DAS EPOS VOM BEFREIUNGSKRIEG
Prolog
SIE, die zahllos sind
aaaaaaaaaaaaawie Ameisen am Boden,
aaaaaaaaaaaaaaaaFische im Wasser,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaVögel unter dem Himmel,
ängstlich,
aaaaaaaatapfer,
aaaaaaaaaaaaaeinfältig,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaweise
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund kindlich,
SIE sind es, die niederreißen
aaaaaaaaaaund die hervorbringen,
und nur von ihren Abenteuern handelt unser Heldenlied.
SIE, die dem Locken des Verräters erliegen,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie Fahne fallen lassen,
den Feind Feind sein lassen auf dem Schlachtfeld
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund nach Hause laufen
(doch wendet einer sich ab vom Glauben, ziehn sie den Dolch),
die lachen, wie ein grüner Baum lacht,
weinen, ganz ohne Feierlichkeit
und sich aufs Fluchen verstehn wie keiner sonst
von ihren Abenteuern handelt unser Heldenlied.
Eisen,
aaaaaKohle
aaaaaaaaaaund Zucker,
rotes Kupfer,
gewebte Stoffe,
Liebem, Entbehrung, das Leben,
alle Arten Gewerbe,
das Firmament,
aaaaaaaaaaaaadie Wüste,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaader blaue Ozean,
die traurigen Flußläufe,
bestellte Äcker, die Städte –
ihrer aller Bestimmung
aaaaawird eines Tages im Morgendämmern
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaeine andere sein,
eines Tages im Morgendämmern, wenn am Rande des Dunkels
aaaaaSIE ihre schweren Hände auf die Erde stützen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund sich aufrichten.
SIE sind es, die auf die gebildetsten Spiegel
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie buntesten Formen werfen.
In diesem Jahrhundert schlugen sie zu
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund wurden geschlagen.
Viel Worte fielen darüber. Auch den Satz:
aaaaaSIE haben nichts zu verlieren als ihre Ketten!
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahörten wir sagen.
Übertragen von Gisela Kraft
Am Neujahrstag des Jahres 1921 betritt der kaum achtzehnjährige Nâzım mit drei Freunden ein kleines Schiff namens Neue Welt, das den Hafen Istanbul-Sirkeci in Richtung Schwarzmeer verlassen will. Die vier jungen Poeten verstecken sich unter den Baumwollballen an Deck. Fände sie die Kontrolle der alliierten Besatzungsmächte am Ausgang des Bosporus, wäre ihr Plan zunichte. Nâzım stammt aus vornehmer, dennoch zerbrochener Familie. Wenn sein Vater Nâzım Pascha das Verschwinden des Sohnes bemerkt, wird er über ein Gedicht rätseln, das dieser auf dem väterlichen Schreibtisch zurückgelassen hat. Darin ist von Anatolien die Rede, „das gläubig seine letzte Stunde erwartet“ und den Protest der Jugend herausfordert. Inzwischen haben die Freunde das Städtchen İnebolu an der anatolischen Nordküste sicher erreicht und gehen an Land.
Doch sollen nur acht Monate verstreichen, bis Nâzım in einer weiter östlich gelegenen Hafenstadt des Schwarzmeeres, Trapezunt, wiederum ein Schiff besteigt, diesmal mit Kurs auf die Sowjetunion. Acht Monate Wahrnehmung und Betroffenheit, die die Hauptlinien seines Lebenswerkes in ihm einzeichnen und seine eigene künftige Leidensgeschichte bestimmen. Er hat sich die türkische Erde erlaufen wie ein Derwisch. Er hat, noch ehe er in Ankara eintraf und sich der Revolution der nationalen Befreiung weihen konnte, Spartakisten getroffen, ist aufgeschreckt worden von Nachrichten einer viel radikaleren Revolution und Korrektur menschlicher Verhältnisse, als sie eben hier versucht wird. Er hat das gemarterte, der Fähigkeit zu hoffen verlustige, in seinem Rechtsempfinden für sich und gegen andere verwirrte Volk kennengelernt, auch in Gestalt von Polizisten, Herbergenbesitzern und kleinen Bürokraten, die ihn einigemal an der Fortsetzung seines Weges zu hindern trachten. Als er schließlich mit seinem Kameraden Va-Nu vor Mustafa Kemal steht, einem gehetzten, eisern entschlossenen Strategen, dessen Triumph als „Atatürk“ noch wie ein Wunder fern scheint und der den beiden Jungen zuruft, sie sollten bloß keine poésie pure schreiben, sondern engagierte Gedichte, rührt sich in seiner Ehrfurcht schon Zweifel. Die beiden werden als Junglehrer in die Provinz geschickt, eine gewiß richtige Entscheidung. Ist doch ein Absolvent der osmanischen Marineschule einem anatolischen Landbewohner um eine Unendlichkeit an Wissen voraus und die Alphabetisierung der eigenen Leute ebenso dringend wie der militärische Erfolg über die Okkupationstruppen. Aber die Unendlichkeit erweist sich zugleich als unüberspringbarer Abgrund, auf dessen einer Seite die jungen Intellektuellen mit ihrem pädagogischen Eifer allein bleiben. Auf der anderen Seite verharrt das Volk, in seine Klasse gepreßt, auf der Lauer vor den geistlichen Bevormundern und den Großgrundbesitzern, wie vor jenen zwei Todesengeln, die am Grab die Summe des geleisteten Gehorsams messen, um die Befreiung ins Paradies zu verfügen oder zu versagen. So wird es zwar eine Türkische Republik geben, einen weiten Staatsmantel westlicher Machart, rasch über den feudalen Filz geworfen, in dem der Dörfler nach wie vor seinen kümmerlichen Tag fristet. Nâzım schreibt zwei Jahrzehnte später im „Epos vom Befreiungskrieg“:
Doch laß ihn nicht eines Tages jemanden treffen,
der ihm erklärt, warum er leidet.
Laß ihn nicht eines Tages,
wenn die Zeit reif ist,
rufen: Es reicht!
Nâzım, achtzehnjährig im Städtchen Bolu, zwischen Betern und Fastern, die bereits zwei Angehörige der neuen Volksarmee erschlagen haben, will einer werden, der ihm sein Leiden erklärt. Ein wenig zuviel Scharfblick, dazu die Nachricht von außerhalb, von Philosophie und Praxis einer proletarischen Revolution, vereiteln ihm für immer die ehrbare Karriere im Dienst einer Politik der kleinen Fort- und Rückschritte. Gleichzeitig und gleichwohl quält ihn das Gewissen, nicht als Soldat Leib und Leben einzusetzen. Den jungen Lehrer im „Befreiungskrieg“ läßt er, gleichsam nachträglich an eigener Stelle, den Schuldienst quittieren und an die Front gehen. Denn „daß einer… sitzt / und Kindern Unterricht gibt / und der andere setzt / in der Steppe im Kugelhagel / sein Leben aufs Spiel, / ist eine untaugliche, trostlose Teilung von Arbeit“. Wenn auch er selbst jetzt zu lehren aufhört, dann aus der Einsicht, daß er das, was dieses Volk braucht, erst zu studieren habe. Anfang September 1921 schifft er sich nach Batum ein. Sein Freund ist noch an seiner Seite.
In Nâzım Hikmets tragischer Biographie gibt es einige kuriose Begebenheiten, die vergessen wären, hätten sie nicht große literarische Wirkungen gezeitigt. Zwei davon ereignen sich gleich in Batum, wo er einige Monate zubringt und sich bei einer vom Außenbüro der Türkischen Kommunistischen Partei herausgegebenen Zeitschrift das Geld für Maissuppe und Schwarzbrot verdient. Im Schrank seines Quartiers findet er über hundert Textbücher französischer Schauspiele und liest sie alle. Zusammen mit den avantgardistischen sowjetischen Regiekonzepten der zwanziger Jahre, die er wenig später in Moskau kennenlernen soll, führen sie ihn in die Technik des Stückeschreibens ein. Noch folgenreicher ist ein Blick Nâzım in eine russische Zeitung – gänzlich ohne russische Sprachkenntnisse –, in der ein Gedicht nicht linksbündig, sondern in treppenartig nach rechts untereinander gerückten Zeilen abgedruckt ist. Nâzım ist zunächst von dem graphischen Eindruck fasziniert, nichts weiter. Seine Weiterreise nach Moskau, im Jahr 1922, führt ihn durch ein Gebiet bitterster Hungersnot. Ebenso wie Chlebnikow, der hier sein Gedicht „Der Hunger“ schrieb, will Nâzım seine Erschütterung in Sprache fassen. Er versucht es nach erlernter, mit Va-Nu bis Bolu geübter elegisch-schöner Dichterweise. Aber der Text gelingt nicht. Die Harmonie des Gedichts hat mit der Disharmonie seines Anlasses nichts zu tun. Da taucht in seiner Erinnerung jenes Gebilde aus der Batumer Zeitung auf. Er ahmt es nach. So entsteht das Gedicht „Die Pupillen der Hungernden“, das erste türkische Gedicht in freien Zeilen. In Moskau angekommen, wird er nach und nach die Bekanntschaft namhafter Theaterleute und Schriftsteller machen, auch die des „in Wellen denkenden Dichters“. Er heißt Majakowski.
Als Nâzım 1925 zum ersten Mal die Heimkehr nach Anatolien wagt, liegen Studien an der Kommunistischen Universität der Werktätigen des Orients hinter ihm, die Begegnung mit Literaten und ihren Programmen, die Beteiligung an der internationalen Ehrenwache am Sarg Lenins. In seinem Heimatland hatte drei Jahre zuvor der Befreiungskrieg mit der Vertreibung der Eindringlinge geendet. Sultanat und Kalifat sind abgeschafft, Hauptstadt der neuen Republik ist Ankara. Nâzım kommt zurück, voll Sehnsucht nach seinem Volk, aber schon als Gegner des blutjungen Staates. Wenn er von seinem Ansinnen nicht läßt, für den Sozialismus zu schreiben, wird jeder Federstrich illegal sein. Die Türkische Kommunistische Partei ist im eigenen Land noch vor dem Siegestag von İzmir verboten worden. Nâzım weiß, muß wissen, daß ihm nur drei Möglichkeiten offenstehen: Untergrund, Flucht oder Verhaftung. Eine vierte vermag er sich in seinem Feuer nicht vorzustellen: die Vergeblichkeit.
Sein Besuch bleibt kurz. Er versteckt sich, weicht noch im selben Jahr wieder nach Moskau aus, will einen anderen Zeitpunkt abwarten. In Abwesenheit verurteilt, wird er 1928 bei der erneuten Einreise schon an der Grenze, im Schwarzmeerstädtchen Hopa, abgefangen und verhaftet. Nach sieben Monaten kommt er noch einmal frei und kann sich einige Zeit halten. In diesen Jahren setzt die Regierung weitreichende Reformen durch. Durch die Umstellung der Schrift vom arabischen auf das lateinische Alphabet erhält die türkische Sprache anstelle einer unlernbar vertrackten plötzlich eine schmucklos einfache Orthographie. Ein ästhetischer Verlust, aber eine Öffnung der Kunst des Schreibens für jedermann, und für den Schriftsteller die Hoffnung, daß sein Buch von jenen gelesen werden kann, die er meint und an die er schreibt. 1929 erscheint Nâzıms Buch mit dem Titel 835 Zeilen: 835 Verszeilen in der Bauart des Majakowski-Gedichtes aus der Batumer Zeitung, der Form, die Nâzım künftig auch für seine großen Epen verwenden wird. Niemand bestreitet heute den Effekt dieses schmalen Heftes, seine Wirkung auf die zeitgenössische türkische Lyrik und auf deren Rang in der Weltliteratur. Nur die Frage, um wieviel Nâzım mit ihm seiner Liebe, dem anatolischen Menschen, näherkam, ist mit solchen Erfolgsmeldungen nicht beantwortet. Hier scheinen Grenzen der Rezeption, Grenzen der Politik, der persönlichen Biographie, der Konvention und der Dichtkunst schlechthin ein enges Gitter zu flechten, zwischen Antwort und Frage, Sprecher und Angesprochenem, ein Gitter, für das die jahrelange Gefangenschaft Nâzıms wie ein Zeichen steht.
1932 wird Nâzım verhaftet. Die nun folgenden drei Jahre versetzen ihn zwangsweise in die Ruhe, die Erfahrungen seines dreißigjährigen Lebens zu überdenken. Zur Analyse der Lage seines Volkes nimmt er historische Abhandlungen zu Hilfe, soweit sie seiner Lektüre zugänglich sind, meist aus der Feindposition verfaßt, vom Menschsein der Masse ahnungslos. Aus den Meinungen seiner gelehrten Widersacher und seinen eigenen Gedanken entsteht so ein Schwarzweißbild, das er schließlich zu einem Versbericht verarbeitet. „Das Epos vom Scheich Bedreddin“ ortet den Zustand der westanatolischen Bevölkerung zu Beginn des 15. Jahrhunderts. Auf der schwarzen Seite agieren die Vertreter der osmanischen Zentralmacht und die ihnen zudienernde muslimische Geistlichkeit. Sie werden vorläufig, für dieses Stück Geschichte, Sieger bleiben. Gegen sie kämpft, als eine Dreiheit, das Volk mit seinen beiden Aufstandsführern. Das Volk ist noch unbezeichnet, nicht in Individuen gespalten, macht keine Fehler. Es ist das Idealbild der menschlichen Kommune, die existiert, „um aus einer Kehle ein Lied zu singen, / um das Netz Fische gemeinsam an Land zu ziehen, / um gemeinsam das Eisen zierlich zu formen, / um gemeinsam das Feld zu bestellen, / um gemeinsam Honigfeigen zu ernten, / um, von der Wange der Liebsten abgesehen, / das Leben / gemeinsam / zu leben“. Gerade deshalb aber, weil das Volk, aufgrund der Vorzeitigkeit der Ereignisse, noch nicht zur endgültigen Überlegenheit aufgefordert scheint, weil es dementsprechend noch hofft, handelt, nicht in Panik, Korruption oder Lethargie scheitert, gerade deshalb bietet der Text die klarsten Sätze einer Moral der Gemeinsamkeit und ist zum Trostbuch einer Generation von Enttäuschten geworden. In Zukunft gilt es, das Biotop von Erde und Mensch so ins Recht zu setzen, wie es in der Vergangenheit, vor dem weltweiten Frontkampf der Klassen, noch als Urbild durchschien. In Nâzıms Ton klingt Ermahnung niemals rigide, das Zeugnis der Utopie dagegen um so leidenschaftlicher.
Sieh,
wo wir sind.
Die Erde, einen Schritt zurück noch in Tränen,
fängt zu lachen an wie ein Kind!
Sieh die Feigen – wie Riesensmaragde!
Rebstöcke tragen schwer an bernsteinfarbenen Trauben!
…
hier ist der Mensch so reich
wie Erde, Sonne und Meer –
und Meer und Sonne und Erde
an Segen dem Menschen gleich.
Auch das Paar der Aufstandsführer entspricht einem Muster, das die Weltgeschichte bisher in zahllosen gelungenen und mißlungenen Revolutionen wiederholt hat: Entwerfer und Ins-Werk-Setzer, Visionär und Organisator, Erster und Zweiter. Hier zeichnet Nâzım getreu den Überlieferungen: Bedreddin, den edlen, adligen, körperlich zarten, weitblickenden Denker, dessen mystische Lehre von der Einheit aller Substanzen den Gegensatz von Herr und Knecht, Schöpfer und Geschöpf, aufhebt. Börklüce Mustafa, den unverwüstlichen Krieger, nicht weniger charismatisch als Bedreddin, so daß er Tausende des Landvolks – Muslime, Christen und Juden – hinter sich bringt, in den Triumph und am Ende in den Tod führt. Allein dieses Paar stellt in seiner Zusammenarbeit ein Lehrbeispiel auf für die Überwindbarkeit der Klassen. Nur die Zeit war nicht reif.
Und die wie im Chorgesang
mit Bruderhänden bebaute Erde
wurde zerscharrt
von den Hufen der Zuchtpferde
aus dem Schloßgestüt zu Edirne.
Sag nicht:
Solches war
nach den sozialen, historischen und ökonomischen Umständen
nicht zu vermeiden.
Ich weiß.
Aber mein Herz
will diese Sprache nicht leiden.…
Nichtsdestoweniger hat das Herz des Autors, und auch die Geschichte selbst, Augenblicke beschworen, in denen eine Wende möglich schien. Als Börklüces Truppen das erste ihnen entgegengesandte Heer in einer Felswildnis aufgerieben hatten, begibt Bedreddin sich an einen Hafen des Schwarzmeeres. Er will zur europäischen Küste übersetzen, um dort, unter Einsatz persönlicher und familiärer Beziehungen, den Aufstand gegen die Dynastie Osman in großem Stil zu erweitern. Heimlich überquert er das Meer in einem Segelboot und erreicht einen Küstenstreifen im heutigen rumänisch-bulgarischen Grenzgebiet. Inzwischen haben sich die Geschicke um Börklüce zum Schlechten verkehrt. Das zweite vom Sultansprinzen entsandte Heer schlägt die Aufständischen vernichtend. Jetzt ist die Reihe am Ich-Erzähler, noch einmal ein Boot zu besteigen. Er hat als Traumbeobachter, um ein halbes Jahrtausend zurückversetzt, die Ereignisse verfolgt, hat die Botschaft von Börklüces Sieg an Bedreddin übermittelt, diesen bis auf den Balkan begleitet, ist durch die Dardanellen zurückgeschwommen und muß nun die Nachricht von Börklüces Niederlage und Kreuzestod, also vom Scheitern des anatolischen Flügels, Bedreddin überbringen. Doch wird er ihn schon gefangen finden, kurz vor dem Todesurteil. In dieser finsteren Stunde des ausgehenden Mittelalters, auf dem aufgewühlten Meer der Dardanellenenge, bemerkt er, daß das Gesicht des Bootsmannes der Fotografie vom Einband eines deutschen Buches gleicht, die er über seiner Gefängnispritsche aufgehängt hat: weißer Vollbart, schwarzer Oberlippenbart, mächtige klare Stirn. Der Bootsmann spricht Sätze aus dem Buch, Sätze aus dem Kommunistischen Manifest. Sie machen die Katastrophe nicht rückgängig, benennen aber die Ursache.
Wer heute, im neunten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts, das anatolische Hinterland bereist, ist versucht, Nâzım für einen Illusionisten zu halten. Die festgefahrene Idylle von Elend, Esel und Attentat scheint in nichts die Erwartung zu rechtfertigen, daß das Benennen der Ursache bereits den Beginn ihrer Überwindung anzeigt. Hier hat die Mißachtung des Menschen volle Arbeit getan, sie hat Fossilien hinterlassen, Fossilien, die vor Kummer und Hunger schreien in einer vor Schönheit schreienden Landschaft. Nâzım indessen, noch in der ersten Hälfte dieses weltbedrohlichen Jahrhunderts, hält seinen Weg und sein Konzept ein, Ursache und Wirkung in sprechbare Sprache zu fassen. 1935 wird er auf freien Fuß gesetzt. 1936 erscheint der Bedreddin, das Werk, das er genau in der Mitte seiner Lebensfrist in Arbeit nahm, sein letztes zu seinen Lebzeiten in der Türkei veröffentlichtes Buch. Die Weltgeschichte der dreißiger Jahre ist von Tragödien gezeichnet. Gegen die Besetzung Äthiopiens durch die Italiener und die faschistische Machtübernahme in Spanien wirft er Dichtungen heraus, eine davon kostet ihn endgültig die Freiheit, hat doch der Staat Nichteinmischung verfügt. Als er 1938 eingekerkert wird, steht auf deutschem Boden die Kristallnacht bevor. Nâzım, neben schwerer körperlicher Arbeit, widmet sich seinem Lebensthema: seinen Landsleuten den Ausweg aus ihrer Lage zu zeigen, den in Bolu abgebrochenen Unterricht fortzusetzen. In den folgenden drei Jahren verfaßt er „Das Epos vom Befreiungskrieg“. Will es ein brauchbares Lesebuch werden, sind wenigstens zwei Bedingungen zu erfüllen. Es muß beweisen, daß das Volk auch zu siegen versteht, den Sultan stürzt, seine eigene Republik gründet. Diesen Beweis hat die türkische Geschichte zwei Jahrzehnte zuvor angetreten, es genügt, an die historischen Fakten zu erinnern. Darüber hinaus soll diesmal das Volk nicht als abstrakte ideologische Größe, sondern in seinen lebendigen Individuen zu Wort kommen. Abgehobene Panegyrik entmutigt den einzelnen, der sich mit seinen Schwächen in dem besungenen Heldentum nicht wiedererkennt. Nâzım hat sich selten in sie verloren, Phantasie und Genauigkeit hinderten ihn daran. Den Befreiungskrieg wird er als Summe der Taten einzelner Anatolier wiedergeben. Ihnen allen ist gemeinsam: Sie treten aus dem ihnen nachgesagten Fatalismus heraus, greifen zu, springen ein, erzwingen die Wende. Karayılan, Landarbeiter im Grenzgebiet nördlich Syrien, erweitert nur seinen Schicksalsglauben, wenn er erkennt, daß der Tod ihn findet, ob er sich in seiner Rosenknospe versteckt oder gegen den Feind stürmt. Also tut er das letztere. Der Telegrafist Harmdi, korrekt, zuvorkommend, gibt den Verlauf der Besetzung Istanbuls nach Ankara durch, bis die Briten in seiner Station stehen. Das Kind Kerim spielt das ernsteste Spiel, wenn es als Kundschafter zu Pferd durch die Steppe jagt, geheime Dokumente am Leib. Da ist auch İsmail, der sich in einem winzigen Ruderboot durch den von Kriegsschiffen starrenden Bosporus bis auf das Schwarzmeer hinausstiehlt, ein wertvolles Maschinengewehr auf den Knien. Auf offener See zerbricht ihm das Ruder. Unsicher bleibt, ob er sein Ziel erreicht, den Anatoliern die dringend benötigte Waffe zu überbringen.
Der Krieg ist Ausnahmezustand, auch des menschlichen Willens. Am Triumph der Siegesleistung haben dennoch nicht zuletzt die „sozialen, historischen und ökonomischen Umstände“ ihren Anteil. Ferner hat auch diese Bewegung ihren Protagonisten: unbestrittene Führerfigur, personifizierter Wille, Atatürk, Nationalist, bürgerlicher Diktator, Umwälzer und Verhinderer der Umwälzung. Nâzım setzt ihm, der ein Jahr vor Beginn der Niederschrift des Textes verstorben ist, ein knappes Denkmal, ohne den Namen zu nennen:
Er fragte: „Wie spät?“
Sie sagten: „Drei.“
Er glich einem blonden Wolf
mit funkelnden blauen Augen.
Er lief bis zum Abgrund,
bückte sich, stand still.
Doch hätten sie ihn gelassen, wie er will,
dann hätte er sich über langen Beinen
zur Feder gebogen
und wäre… von Kocatepe hinab nach Afyon geflogen.
Die karge Skizze kurz vor Ende des Schlachtberichts, ihn damit noch deutlicher ehrend und einordnend, zeichnet liebevoll den eigentlichen Entwurf seiner Persönlichkeit, ohne die späteren Züge machthaberischer Verhärtung und Resignation. Nâzım legt hiermit zugleich ein Exempel seiner Methode ab, Menschen zu sehen und zu porträtieren: in ihren Möglichkeiten, vor der Verformung durch die Gesellschaft. Eine andere Alternative der Hoffnung gibt es nicht, da das Weiterleben der Menschheit von der Aktivierung der intimsten, unverfälschten Menschlichkeit jedes einzelnen abhängt. Der Kampf steht unentschieden, mit Neigung zur Niederlage. „In diesem Jahrhundert schlugen sie zu / und wurden geschlagen“ – gemeint ist Rußland, 1917, und Spanien, 1936. „Das Epos vom Befreiungskrieg“, Rekapitulation eines bestandenen Kapitels türkischer Geschichte, wird zwischen 1939 und 1941 zu Papier gebracht, in den drei ersten Jahren des zweiten Weltkrieges.
Den Beweis, daß das türkische Volk ebenso außerhalb des Ausnahmezustandes siegesfähig ist, blieb Nâzım sich und seinen Schülern, blieb auch die Geschichte bisher schuldig. Er beginnt eine noch tiefer greifende Analyse, entsagt sich aller, vielleicht noch unterbewußt fortwirkender Ansprüche dichterischen Beschönigens und auch der Regel des Zusammenziehens auf das angeblich Wesentliche. Er protokolliert peinlich genau, selbst das Widerwärtige. Es entstehen, trotz heftiger Krankheitsattacken, um die 60.000 Verszeilen, von denen ein Viertel erhalten und in fünf Bücher abgeteilt sind, die „Menschenlandschaften meiner Heimat“. Neun Jahre dauert die Niederschrift. Nicht selten wechseln in dieser Zeit Stil oder Konzept, indem Nâzım zwischen lyrischer Kürzel und prosaischer Ausführlichkeit pendelt und in der Darstellung seiner Mitmenschen zweierlei Zwängen folgt: Schärfe des Nahobjekts und Kenntlichkeit des welthistorischen Hintergrunds. Das Ergebnis hat dennoch fast weniger mit Nâzıms dramaturgischen Absichten zu tun als mit dem Schmugglerglück derer, die die Textabschnitte aus dem Gefängnis schleusen. Geblieben und endredigiert ist ein aus Episoden und Personenskizzen mosaikartig zusammengesetztes Anatolien-Panorama, datiert in die vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts, dennoch zeitlos, weil hier die Zukunft nicht beginnen und die Vergangenheit nicht enden will. „In jenem Jahr 1941“, das mittlere der fünf Bücher, wird 1961 in italienischer, 1963 – im Todesjahr Nâzıms – in deutscher Sprache erscheinen, noch vor dem Druck des Originals. Ihm fällt damit die Rolle zu, die erste im westlichen Europa empfangene Nachricht aus Nâzıms Leidenswelt zu sein. Allerdings ist Anatolien zu dieser Zeit längst mit Mann und Meer als Rüstungsgelände verkauft.
Die Nahaufnahmen seiner Mitmenschen geraten bedrängend deutlich, weil Nâzım mit ihnen auf allerengstem Raum im Gefängnis zusammenhaust. In einem türkischen „Strafhaus“ sitzt ja nicht nur der Kriminelle und der Politische ein, sondern jeder, der sich mit der Obrigkeit auf irgendeine Weise überwirft. Schlitzohrigkeit und Verzweiflung, Armut, Unwissenheit und ein dummer Zufall können gleichermaßen Anlaß zur Haft sein. In der Rahmenerzählung des „Bedreddin“ ist die Rede von Gefangenen, die die Abgabe für das Passieren einer Straße nicht zahlen konnten, also schlicht von Habenichtsen. Wer fromm ist, weist solche Schicksalseinteilung Allah zu, der denn auch dafür zuständig ist, daß andere Schlitzohren und Dummköpfe, Verzweifelte und Hungrige niemals erwischt werden. Das Volk hinter und vor den Gittern ist in nichts voneinander verschieden. Offenes Land (im „Befreiungskrieg“) und Gefängnishof („In jenem Jahr 1941“) verhalten sich wie Makrokosmos und Mikrokosmos, in letzterem liegen die Biographien mit ihren Wunden und Winkelzügen bloß wie im Brennglas. Der Mensch ist nicht böse an sich, sondern verstört von der erlittenen Mißhandlung.
Unrecht haben sie mir angetan, Unrecht, Unrecht…
…
Es war die Frau meines Bruders, die mir das angetan hat.
Alle steckten sie unter einer Decke
…
mein Geld war im Keller,
ich habe es mir genommen.
…
Ich sah, daß Menschen mich in den Wahnsinn trieben,
und ich tötete meine Frau.
Das Blut kommt über mich, das Blut…
Unrecht haben sie mir angetan…
klagt der Trödler Raif im Hof.
Wird der Mensch sich seiner Lage bewußt, wird er darum nicht unmittelbar ein guter Mensch. Im besten Fall eröffnet er den Kampf, um seine Lage zu ändern. Die Entwicklung zum Guten vollzieht sich über den Kampf. Ist die Lage geändert, herrschen Bedingungen, die den Menschen nicht mehr böse machen. Da der Mensch seinem Wesen nach gut ist, kann man ihn auch vor Einsetzen dieser Entwicklung schon lieben – solange er also noch böse scheint. Nach der historischen Lösung des Konflikts wird der Gegensatz von Gut und Böse selbst verschwinden, und damit die Notwendigkeit der Maßregelung und die Funktion der Moral in der menschlichen Kommune. Der Mensch wird sich der Sonne annähern, „nicht gut, / nicht schlecht, / nicht schön, / nicht häßlich, / nicht gerecht, / nicht ungerecht, / ein gewaltiges, / ein endloses Leben…“ Aber die Einzelheiten bleiben. Yusuf wird weiterhin Ornamente auf Spiegel malen, Dümellis Frau wird Äpfel mögen, die Frage eines glücklichen Lebens wird nach wie vor von Kleinigkeiten abhängen. Der große Wandel würde auch nicht die Einsamkeit des Arztes Faik Bey ausschließen, aber seinen Selbstmord könnte man abwenden. Denn Liebe wäre Lebensprinzip. Nicht die geschändete, in Ehen kasernierte Liebe, die Flucht und Kindesmord heraufbeschwört, sondern die freie Freundlichkeit zwischen den Gliedern eines Biotops, den Partnern einer Begegnung. Nâzıms Bericht handelt von der entsetzlichen Wirklichkeit, nicht von der Utopie. Doch entsteht diese, zwingend wie eine Komplementärfarbe, auf der Netzhaut des Lesers.
Nâzım meint, daß sein Volk im Prozeß der Bewußtseinsbildung schon allzulang auf der Kindstufe verharrt. „Groß ist deine Schuld… / Dem Sperling gleichst du, mein Bruder, in spatzenhaftem Flattern dich vergebend“, klagt er in einem Gedicht. Das Kindmotiv zieht sich durch alle Epentexte, als Topos der Hoffnung, öfter noch als Fluch. Kindsein heißt Abhängigkeit und ist als Gleichnis für die Unmündigkeit des Volkes ein negatives Zeichen. Kinder werden gehegt oder getötet, ihre Köpfe können „abreißen wie Klatschmohnblüten“. Wenn Halil zu erblinden droht und der Rücken Kerims verkrümmt bleibt, so sind das ganz und gar unselige Rückfälle in einen embryonalen Zustand. Andererseits: Der Lastwagenfahrer Ahmet stopft im Gebirge alle Kleidungsstücke in einen geplatzten Reifen und setzt sich, „wie frisch aus dem Mutterleib“, wieder ans Steuer. In einem solchen Bild schlägt Verlust in Zuversicht um. Die Kette des Lebens bewegt sich weiter, in jedem Beginn liegt noch einmal die Möglichkeit des Gelingens. Ähnlich dem „ersten Siegeslied des Neugeborenen“ schreit der erwachsene Ahmet sich selber zu:
Bleib dran, Löwe!
Bedreddin reitet zum Meer, im Schutz seiner drei Begleiter, die wie auf ein Kind auf ihn achtgeben. Gleichzeitig fühlen die drei, daß er sie führt wie ein Vater. In einem Kindsein, das Vatersein einschließt, entfaltet die Metapher ihren tiefsten Sinn: den angeborenen und den wiedergewinnbaren Stand der Unschuld, des heilen Bezugs zu Kommune.
So ist auch Nâzım ein Kind – und keine siebzehn Jahre der Haft können ihn zu der Vernunft bringen, von seinem Ziel zu lassen –, als er 1950, ein achtundvierzigjähriger schwerkranker Mann, entlassen wird. Er begibt sich sogleich in die Obhut seines früheren Freundes. Va-Nu beschreibt, wie sie in einer der ersten Nächte durch enge Gassen an Spitzelposten vorbei zum Bosporus schleichen, um Nâzıms sehnlichsten Wunsch zu erfüllen. Er will seine Hände ins Meer halten.
Bedreddin beugt sich zum Wasser,
schöpft eine Handvoll, richtet sich auf,
läßt die Tropfen durch die Finger rinnen
… und spricht:
„Dieses Feuer,
das in meinem Herzen entbrannt ist,
…
darin mein Herz hingehn und schmelzen wird,
und wäre es von geschmiedetem Eisen…
Ich werde den Aufstand wagen!
…
Wir werden die Macht der Wissenschaft,
das Geheimnis der Großen Einheit beweisen…“
Für Nâzım gibt es in diesem Land nichts mehr zu wagen und auszurichten. Er erlebt die Geburt seines Sohnes und muß sich schon 1951, verfolgt und neu gefährdet, zur letzten Flucht entschließen. Dreißig Jahre zuvor hatte er sich auf der „Neuen Welt“ nach Anatolien eingeschifft. Jetzt ist das Boot noch winziger. In zwei Tagen trägt es ihn zur rumänischen Küste, wie Bedreddin. Die Zeit ist immer noch nicht reif. Die Lehrbücher müssen warten. 1965 dürfen die ersten in türkischer Sprache erscheinen. Unzählige einzelne haben sie seither ins Herz geschlossen. Die Menge, die man das Volk nennt, kennt sie nicht.
Gisela Kraft, Nachwort
sind nicht nur eng mit seinem Leben verknüpft, sein mutiges Leben und seine enthusiastischen Dichtungen, sein Wort und seine Tat verlaufen in den historischen Bahnen unseres Jahrhunderts: nationales Freiheitsstreben, sozialistische Revolution, kommunistische Ideale. Davon zeugen seine Poeme „Das Epos vom Scheich Bedreddin“, „Das Epos vom Befreiungskrieg“, „In jenem Jahr 1941“; sie sind Kerkervisionen, Revolten, Befreiungsakte, Hoffnungen, Utopien – und die unendliche Liebe zur Menschheit, zur „Mehrzahl der Menschen“.
Rütten & Loening Verlag, Klappentext, 1984
Kai Agthe: Für Gisela Kraft, die Derwischa und Katzenfreundin
Das Blättchen, 27.6.2011
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