Michael Braun und Ralph Schock (Hrsg.): Nichts soll sich ändern

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Michael Braun und Ralph Schock (Hrsg.): Nichts soll sich ändern

Braun und Schock (Hrsg.)-Nichts soll sich ändern

DE SENECTUTE
(Zu meinem 70. Geburtstag)

Es wird bald Nacht ich schlief im Wind
und spürte blind den Bachgesängen nach
jenseits der Grenze wo sie greifbar sind
als Kerzenabglanz Rosenflackern
im Kleid des Gottes der mich segnete

mit Magengrimmen faulen Zähnen
mit hôchgezîten und mit Tränen
zum Festtag Orgellärm ein Gähnen
der Abendwolken graue Strähnen
vorm Fenster kichern die Hyänen
die Krallenfinger der Sirenen

Genug der hehren Töne rief ich
im Licht der Straße liegt mein Lied

Michael Buselmeier

 

PORTRÄT EINES ALTERNDEN SCHRIFTSTELLERS IN SEINEN WORTEN

Ein alternder Schriftsteller verliert Zug um Zug seine Nischenplätze und kleinen Pfründe, die er mühsam erworben hat, Kolumnen, Artikelserien für Zeitungen und Rundfunkanstalten, und dies oft von heute auf morgen, ohne Begründung oder gar Entschuldigung. Erfahrung und Augenschein sagen ihm, dass die wichtigeren Preise an einen engen Kreis immer derselben Leute verteilt werden, zu denen er eigentlich nicht zählt, umso weniger, je älter er wird. Ein alternder Schriftsteller zu sein bedeutet, nicht Preise, sondern Niederlagen einzustecken und deutlich mehr Kränkungen zu verarbeiten, als im Kulturbetrieb ohnehin üblich, und wie der zermürbte alte Poet Krapp auf der Bühne stoisch Erfolglosigkeit und Einsamkeit zu ertragen:

17 Exemplare verkauft, davon 11 zum Großhandelspreis an öffentliche Leihbibliotheken in Übersee. Werde bekannt.

Ein neuer Redakteur zieht ein, und der alternde Schriftsteller bekommt nicht einmal mehr die Liste mit den zu besprechenden Frühjahrstiteln geschickt. Vielleicht ist er auch Theaterkritiker und nicht mehr ganz auf dem Laufenden kann er das modische Dekonstruktionsgemetzel an überlieferten Dramen nicht länger mittragen.
Der alternde Schriftsteller kann ein Regionalist sein, ein Provinzler, der Baden und die Pfalz nur selten und ungern verlassen hat. Viele seiner Prosatexte und Gedichte, seine Stadtführungen, literarischen Wanderungen, Anthologien, Essays und öffentlichen Gespräche spielen in dieser Region, die er ohne schlechtes Gewissen „Heimat“ nennt und in der schon seine Vorfahren lebten. Und er ist davon überzeugt, dass es einen unterirdischen Zusammenhang zwischen Landschaft, Sprache und Literatur gibt. Die einzelnen Orte und die dort ablaufende Zeit stehen im Zentrum seiner Arbeiten, dann erst kommen die Menschen und ihre Handlungen, und ganz am Ende kommt die Politik. Dennoch hat der alternde Schriftsteller in den 1970er Jahren in der linksradikalen Szene eine kleinere Rolle gespielt und in Büchern wie Der Untergang von Heidelberg (1981), Schoppe. Ein Landroman (1989) und Amsterdam. Leidseplein (2003) auf sehr verschiedene Weise reflektiert. Zweifellos war die Revolte von 1968 eine ihn bis heute beflügelnde Erfahrung, ein geistiger wie auch körperlicher Aufbruch, selbst wenn die Theorien damals erborgt und die sogenannten Analysen mehr als fragwürdig waren. Es stimmt auch, dass die romantische Poesie in ihrer subjektiven Radikalität für den alternden Schriftsteller wegweisend war. So haben ihn Novalis, Brentano, Eichendorff, vor allem Kleist und Hölderlin schon als Schüler und jungen Schauspieler begeistert, das wurde dann von politischen Erregungen zeitweise überlagert, ist aber wirksam geblieben. Sein ganzes Denken ist von der romantischen Vorstellung geprägt, dass allein eine Rückwendung zu den Urbildern und Mythen, in die Höhlen und Abgründe der Vorzeit hilft, die Zumutungen der Gegenwart zu ertragen. Diese Bilder der Frühe könnten sich auch, dialektisch in die Zukunft katapultiert, als Splitter einer „Neuen Mythologie“ oder Fetzen einer „progressiven Universalpoesie“ im Sinn Friedrich Schlegels bewähren.
Der alternde Schriftsteller kann ein autobiographischer Autor sein. Indem er so unerbittlich wie möglich von sich selbst zu schreiben versucht, berichtet er zugleich von der deutschen Geschichte seit den 1940er Jahren. Er kann sich früh als Abseitssteher empfunden haben, ein uneheliches Kind mit Heimerfahrung, in der chaotischen Nachkriegszeit aufwachsend, von manchem bedroht und gefährdet, was heute in aller Mund ist: Missbrauch, Gewalt. Und er kann ständig in Schwierigkeiten gewesen sein, ein miserabler Schüler und Spätentwickler (was sich freilich als vorteilhaft erwies, je älter er wurde) – ein Verlierer wie Becketts Krapp.
Auch deswegen hat der alternde Schriftsteller sich früh für Randfiguren im Literaturbetrieb eingesetzt, für Dichter wie Jean Paul, Karl Philipp Moritz oder Robert Walser, die viel zu Fuß unterwegs waren und es im Leben nicht leicht hatten, für Expressionisten und Emigranten, die im Westen Deutschlands erst um 1960 wiederentdeckt wurden. Der alternde Schriftsteller schrieb seine ersten Essays über Alfred Lichtenstein, Jakob van Hoddis und Klaus Mann und brachte Indio-Spiele von Paul Zech zur Uraufführung. Im November 1963 erschien sein erster Artikel in der Zeit über den weithin vergessenen Ernst Toller, und er war darüber so stolz wie wohl nie wieder. Für einen Moment wähnte er sich mit der ganzen geistigen Welt verbunden. In der Folge hat er immer wieder Artikel für das Feuilleton und Besprechungen für den Literaturteil der Zeit geschrieben und denkt mit Freude an die Redakteure Rolf Michaelis und Volker Hage – eine Zusammenarbeit, die er heute vermisst.
Über Jahre hin hat der alternde Schriftsteller Gedichte von bekannten wie unbekannten Lyrikern in der Wochenzeitung Freitag vorgestellt und mit Kommentaren versehen, darunter Vergessene, Untergeher oder solche, deren Schreiben kaum jemand bemerkt hat, und er hat versucht, wenigstens einen Zipfel ihres Daseins festzuhalten. In ähnlicher Absicht hat er schwierige Bücher besprochen, gelegentlich auch in seiner Reihe Edition Künstlerhaus publiziert. Seit über 40 Jahren stellt er regelmäßig literarische Zeitschriften vor, die trotz ihrer oft hohen Qualität nur mühsam, am äußersten Rand des Literaturbetriebs überleben. Seit zehn, zwölf Jahren findet er keine Zeitung mehr, die seine Kolumnen druckt (und mittlerweile auch keine Rundfunkanstalt mehr). Welche Kenntnisse verdankt er gerade ihnen! „Am Rand“ scheint die ihm und seinen Figuren gemäße Position zu sein: unter lauter Waldgängern, Schattenhunden, Heimatsuchern hat er sich eingerichtet als Dichter wie als Stadtforscher und Stadtführer, gegen die fortschreitende Zerstörung von Tradition und Heimat wenn auch vergeblich anschreibend, erlebte Geschichte, deutsche Sprache und Poesie verteidigend. Die Rolle passt zu ihm, sie ist verbunden mit einem gesunden Hass auf den Opportunismus und die Unterhaltungsmentalität der Etablierten und politisch Korrekten, die auf einmal alle 68er gewesen sein wollen.
„Am Rand“ heißt auch ein Gedicht, das der alternde Schriftsteller vor wenigen Jahren zu einem Bild des großen Photographen Robert Häusser geschrieben hat, nachdem ihn die späte Begegnung mit dessen kontraststarken Schwarz-weiß-Photos von leeren einsamen Landschaften und verlassenen Orten tief beeindruckt hatte. Häussers Photo ist 1957 entstanden und zeigt eine Trümmerlandschaft am Rand von Mannheim, wahrscheinlich die Friesenheimer Insel, links eine Wellblechhütte, im Hintergrund, jenseits des Rheins, eine Fabrikanlage. Diese Endzeit-Gegend durchschneidet ein vor Nässe glänzender Weg, in dessen Mitte eine Gestalt in einem Sessel sitzt, mit dem Rücken zum Betrachter. Ein Landstreicher, der in dieser Wüste Unterschlupf sucht, eine Bierflasche in der Hand? Es könnte auch der Photokünstler selbst sein oder ein alternder Dichter, in die Betrachtung der Geröllhalde mit dem leuchtenden Pfad versunken, und die Bierflasche wäre sein Notizbuch. Darin könnte sich die Erinnerung finden an einen Sommer mit seinen langen Abenden, seiner Pracht, der alternde Dichter steht mitten unter den großblättrigen Sonnenblumen, hoch aufgeschossenen und heftig schwankenden im Wind, Westwind, Augustwind. Im selben Notizbuch könnten sich auch Bilder finden von einem Nachmittag im Januar 1948 vermutlich, als noch nur sonntags Fußball gespielt wurde, und plötzlich fängt es zu schneien an, die Flocken liegen zuerst auf den grasfreien Flächen vor den Toren, fallen dann dichter und versinken im schleierhaften Nichts, das von unten her anwächst, bis die Farben der Trikots verschwimmen, das Geräusch des Balles, die Pfiffe und Rufe der Zuschauer und der Spieler fast unhörbar werden. Wer mag hier eben noch gegen wen gespielt haben, Rohrbach gegen Pforzheim oder gegen Karlsruhe, Blau gegen Rot? Und wer hat eigentlich gewonnen? Im schnell einfallenden Abend trottet der alternde Dichter als junger Bub den Feldweg heimwärts; über erstarrten Matsch und verwehte Erdlöcher kickt er einen steinharten Klumpen vor sich her. Sieben Jahre später lernt er Goethes Torquato Tasso auswendig und trägt ihn beim Spazierengehen den Bäumen und Waldvögeln vor, eine mitreißende Verssprache, ein Tonfall, der ihn auf Dauer verwandelt. Gegen Ende seines Theaterromans Wunsiedel (2011) sitzt sein Ich-Erzähler Moritz Schoppe, dem der Theaterrock eine Zwangsjacke wurde, auf einer Friedhofsbank, Ende August, ab und zu etwas in sein blaues Notizbuch schreibend, von Trauermänteln und schwarzen Hummeln umschwirrt. Libellen; schillernde Käfer, gelbes Blütengewölk. Duft der verblühenden Rosen und Geranien. Der Vogelgesang ist schon vor Wochen verstummt. Im leichten Wind zittern die Birkenblätter, sie rascheln, sieden. Ein Flugzeug mit einem Reklameband, kaum sichtbar im verschleierten, zum Horizont hin fast milchigen Himmelsblau.

Jürgen Theobaldy

 

Grußwort

„Ich rühm dich Heidelberg“ überschrieb Michael Buselmeier 1996 sein „Poem in sechs Gesängen“, in dem er sich schonungslos und inbrünstig seiner Heimatstadt zuwendet. Mit dieser Festschrift wiederum möchte Heidelberg Michael Buselmeier anlässlich seines 80. Geburtstags umfassend in Text und Bild rühmen – und damit einen Schriftsteller, der wie kaum ein anderer in jüngerer Zeit die Geschichte unserer Stadt begleitet hat. Aufgewachsen, studiert und zeitlebens in Heidelberg wohnend, hat der Jubilar die Umbrüche Heidelbergs beinahe ein ganzes Jahrhundert miterlebt und kommentiert. Hätte Heidelberg die Position eines „Stadtschreibers“ – Michael Buselmeier könnte man – vermutlich gegen seinen Willen – als einen solchen der kontrovers-diskursiven Art bezeichnen.
Die vorliegende Festschrift widmet sich ausführlich seinem Leben und Werk. Einmal abgesehen von seinen vielbeachteten Romanen Amsterdam. Leidseplein (2003) und dem für den Deutschen Buchpreis 2012 nominierten Theaterroman Wunsiedel, hat sich Michael Buselmeier in Wort und Schrift stets dem Erhalt und der Prägung des kulturellen Gedächtnisses Heidelbergs verschrieben.
Seine langjährige Gesprächsreihe „Erlebte Geschichte erzählt“ mit rund achtzig Heidelberger Persönlichkeiten und Zeitzeugen, seine ebenfalls auch in Buchform erschienenen „Literarischen Führungen durch Heidelberg“ oder die gemeinsam mit Hans-Martin Mumm bis heute stattfindenden Führungen „Stadtgeschichte im Gehen“ sind Ausdruck seines Engagements für und seines Wissens um Heidelberg. 2003 hat die Stadt ihm die Richard-Benz-Medaille für Wissenschaft und Kunst verliehen – eine von vielen Auszeichnungen, die der bedeutende Schriftsteller unserer UNESCO-Literaturstadt Heidelberg erhielt.
Auch wenn Michael Buselmeier schon 1981 den Untergang von Heidelberg in seinem gleichnamigen Werk heraufbeschwor – untergegangen sind weder Stadt noch Autor. Weitergegangen sind sie und verändert haben sich beide im Laufe der Zeit(en). Mal miteinander, mal aneinander reibend – aber immer im intensiven Dialog.
In diesem Sinne, hoch geschätzter Michael Buselmeier, meine herzlichsten Glückwünsche zum 80. Geburtstag!

Eckart Würzner, Vorwort

 

Der Lieblingsplatz des Dichters Michael Buselmeier

war immer die Position am Rand, unversöhnt mit den Verhältnissen und eigensinnig auf die Konfrontation mit dem konformistischen Kulturbetrieb bedacht. Wie sein Romanheld Moritz Schoppe hat er sich stets als ein „Abseitssteher voller Verachtung“ verstanden, wie all die Waldgänger, Außenseiter und zornigen Anarchen, die sein Werk bevölkern. In der Festschrift zu seinem 80. Geburtstag kommentieren nun Freunde und Weggefährten den Lebensweg des Dichters, mit Gedichten, Gesprächen und Interpretationen, mit Würdigungen seines Werks, mit Erinnerungen und einigen Seitenblicken auf Urszenen seines Lebens. Der Band enthält auch einige ausgewählte „Monologe über das Glück“ und Gedichte von Michael Buselmeier, die Paul-Henri Campbell ins Englische übertragen hat.
Mit Beiträgen u.a. von: Arnfrid Astel, Michael Braun, Hans Peter Duerr, Benedikt Erenz, Róža Domašcyna, Oleg Jurjew, Wulf Kirsten, Uwe Kolbe, Jan Koneffke, Hans-Martin Mumm, Johann Lippet, Harry Oberländer, Julia Scialpi, Ralph Schock, Jürgen Theobaldy, Eckart Würzner, Michael Zeller.

Wunderhorn Verlag, Klappentext, 2018

 

 

Fakten und Vermutungen zu Ralph Schock + Kalliope

 

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Zum 80. Geburtstag des Autors:

Michael Buselmeier: Kurze Bilanz
Sinn und Form, Heft 2, März/April 2019

Volker Oesterreich im Gespräch mit Michael Buselmeier
Rhein-Neckar-Zeitung, 25.10.2018

Oleg Jurjew: Jugendlicher Buselmeier
Michael Braun und Ralph Schock (Hrsg.): Nichts soll sich ändern, Wunderhorn Verlag, 2018

Michael Zeller: „…eben noch ein Kind…“
Michael Braun und Ralph Schock (Hrsg.): Nichts soll sich ändern, Wunderhorn Verlag, 2018

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Porträtgalerie

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Michael Buselmeier

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