die Zungensensation, Chinin.
Als Echokammer. Westindien.
Limbo. Was hörst du genau? Als
Rassenlümmel, keine Frage, mit
deinem Tropenhelm im Nacken
und deinem Äffchen auf der Schulter,
dem GNOM. WAS BIST DU? Ich kann mich
als Figur nicht mehr ertragen, wenn
die Musik einen Moment lang
aus ist. Zucker. Lauschen. Dinah, ich
schleppe dich, ich mache bald die
Augen zu. Und dann der Dauerton.
Gottfried Benn: Fragmente 1955 (letztes), Gedichte S. 498:
was bist Du? Ein Symptom
ein Affe, ein Gnom –
aaaaaeingenistet in die Sommerstunde
das Gewürz von und Wald –
(Fragmente 1955: Kladde 20, 20.3./26.3.55)
Gottfried Benn, „Worte“, 20.3/26.3.55: Es ist ein großer Reigen / der zwingt Dich in sein Joch / zum Beispiel das Wort „neigen“ – / kannst Du das noch)
Gottfried Benn, „Nur noch flüchtig alles“ (Gedichte S. 464/465): gebt Gottesliter, / Höllenyards, / gebt Rillen / einzuhalten, / aufzuhalten / EINNISTEN möchte man schreien – / nichts – / gebt Rillen! // Nur noch flüchtig alles / Neuralgien morgens, / Halluzinationen abends / angelehnt an Trunk und Zigaretten // abgeschlossene Gene, / erstarrte Chromosomen, / noch etwas schwitzende Hüfte / bei Boogie-Woogie, / nach Heimkehr dann die Hose in den Bügel.
Zeit der Entstehung: 15.3.55 (Kladde 20), Manuskript: 17.3., 18.3,1955, Druck: Aprèludes, 1955, S. 27–28.
Variante Strophe IV: Oder Urwald, Masse aus Saft / dunkelgrünem / unmessbar / gebt Gottesliter/ Höllenyards / gebt Rillen/ nichts – / Zahnräder / aus wo und wann und immer
Friedrich Wilhelm Oelze an Benn aus Kingston, 14.2.39: „Kaskaden von Farben / Bougainvillen mit Riesenblüten, scharlach, Violett und terrakott, und über allem durch keine Wolke gemilderte blaue Glut“
21.2.39: von „großen Baumzikaden, die einen Dauerton von unerträglicher Höhe und Vibration erzeugen“, von „pfeifenden Fröschen“ / der „ganzen Schreckenssymphonie des Flüsterns, des Rauschens und des Kriechens aus dem Dunkel“ / „hunderte Negermädchen in Seitenstraßen und Schuppen, in Bananenplantagen, an den Wänden ihrer Hütten“ warten auf Kunden
Gottfried Benn an Friedrich Wilhelm Oelze, 10.4.39 (Gottfried Benn: Briefe an F.W. Oelze 1932–1945. Erster Band. Hrsg. von Harald Steinhagen und Jürgen Schröder. Vorwort von F.W. Oelze. Wiesbaden, München: Limes 1977, hier nach: Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1979, Brief Nr. 160, S. 211): „Lieber Herr Oelze, ich war froh, als ich wieder das blaue Kuvert mit Aufdruck Bremen sah. Während der letzten Wochen, die ohne Nachricht von Ihnen waren, fragte ich mich oft, wie es wohl um sie stehe u. ob Sie wiederkämen. Dank auch noch für die Nachrichten von unterwegs. Ihr letztes Wort über Ihr diesmaliges Tropenerlebnis haben Sie wohl noch nicht gesprochen, obschon ja das Meiste völlig klar ist. Überall die Masse. Überall das Gewimmel und einige sich wiederholende Gebärden.“
Oelze im Februar/März auf einer Geschäftsreise in Jamaika
Benn an Tilly Wedekind, 4. Mai 1955 (Brief 461), S. 278: „ein oller Kerl, der nicht tanzt u. nie ausgeht – der ist langweilig“
Joe Higgs, „Dinah“ (1963): Dinah, you’re getting lazy / maybe you are saying work is crazy / Dinah you’re getting lazy / It’s time to tell me what’s wrong with you / the very food that you prepare / seems as if you do not care / the very food that you prepare / seems as if you do not care / It’s time to let you know / you have to go / you’re too cold / maybe you’re getting old / So lively yourself up, Dinah / Mind your neighbours taking for adviser (?) / Lively yourself up Dinah / Dinah tell me what’s wrong with you / Morning noon and night you find sleeping time/ Yes you never know NIGHT IN THE RIGHT TIME(?) / Morning noon and night you find sleeping time / Yes you never know / It’s time to let you know / you have to go / you’re too cold / maybe you’re getting old
Desmond Dekker & The Aces, „Get Up Edina“ (1965): Get up Edina / Get up Edina girl / I send you a school you won’t learn / I send you a church you won’t hear / I’m gonna send you back to your mama / I’m gonna send you back to your papa / I’m gonna send you back where you come from / Get up Edina / Get WED Edina (?) / UNCLE (?) come take her away / I don’t want to see her no more
Toots & The Maytals: Alidina
Charlie Ace in „Cow Thief Skank“ berichtet seiner Frau Dinah vom Kuhraub William S. Burroughs in „Interzone“: „I notice the songs that sing themselves in my head indicate my hesitancy to leave the safe, warm place of junk. One for example: I heard the tune a long time before I remembered the words. It’s about an old spade who has sold his ,cabin and patch of ground‘ to go north for better pay:
But Dinah she don’t want to go
She says we’re getting old
She’s ’fraid that she will freeze to death
The country am so cold
That story ’bout the work and pay
She don’t believe it’s true
She begs me not to do the thing
That I am bound to do.
Dinah is junk, of course – that is, my cellular representative of junk.“ (WSB: Interzone S. 126)
„Affe“ als Rausch im Rotwelschen und in vielen europäischen Sprachen, „den Affen (im Nacken) haben“: abhängig sein – insofern, bei Benn: „Affe – Symptom“: Entzugserscheinungen
Skatalites: Indian Summer/ Lee Perry: Me Sir (7″)
The Skatalites: Exodus / Delroy Wilson: One Two Three (7″)
The Skatalites: Ball Of Fire / The Jiving Juniors: By My Side (7″)
The Ska-Talites: Tipi-Tin/ Tuff Talk (7″)
The Skatalites: Jones Town Special / Eric Morris: Ungodly People (7″)
The Skatalites: Red China / Eric Morris: Suddenly (7″)
Don Drummond: Reload
„die dir zugewinkte / Stille von hinterm Schritt einer Schwarzen“ (Paul Celan: „Mapesbury Road“, in: Schneepart, S. 39)
Aus Manfred Enzensperger (Hrsg.): Die Hölderlin Ameisen, DuMont, 2005
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