WIE SCHÖN
Die eigene Linse: Glas beugte Strahlen,
die einem die Tagesnachricht brachten,
die an jedem neuen Tag sagten,
vergiss nicht, du stehst
auf einem Planeten, der sich entwickelt.
Wie schön, dachte sie, was Entfernung für
Wasser leistet, den Blick von oben oder von fern.
Im Traum der letzten Nacht waren sie wieder zurück
am Anfang. Sie war Kind
und er war Kind.
Ein Flugzeug landete und ließ sie zurück.
Kälte bleichte den bleichen Himmel bleicher.
Dann schnitt ein Skalpell sie auf, damit die ganze Welt
See.
Elegie
Kein Gefühl ist so einschneidend, so hart und so universell wie das des Verlustes. Und kein Gedicht kann uns trösten. Der Schock des Todes eines geliebten Menschen ist so existenziell, dass er das Sprachvermögen selbst des Gebildetsten in trauma-artiges Stottern verwandelt, in den Urschrei des Unglaubens, in ein wütendes, sich gegen alle Kausalität stellendes „Nein!“.
Der englische Manierist Alfred Tennyson hat recht, wenn sein tausend Verse langer Canto „In Memoriam“, eine Erinnerung an den verstorbenen Freund Arthur Hallam, auf die eine zentrale Zeile hinausläuft: „no language but a cry“. Schmerz und Trauer lassen uns keine Sprache mehr, nur den Schrei. Die Sprache verwandelt sich ins Körperliche zurück angesichts der unermesslichen Trauer; wer sich an Shakespeares König Lear erinnert, wenn er seine tote Tochter auf den Armen trägt und tränenüberströmt lediglich wie ein Tier heult, „Howl howl howl howl!“, das Geheul ausstößt wie ein Gift, das man endlich loswerden will, ist auf der richtigen Spur. Geschrei, Howl, Titel von Allan Ginsbergs Trauergesang auf eine ganze Generation, ist die angemessene Reaktion auf das Unbegreifliche.
Wir alle müssen durch diese und solche Empfindungen hindurch, über sie hinweg, als trauernde Lebende, bevor wir selber zu Objekten der Trauer werden. Unsere Liebsten werden sterben. Und wir werden uns Liebende hinterlassen, denen unsere Abwesenheit – zumindest für eine Weile – schlimmer als der eigene Tod vorkommt. Wie hält man das aus? Soweit die Frage, auf die wir keine Antwort wissen, und selbst das kunstvolle Jahrhundertgedicht „One Art“, mit dessen repetitiven Leitmotiv, „The Art of losing is not hard to master“, die amerikanische Dichterin Elizabeth Bishop ein Durchspielen des Verlustes in Versen inszenierte, scheint keine angemessene Reaktion auf die ultimativen Verluste zu sein.
Das Rohe, das Gefühl, schlägt in der Trauerarbeit das Gewählte, Formelle. Zumindest wenn es konkreter wird, wenn nicht die abstrakte Idee des Verlusts vor einem liegt, sondern das eigene tote Kind. Aber ist das Gedicht nicht per se eine Exploration in Stil und Gefühl? Erinnerungsarbeit? Der Versuch, Erfahrung in eher wenigen festzuhalten? Ist der Anspruch eines Gedichtbands nicht gerade der, das Unmögliche, die Welt, das Gefühl, den Gedanken in lebendige Bilder, in Sprache uns vorzustellen?
In Mary Jo Bangs Gedichtband Elegy, geht es nicht so sehr um die Reflexion der Grenzen des Sagbaren; erzählt wird in allen Gedichten ganz konkret von der Erfahrung des unerträglichen Verlustes: dem Tod ihres Sohnes. In Etappen durchleben wir als Leser den Trauerprozess, immer wieder kehren wir zu zwei verstörenden Themen zurück: zur durch das Trauern sich immer neu verzerrenden Wahrnehmung von Zeit und zu der Erkenntnis, dass auch die Elegie eine Art von Theater ist, in dem sich die Person im Schmerz mehrfach aufspaltet, ihr Inneres und ihr Äußeres unterschiedlichen Regieanweisungen folgt. Aus der Konversation mit dem Abwesenden, dem Durchlaufen der Selbstanklage, dem nagenden Gefühl von Schuld als Überlebender, dem Dauergefühl des Ungenügens angesichts des Geschehenen, entwickelt sich auch ein Gespräch zwischen der Form der Gedichts und der Trauer. Scheitert das Gedicht in der Darstellung, tut es genau das, was wir erleben, wenn wir trauern. Mary Jo Bangs Techniken, ihre Ordnung des freien Verses durch Assonanzen, Alliterationen, Enjambements und sehr spezielle syntaktische Einheiten, stehen im Dienst einer Gefühlserregungskunst, die keine Kunst mehr sein will und sich ihrer Künstlichkeit doch jederzeit bewusst ist. Sprache wird als etwas zutiefst Fremdes, Ungenügendes erfahren, die Dinge, die irgendwo zurückbleiben, genau betrachtet: ein schwarzer Hut am Haken, Pillendosen, die Unordnung im Zimmer, Polizeisiegel, das Wetter. Nichts genügt als Symbol, als rettende Überschreitung. Die Gedichte berichten nicht – sie sind Erfahrung; die dunkelste, die es gibt.
Der Gedichtband Elegy, (Elegie), wurde mit dem National Book Critics Award ausgezeichnet. Die Autorin lehrt an der Washington University in St. Louis Literatur und ist für ihre inzwischen neun Gedichtbände unter anderem mit dem Alice Fay di Castignola Award of the Poetry Society of America und zahlreichen weiteren Stipendien und Preisen – im Frühjahr 2015 war sie Ehrengast an der American Academy in Berlin – ausgezeichnet worden.
Mary Jo Bang, selbst hochgelobte Übersetzerin etwa von Dante Alighieris „Inferno“, ist eine Dichterin, die der Herausforderung des Trauergedichts nicht ausweicht. Ihre Gedichte zu übersetzen, besonders die aus Elegie, fordert mehr als nur formale Fragen zu lösen. Es geht in den Texten nicht um Trost, sondern um die unmittelbar zu spürende negative Energie des Verlusts, die den Leser in einen ähnlichen Schockzustand versetzt und mit der gefesselten, manchmal stakkatoartigen Sprache der Trauernden konfrontiert, eine Begegnung, der man sich nicht entziehen kann, und die uns, wenn die Gedichte, wie wir hoffen, auch in der Übersetzung gelingen, für immer verwandeln.
Nichts und niemand kann den Tod außer Kraft setzen, nicht einmal die gelungenste Klage. Niemand und nichts bringt die Toten zurück. Nur Orpheus, der metaphorische Urvater aller Dichter, bekam diese Chance. Doch erinnern wir uns: Auch er scheiterte, entzog sich ihm doch Eurydike, heran- und zurückgeführt vom Gott Hermes in der Unterwelt, nachdem der Dichter und Sänger sich umgewandt hatte, um zu sehen, ob sie ihm folgte. Umgewandt, wie ein Vers. Die Toten haben ein anderes Gewicht. Ihre Welt ist eine, die wir nicht mehr erreichen. Wir können uns nicht sicher sein, ob unser Sang, unsere Sprache sie bewegt. Sie sind fort.
In Rilkes großem Gedicht „Orpheus. Eurydike. Hermes“ steht der Botengott mit dem Flügelschuh im Titel ohne Punkt da. Nur er weiß, dass das Unternehmen, das Bergwerk der Seelen, von dem Rilke spricht, eines ist, das sich unseren Kräften entzieht. Die Toten sind keine Minenarbeiter in eingestürzten Schächten, die man irgendwie doch noch retten könnte. Warum kommt Hermes trotzdem auf diese Reise mit? Weil die Reise uns alle als Menschen betrifft – und wir uns in Gedichten mit der Hoffnung auf den Weg machen, dass wir etwas begreifen. Vielleicht nicht den Tod, aber unsere Endlichkeit. Und dass wir durch diese Erfahrung doch lernen Verlust zu akzeptieren. Schreiben ist ein großer Kampf des Erinnerns. Bei Rilke ist der Versuch Orpheus’ Eurydike für die Welt zu retten ein metaphorisches Berg-Werk. Geborgen wird im dichterischen Sprechen aber nur ein Gefühl des ultimativen Verlusts. Oder, um es mit Mary Jo Bang zu sagen:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa[…] Jemand sagt: Ja,
es wird alles gut in einer baldigen Zeit.
Definitiv. Ich zaubere einen Körper
in den Stuhl gegenüber. Sei du selbst, sage ich ihm.
Hier macht dich Erinnerung
unwandelbar: das Hemd, die Sommerhose.
Das schöne Gesicht.
Den tragisch schönen Geist.
Den unersättlichen Mund des Geistes,
der dir sagte: Das ist gar kein Gift,
bloß das, was der Motor braucht. Und dann
schließt sich der Mund um den Hunger.Das Herz bleibt stehen.
Matthias Göritz, Nachwort
Kein Gefühl ist so einschneidend,
so hart und so universell wie das eines tiefen Verlusts. Der Schock, den der Tod eines geliebten Menschen auslöst, und der Schmerz sind so existenziell, dass darauf fast nur ein ungläubig herausgeschrienes, ein wütendes „Nein!“ folgen kann, jenseits aller Kausalität.
Mary Jo Bang versucht, Worte für das kaum Sagbare zu finden, sie spricht in immer neuen Ansätzen ganz konkret von der Erfahrung eines unerträglichen Verlusts: dem Tod ihres Sohnes. In Etappen durchleben wir als Leser den Trauerprozess, immer wieder kehren wir zu zwei verstörenden Themen zurück: zur sich immer neu verzerrenden Wahrnehmung von Zeit und zur Erkenntnis, dass auch die Elegie eine Art von Theater ist, in dem sich die Person im Schmerz aufspaltet. Inneres und Äußeres folgen unterschiedlichen Regieanweisungen. Aus dem imaginierten Gespräch mit dem Abwesenden, aus der Selbstanklage, dem nagenden Gefühl von Schuld, dem Dauergefühl des Ungenügens angesichts des Geschehenen, entwickelt sich auch ein Dialog zwischen der Form der Gedichte und der Trauer. Die Gedichte berichten nicht – sie sind Erfahrung.
Wallstein Verlag, Klappentext, 2018
So leicht läßt sich das Hirn nicht unterkriegen
– Die amerikanische Lyrikerin Mary Jo Bang verlor 2004 ihren Sohn. In ihren neuen Gedichten beobachtet sie die Trauer. –
Vielleicht ähnelt die Trauer einer dickwandigen Kapsel. Nach dem Tod eines nahen Menschen mag es dem Trauernden so vorkommen, als sei er nichts als dieses Gefühl. Mit der Zeit zieht sich der Schmerz zwar in kleine umgrenzte Bereiche zurück. Doch von dort kann er jederzeit in den Alltag hineindrängen und den Trauernden umschließen. In der Sprache der Gedichte von Mary Jo Bang klingt das so:
Später
war es, als würde das Leben im
Nachglühen einer Sterngeburt gelebt
und aus Resten
eines kollabierten Sterns eine
schnelldrehende Solarleiche entstehen
Die Dichterin Mary Jo Bang, 1946 in Missouri geboren, ist die große Nervenkünstlerin der amerikanischen Gegenwartslyrik. Ihre poetische Grundhaltung hat sie einmal in einem Vers formuliert:
Jemand rastet aus und zerschmettert jäh das statische Abstraktum.
Nicht, dass Bang an jedem Schreibtag tatsächlich ausrasten würde. Aber die Beweglichkeit ihrer Verse speist sich aus einer bestimmten Art von poetischer Energie, mit der sie Gedanken und feinste Körperwahrnehmungen so schnell verbinden kann, dass sich das eine vom anderen manchmal kaum trennen lässt. Als ihr Sohn 2004 an einer Überdosis Tabletten starb, nutzte sie ihr hellwaches dichterisches Sensorium für eine berückende Sammlung von Gedichten, die jede trockene Abstraktion unterläuft.
Es beginnt mit einem zurückgelassenen Hut am Haken und der Frage nach dem Ich. Doch die Ideen wollen sich nicht verknüpfen. Der Nullpunkt inmitten der allesverschlingenden Trauer könnte deutlicher kaum bezeichnet sein:
Alle Wege führen zu meinem leeren Kopf (…)
Was einmal Denken war,
ist geknackt.
Doch so leicht lässt sich das „zarte, elegante Gehirn“ nicht unterkriegen. Immer wieder zeigt sich die Kraft des Denkens in kleinen Reflexionen und in der sich ändernden Geschwindigkeit der Verse. „Brain“ und „mind“ sind die am häufigsten verwendeten Wörter in diesem Band. Und so unternimmt der Geist „seine tägliche Pilgerreise / durch Ramschmomente“. Auf dass die Routinen und Abläufe helfen mögen, dass die Schreibende nicht den Verstand verliert. Bis der Schlaf eine kurze Erlösung bringt. Doch auch nachts wälzt die Zeit manchmal nur Stunde um Stunde, bis der Morgen kommt.
Elegie ist weniger ein Gedächtnisbuch für das Leben des verstorbenen Sohnes als ein Umkreisen der Trauer. Und ein Versuch, den Schmerz zugleich schreibend zu entfalten und zu analysieren. In weit verzweigten Gedanken und Wahrnehmungen untersucht Bang den Umschlag von Lust in Schmerz und von Trauer in Sorge. Und immer wieder sieht sie sich das Gefüge der Zeit und vor allem der Sprache an. Das Spannende an diesem Unternehmen ist, dass Bang für ihre Analyse genau jene Mittel benutzt, die sie analysiert: Metaphern, Vergleiche, Klangspiele und Erinnerungssprünge:
Die Uhr mit ihrem digitalen Blinken
ist auch nur ein klägliches Bitten um mehr.
Wörter, die entgleiten, kaum mehr als
Eisschollen in einer Szene aus Weiß
So schließen sich präsentische Schreiberfahrung und Nachdenken fortwährend kurz.
Wie lassen sich diese Sprachblitze übersetzen? Wie kann man all die Lücken, Beschleunigungen und Bremsmanöver in einer anderen Sprache spielen lassen? „Eine große Autorin ist hier erstmals auf Deutsch zu entdecken“, wirbt der Verlag auf dem Buchumschlag. Das stimmt nicht ganz. 2010 ist im kleinen luxbooks Verlag (den es inzwischen nicht mehr gibt) eine schöne Auswahl aus Bangs lyrischem Gesamtwerk erschienen. Darin finden sich auch zehn Gedichte aus Elegie, übersetzt von Barbara Thimm.
Wo Thimm sehr genau der semantischen Bewegung des Originals folgt, versuchen Uda Strätling und Matthias Göritz nun eher, die rhythmische Signatur von Bangs Versen nachzuformen. Das gelingt immer dann, wenn sich das rhythmische Moment mit einem Blick für die Bedeutungsnuancen der Wörter verbindet. So macht das Übersetzerduo aus der mit einem Kosenamen und Lautverwandlungen spielenden Formulierung „Broke bough of one / Limb. Lambikin, let’s go back / To the beginning“ im Deutschen die schöne Variante „Astbruch einer / Gabel. Schnäbelchen. Gehen wir zurück / zum Anfang“. Andere Lösungen sind weniger überzeugend. Aus „Never to be hospital bedded, mother loved“ wird hier der Satz „Nie mehr klinikbettbar, mutterliebbar“. Und die im Englischen schwingende Fügung „Out there was a row / Of everything she remembered“ ist nun ein stumpfes „Dort draußen war die Reihe / all dessen, wessen sie sich entsann“.
Mary Jo Bang tastet dem Tod und der Trauer nach, ohne ihnen ihr Geheimnis zu nehmen. Dabei markiert sie sehr genau, dass Trauer auch ein Moment von Inszenierung hat. So ist es nicht überraschend, wenn im „Hirn-Theater“ immer wieder Bilder aus der griechischen Tragödie aufleuchten. Mitunter sind all die mythischen Gestalten und schnatternden Chöre ein wenig zu viel. Aber das schmälert nicht die Kraft dieser Gedichte. Bang umkreist mit ihrer Sprache das Unbegreifliche des Todes – und zeigt uns, dass das Kopfspektakel im besten Fall ein „Knäuel aus Wahrheit und Erinnerung“ ist.
Nico Bleutge, Süddeutsche Zeitung, 19.3.2018
Weitere Beiträge zu diesem Buch:
Michael Braun: Eine Kapsel mit Asche
signaturen-magazin.de
Nicola Bardola: Tod, Trauer, Inferno
dasgedichtblog.de, 20.7.2018
Jonis Hartmann: Elegie
textem.de, 18.6.2018
Kai Sammet: Anrufung und jaktierende Sprache
literaturkritik.de, August 2018
Bettina Hartz: Wenn einer Mutter das Kind stirbt
fixpoetry.com, 14.5.2017
Fakten und Vermutungen zu Matthias Göritz
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Dirk Skibas Autorenporträts
shi 詩 yan 言 kou 口
Matthias Göritz liest bei der Ars Poetica am 9.10.2010 in Bratislava sein Gedicht „Aus eine alten Anzug“.
Fakten und Vermutungen zu Uda Strätling
Fakten und Vermutungen zur Autorin
shi 詩 yan 言 kou 口
Mary Jo Bang – Das Leben einer Dichterin.








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