DIE REISE
Ein Dichter macht eine Reise
aaaaaaaaaavon einem Meer unserer Welt
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaablickt er auf einen Stern.
Ein Dichter geht auf die Reise
aaaaaaaaaavon dem Meer eines Sterns
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaablickt er auf unsere Welt.
Dichter sind auf Reisen
aaaaaaaaaaauf den Meeren des Weltalls
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaablickt einer den anderen an.
– Nâzım Hikmet in seinem und in unserem Jahrhundert. –
Vorbemerkung
Als Nâzım, Sohn des Hikmet, sich nach dem Ende des Osmanischen Reiches gemeinsam mit allen türkischen Staatsbürgern einen Nachnamen zulegen mußte, wählte er den Namen des Vaters. Bei seinen türkischen Lesern und Liebhabern indessen heißt er noch heute Nâzım – verordneter Familienname beiseite. Nâzım Hikmet pflegen ihn neben Literaturkundlern vor allem seine Gegner zu nennen. Bei Aussprache des Namens ist an ihrer Mimik abzulesen, was sie von ihm halten. Jene wiederum, die Nâzım sagen, schämen sich nicht einer gewissen Zärtlichkeit für den Poeten. Das hat im Orient nichts Anrüchiges.
Ehrenrettung
Viel Zuneigung, viel Haß – viel Licht, viel Schatten. Jene, die Nâzım sagen und sich selbst für Poeten halten – und wer im Dichterland Türkei hielte sich nicht für einen Poeten –, ahmen ihn nach. Das ist nicht nur naheliegend. Im Orient gehört es zum guten Ton. Es gibt dort nicht die Sünde des Plagiats. Im Gegenteil: Vom Meister abschreiben heißt ihm huldigen. Auf diese Weise haben Verse mittelalterlicher Herkunft sich über Jahrhunderte unter verschiedenen Verfassernamen nahezu original erhalten, zur Verzweiflung der Quellenforscher. Die Interviewfrage „Welche Vorbilder haben Sie?“ muß einem Dichter nicht gestellt werden, denn die Antwort tritt in seinen Texten offen zutage. Und wer sich das Zitieren versagt, der imitiert doch wenigstens: Rhythmus, Wortwahl, Zeilenfall. Die Methode dient nicht allein Unbegabten dazu, Talent vorzutäuschen. Auch bedeutende Lyriker haben, zumindest zeitweise, der Handschrift des Meisters vor der eigenen den Vorrang gegeben.
So kam es zu der paradox anmutenden Situation, daß in der türkischen Lyrik des 20. Jahrhunderts – einer Epoche der wechselnden Stile und miteinander in Widerstreit tretenden Schulen – nach dem Auftritt des „Superdichters“ sich Stillstand verbreitete. Die Epigonen lösten einander ab bis ins dritte Glied.
Wer wie Nâzım zu schreiben versucht, tut überdies kund, daß er ein Linker ist. Mit der Folge, daß er ebenso selten wie Nâzım von Nicht-Linken gelesen wird. Aus dem Blickwinkel des 21. Jahrhunderts zeigt sich nachgerade, daß Zuneigung den größeren Schatten warf als der Haß. War Nâzım, der Kommunist, doch zu Lebzeiten aufgrund seiner Weltanschauung und seines Schicksals zu einer der Kultfiguren des Weltkommunismus avanciert. Dieser erlosch – nicht als Ideal, aber als Diktaturform – mit der Jahrtausendwende, und seine Lichtgestalten mit ihm. Insofern mag manchem das Ansinnen, Nâzım, den Dichter, aus der Asche des Ruhms, des Irrtums und Untergangs noch einmal auszugraben, müßig erscheinen.
Dennoch erscheint ein Akt der Ehrenrettung überfällig. Lebende Poeten sind sie dem großen Kollegen schuldig, mehr noch, dem Kulturgut Poesie als (mit Novalis’ Worten) „Selbstbewußtsein des Universums“. Nicht die Lösung eines Dichterlebensrätsels soll angesagt sein, kein Austausch von Kommentaren, sondern schlicht Neuentdeckung. Nâzım Hikmet von heute tritt uns als ein anderer entgegen als jener von gestern. Was auch die Leserschaft verändert. Die achtbar-abgetakelte türkische Linke links liegenlassend, spricht Nâzıms Lyrik zum aufgeschlossenen Weltbürger. Soviel jedenfalls sei für dieses Mal zugesichert. Vielleicht besteht Unsterblichkeit darin, daß jede Epoche einmal geschaffene Kunst auf neue Weise ihrer Gegenwart einfügt.
Der Bootsflüchtling
I
Nâzım also: geboren 1902 in Saloniki. Hier beginnt bereits das Drama. Die griechische Stadt, deren fast fünfhundertjährige osmanische Besetzung kurz vor dem Ende stand, sollte ihn nur für zwei Jahre beherbergen, für jenen ersten Abschnitt des Kleinkindalters, der halbbewußt verläuft und kaum Erinnerungen im Erwachsenen zurückläßt. Nâzım hat seinen Geburtsort nie wieder betreten und hieraus sogar für sich ein Prinzip abgeleitet, wie im Langgedicht „Lebenslauf“: „Ich kehre nicht gern zurück“, oder in dem Gedichtzyklus „Stunden in Prag“: „So, wie niemand der Ufer gedenkt, die hinter ihm liegen, / besorgt, sie holten ihn ein.“ Beide Figuren sind selbstsuggestive Behauptungen gegen das Heimweh. In den letzten zwölf Lebensjahren, die er zwangsweise außerhalb der Türkei verbringt, wird der Trennungsschmerz geradezu als prägendes Motiv seine Lyrik beherrschen. Wie gern wäre er zurückgekehrt. Neben Mehmet, dem Sohn, gehört memleket (Vaterland) zu den am inbrünstigsten beschworenen Namen der Sehnsucht.
In Saloniki mangelt es der Familie zunächst an nichts außer an der Ruhe der Zeitläufte. Der Vater, Beamter des osmanischen Außenministeriums, in der Provinz Mazedonien im Einsatz, gerät in die Turbulenzen des Zerfalls an den Rändern des Reiches. Als sein eigener Vater, Mehmet Nâzım Pascha, 1904 zum Gouverneur von Aleppo ernannt wird, folgt der jüngere Teil der Familie ihm nach: Vater Hikmet, Mutter Celile und Nâzım. Hier, am östlichen Rand, scheint das administrative System des Sultanats noch unbeschadet fortzuexistieren. Das Kind sieht einer Zeit der Geborgenheit und anspruchsvollen Erziehung in ungewöhnlicher Umgebung entgegen.
Die Jahre von Aleppo sollten Spuren nicht nur in der Gemütsverfassung, sondern insbesondere im Werk des künftigen Dichters hinterlassen. Das erste Weltbild, das Nâzım vermittelt bekam, war das mystische, von Ehrfurcht gegenüber dem Schöpfer und allen Geschöpfen erfüllte des Großvaters. Dieser, Anhänger des Mevlewiyye-Ordens, veranstaltete religiöse Erbauungsabende im eigenen Hause. Solche muß sich der Europäer nicht als Gebetsrunden oder Seminarstunden vorstellen. Es wurden Poeme gelesen – selbstverfaßte oder solche des Ordensgründers Mevlana Celaleddin Rumi, eines Dichters von Weltrang, der vom 13. Jahrhundert beispielsweise bis in die deutsche Romantik des 19. Jahrhunderts fortgewirkt hat. Es wurde, wenn nicht „getanzt“ und gewirbelt – der Orden firmiert im Westen als „Tanzende Derwische“ –, so doch gesungen und mittels Wort und Melodie die mystische Entrückung geübt. Was das Kind da an Geräuschen und Klängen aufnahm, findet sich im fließenden, monodiehaften Ton vieler Gedichte wieder, der noch und gerade in Zeiten des aller Frömmigkeit entblößten Materialismus des Autors hervortritt und agitatorischen Sentenzen die Schärfe nimmt. Letzteres um so mehr, als auch das Ideal der Toleranz und Empathie sich niemals – selbst unter extremem Leidensdruck nicht – aus seinem Charakter verliert.
Nâzıms Mutter, Celile, wird als nicht minder erstaunliche Person gerühmt: schön, tatkräftig und hochgebildet. Ihre Leidenschaft galt der Malerei wie der französischen Dichtung. Auch sie veranstaltete Lesungen im Haus, bei welchen sie vorzugsweise Lyrik des Romantikers Alphonse de Lamartine (1790–1869) vortrug, im Original und eigenen Übertragungen ins Türkische. Geschmeidiger Stil und empfängliche Sinnesart kamen dem Jungen somit aus orientalischen und okzidentalen Quellen zu Ohren.
Nâzım vermutete übrigens, daß seine blauen Augen und sein blondes Haar auf die Großväter der Mutter zurückgingen, deren einer aus Polen und der andere aus Deutschland stammte. Sogar in seiner Weltoffenheit sah er eine von beiden weitgereisten Vorfahren ererbte Eigenschaft.
Im Jahr 1908 beordert Istanbul den Vater zurück. Die Mutter verbleibt mit Nâzım und der soeben geborenen Tochter Samiye im Haus ihres Schwiegervaters, bis auch dieser von seinem Posten abberufen wird. Ab 1910 lebt die Familie in der Metropole zusammen.
Ein gepflegter Hausstand, Tischgespräche auf französisch und türkisch, die neu aufgenommenen Versammlungen der Mevlewiyye-Freunde des pensionierten Großvaters, Mutters am Ort und auf Parisreisen verfeinerte Malerei und der Besuch der renommierten Galatasaray-Schule ließen den nunmehr achtjährigen Nâzım die Kindheit weiter genießen und seine Talente entfalten – eine Glücksfrist, die noch etwa fünf Jahre andauern sollte und vielleicht jenen Fundus an Unerschütterlichkeit schuf, der ihn die vom weiteren Schicksal bereitgehaltenen Qualen und Verluste überleben half.
In der Stadt ging es unterdessen längst chaotisch zu. Panturkisten, Panislamisten, Monarchisten und Sozialisten versuchten, das Herrschaftserbe der ersterbenden Dynastie Osman jeweils in eigene ideologische Ziele und Machtinteressen zu überführen. Sie sammelten und sie versteckten sich, um am Ende (des Ersten Weltkriegs) doch von abendländischen Alliierten überrollt zu werden.
Das Kind Nâzım schreibt Verse im erlernten Tonfall, in arabischen Schriftzeichen, jedoch nicht im geringsten verträumt, sondern mit verblüffender Anteilnahme am Zeitgeschehen. Als erstes Gedicht gilt „Heimatklage“ aus dem Jahr 1913:
Es war ein nebliger Morgen
Ein Dunst schlug die Gegend in Bann
Von ferne stöhnte es ach aman
Hör zu! Deine Heimat wehklagt hier
Hör auf dein Gewissen und handle so
Des Landes zerstückelter Leib
Erwartet Hoffnung von dir.
Der Elfjährige entwirft darin sein Lebensprogramm, indem er sein zentrales Thema vorausnimmt: die Tragödie des Landes, die zugleich die eigene sein wird. Zwei Jahre darauf soll sich die noch universelle Wehmut in konkreten Schmerz verwandeln. Ein geliebter Onkel fällt als junger Offizier im Kampf um die Dardanellen. Nâzım besingt ihn mit patriotischem Pathos, aber auch in einem knappen Epitaph auf französisch:
Tu n’est pas mort
Tu n’est pas mort
Tu vit encore
Tu vivra toujours
Dans le cœur de la patrie.
Mit diesem traurigen Ereignis scheint die Kindheit abgeschlossen. Draußen Krieg, drinnen Zwietracht: Die Eltern haben sich auseinandergelebt. Hikmet Bey liebt die Frauen zu sehr, nicht bloß die eigene. (Wer möchte hier nicht an Nâzıms künftigen Umgang mit Frauen denken.) Celile Hanım wiederum ist zu strahlend, zu lebenstüchtig, kurzum, ihrem Mann überlegen. Nach der Scheidung 1918 wird sie den Lebensunterhalt für sich und beide Kinder mit Malunterricht bestreiten.
Für Nâzım folgen vorerst zwei weitere Schuljahre, sodann, im Scheidungsjahr der Eltern, der Eintritt in die Offiziersschule. Eine günstige Fügung, denn in der idyllisch gelegenen Marineakademie auf der Prinzeninsel Heybeliada trifft der Sechzehnjährige auf den herausragenden Poeten Yahya Kemal, Geschichtsprofessor des Instituts.
Yahya Kemal Beyatlı (1884–1958), Lobsänger der ausklingenden osmanischen Kultur und der bleibenden Schönheit Istanbuls, Meister der üppig-dekadenten Form und des schwelgerischen Tons, großherzig genug, um das Talent seines Schülers wahrzunehmen und zu fördern, lektoriert unter anderem dessen Gedicht „Zypressenhain“, das am 3. Oktober des Jahres in der Zeitschrift Yeni Mecmua abgedruckt wird:
Ein Wimmern, wie wenn irgend jemand weine,
Vernahm ich aus den Zweigen der Zypressen.
Ist es der Wind, der seufzt im stillen Haine,
Will eine alte Liebe nicht vergessen?
Droht Schwärze, meine Lider zu bedachen,
Dünkt mich, man höre Todgeweihte lachen.
Sind’s Liebende, denen die Augen brachen,
Die schluchzen in den Zweigen der Zypressen?
Der erstveröffentlichte Text erscheint wie ein Gegenstück zum erstgeschriebenen. Melancholische Grundstimmung mit synonymem Vokabular des Seufzens und Klagens, die Hinwendung zu fremdem Leid – so weit, so gleich. Der Kontrast liegt in der Aufforderung zur Tat im ersteren, sparsamer gereimten Gedicht aus sieben ungleich kurzen Zeilen gegenüber der streng elfsilbigen, zwei mal vierzeiligen, virtuos gereimten Kontemplation über ein Naturphänomen im letzteren. Der Elfsilbler ist eine Form der alttürkischen Volksdichtung und transportiert auch dort die elegische Stimmung. Hier verbindet er sich mit der Süße überreifer höfischer Poesie. Das Instrumentarium, das türkische Dichtkunst über Jahrhunderte entwickelt hat – Nâzım geht bereits im Knabenalter vertraut mit ihm um.
Was das Zeitgeschehen betrifft, so geht in ebendiesen Tagen der Erste Weltkrieg verloren, verloren für die Mittelmächte wie für den „Kranken Mann am Bosporus“, der sich mit jenen verbündet hatte. Ihre Niederlage versetzt ihm den Fangstoß. Die Siegermächte verteilen die Kleider. Während Istanbul die nächsten fünf Jahre besetzt bleibt, kann Nâzım seine Ausbildung abschließen und erhält schon 1919 das Offizierspatent. Er wird auf einem im Marmarameer stationierten Kriegsschiff eingesetzt, quittiert aber aus Gesundheitsgründen nach wenigen Monaten den Dienst – ein Vorgang, der rätselhaft bleibt.
Noch weniger weiß man, was im Inneren des jungen Mannes vorgeht, allerdings spricht seine Reaktion auf die Ereignisse insgesamt eine deutliche Sprache.
Der Held auf den Seiten 1919/920 in Nâzıms Biographie heißt Mustafa Kemal. Die Handlung spielt in Anatolien. Der Zeuge in Istanbul, noch von der Handlung getrennt, setzt zum Sprung an, um in die Handlung – in sein Drama – einzugreifen.
II
Auch Mustafa Kemal, der künftige „Atatürk“ (1881–1938), wurde in Saloniki geboren. Sein Ruhm zu jenem Zeitpunkt gründet sich auf eine militärische Glanzleistung. Er war es, der als Befehlshaber der Osmanischen Armee die Besetzung der Dardanellen durch die Alliierten vereitelt hatte. Derzeit hält er sich im Inland auf, um auf Geheiß des Sultans und Weisung der Alliierten die anatolischen Truppen zu demobilisieren. Doch er tut das Gegenteil. Er sammelt und motiviert ein Volksheer. In Westanatolien sind die Griechen eingefallen, um mit nationalistischem Elan den asiatischen Teil des alten Hellas zurückzugewinnen. Mustafa Kemal wird sie bis 1922 dank seiner Leute aus dem Land vertrieben haben, die Weltkriegsgewinnler desgleichen.
Nâzım widmet dem Verehrten nur wenige poetische Zeilen, und zwar zwei Jahrzehnte danach, in seinem „Epos vom Befreiungskrieg“:
Da sah er IHN, fünf sechs Schritte zur Rechten.
Hinter ihm Generäle.
Er fragte: „Wie spät?“
Sie sagten: „Drei.“
Er glich einem blonden Wolf
mit funkelnden blauen Augen.
Er lief zum Abgrund, bückte sich, stand still.
Doch hätten sie ihn gelassen, wie er will,
dann hätte er sich über langen Beinen zur Feder gebogen
und wäre, ein gleitender Komet,
von Kocatepe hinab nach Afyon geflogen.
Nach Kongressen in den Städten Sıvas und Erzurum läßt Mustafa Kemal sich 1920 in Ankara zum Vorsitzenden der Großen Nationalversammlung wählen. Drei Jahre später wird er die Republik ausrufen.
Nâzım in Istanbul ist nicht mehr zu halten. Am 1. Januar 1921 flieht er auf einem Schiff, einem alten Kasten mit Namen Neue Welt, Richtung Schwarzmeerküste.
Vom Hafenstädtchen Inebolu bis Ankara sind 350 Kilometer zurückzulegen, zu Fuß, geradeaus nach Süden. An Nâzıms Seite der Freund Vâlâ Nurettin (1901–1967), genannt Vâ-Nû, ebenfalls Jungdichter. Doch gilt es zunächst, auf die Passiererlaubnis zu warten. Neuankömmlingen wird mißtraut. Während dieser Reiseunterbrechung am Schwarzen Meer geschieht etwas, das den Plan der Ungeduldigen von Grund auf verändert und dessen Ausführung – im nachhinein betrachtet – zur Erledigung des einmal Vorgenommenen degradiert. Die Wartenden begegnen Landsleuten, die zuvor in Berlin mit Spartakisten zusammengetroffen und von deren politischen Zielen enthusiasmiert worden waren. Spartakisten: jene Art Kommunisten, die von der deutschen Sozialdemokratie herkamen und abfielen, als die SPD-Reichstagsfraktion 1914 mit der Billigung des Kriegsetats ihren bedingungslosen Pazifismus aufgab.
Als Nâzım davon erfährt, ist der Spartakusbund bereits in der Kommunistischen Partei aufgegangen. Doch stiftet die Botschaft in seinem Inneren ein Ideal, das ihn künftig über alle Auswüchse der praktischen Umsetzung durch die Sowjetunion hinwegsehen, ja, sie vielmehr, in seiner grenzenlosen utopischen Gewißheit, kaum wahrnehmen läßt. Insofern stiftet sie auch sein künftiges Schicksal.
Vâ-Nû und Nâzım brauchen drei Wochen, bis sie Ankara erreichen und auch dort wieder warten müssen. Fußmarsch wie Aufenthalt setzen sie einem gnadenlosen Pensum der Beobachtung aus. Anatolisches Elend, die urtümliche Schönheit der anatolischen Landschaft und das Leid ihrer ausgemergelten Bewohner erschüttern sie. Nâzım speichert die Eindrücke, sie werden ihm über Jahrzehnte Material zur Beschreibung der Heimat liefern.
Als sie endlich vor Mustafa Kemal stehen, vollzieht sich eine ungewöhnliche Wendung des Dramas. Der Held verliert seine Funktion im Augenblick, da er leibhaftig auftritt. Nicht, daß das Gespräch unfreundlich verliefe. Die tatendurstigen Jünglinge werden nicht an die türkisch-griechische Front am Fluß Sakarya geschickt. Sie sollen in der Kleinstadt Bolu Unterricht geben. Das Volk opfert sich hin, doch um neuzeittüchtig zu werden, muß es alphabetisiert werden!
Enttäuschung? Erleichterung? Aus dem, was Nâzım im „Epos vom Befreiungskrieg“ nachträglich einem seiner Landsleute in den Mund legt, ist auf Frustration zu schließen:
Ich weiß, du würdest mir jetzt
aaaaaaaaaavon der Arbeitsteilung erzählen.
Nur: daß einer in Ankara sitzt
aaaaaaaaaaund Kindern Unterricht gibt,
und der andere setzt
aaaaaaaaaain der Steppe im Feuerhagel
aaaaaaaaaaaaasein Leben aufs Spiel,
ist eine untaugliche, trostlose Teilung von Arbeit.
Die beiden schicken sich drein. In Bolu erwartet sie ihre nächste Lektion. Sie besteht in der Wahrnehmung gewisser Charaktereigenschaften der Anatolier: gutmütig, halsstarrig, ängstlich, rührend, lethargisch – kurz, ungeeignet zur Rebellion aus eigenem Antrieb. Die Geduld der Bildungsbringer wird auf eine harte Probe gestellt. Als sie von diversen Mißständen erfahren, verursacht durch die Verwaltung, dringen sie ins Dienstzimmer des Statthalters vor. Dieser behauptet, er sei Sozialist. Er könne Passierscheine ausstellen…
Am Ende sind kaum acht Monate vergangen, bis die jungen Männer das mit so heißen Erwartungen betretene Anatolien wieder verlassen – Richtung Moskau. Ein unverdächtiger Schritt. Sowjetrußland unterstützt Mustafa Kemals Nationalregierung mit einem Freundschaftsvertrag. Zwar tragen die Passierscheine keineswegs ins gelobte Land, doch können die Freunde sich listig bis Batumi, dem Schwarzmeerhafen wenige Kilometer jenseits der türkischen Grenze, durchschlagen.
Hier, im Büro der kurz zuvor in Baku gegründeten Türkischen Kommunistischen Partei, werden sie willkommen geheißen und augenblicks angestellt. Nâzım versucht sich als Redakteur der Parteizeitung. Laut einer hübschen Überlieferung soll er im Schrank seines Pensionszimmers bergeweise französische Theaterstücke gefunden haben, die er feierabends eins nach dem anderen verschlingt. Jedoch, man wollte nach Moskau und bricht im Frühjahr 1922 dorthin auf, meist wieder zu Fuß, via Kaukasus, Kaspisee und die südrussischen Ebenen, wo eine Hungersnot wütet. Zwischen dem Ende des Zarenreichs und dem erst als Entwurf existierenden sozialistischen Wirtschaftssystem ist die Landbevölkerung einem Vakuum preisgegeben, einem Nichts an Versorgung und Administration. Von allen Reiselektionen ist das, was sich hier abspielt, die härteste. Nâzım versucht, sie in Verse zu fassen, doch sein Handwerk versagt. In Moskau angelangt, probiert er es von neuem. Vor seinem Gesicht erscheint das Schriftbild eines Gedichtes in gestuften Zeilen, das er in Batumi in einer russischen Zeitung entdeckt hatte, ohne es lesen zu können. Solche treppenartigen, nach rechts wie wegtropfenden Zeilen – sie passen zum Fakt, der transportiert werden soll! So kommt es, daß deren nachträglich ermittelter Urheber, der russische Dichter Wladimir Majakowski (1893–1930), zum Geburtshelfer einer poetischen Strömung der Türkei des 20. Jahrhunderts wird. Ehe Nâzım ihm leibhaftig begegnet, schreibt er selbst sein erstes Gedicht in freien Versen, Die „Pupillen der Hungernden“:
Hastende Klumpen
aaaaaaaaaades gesprungenen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaErdreichs!
Einer
aaamit Kugel-
aaaaaabauch,
aaaaaaaaader ihm an
aaaaaaaaaaaadie knochigen
aaaaaaaaaaaaaaaKnie schlägt!
Einer
aaabloß Haut … Haut!
Bloß sein
aaaaaaAuge
aaaaaaaaaschaut!…..
Was erwartet die Freunde in der jungen Hauptstadt Sowjetrußlands? Die Immatrikulation an der neu gegründeten „Kommunistischen Universität der Werktätigen des Orients“, Nâzım als Student, Vâ-Nû als Dozent. Jahre der Teilnahme am avantgardistischen Kulturleben, das von bedeutenden Künstlern getragen wird und weitere anzieht – eine Hochblüte mit einer Frist bis ans Ende der Zwanziger, so lange, bis sie an der Stalinschen Diktatur erfriert. Nâzım trifft Futuristen: neben Majakowski den Lyriker Sergej Alexandrowitsch Jessenin (1895–1925), einen feinnervigen Symbolisten, der die Oktoberrevolution als eine Art mystische Fügung begrüßt hatte, doch früh aus dem Leben scheidet. Ferner zieht ein Kreis funkensprühender Konstruktivisten ihn an. Noch Jahre später wird er sich mit dem launigen Gedicht „Die neue Kunst“ zu ihrem Einfluß bekennen:
Der Motor lief
Tausendein Volt bei tausendundeinem Ampere
Der Ventilator ein tollwütiger Wirbelwind
Riß aus der Verankerung
Durchschlug
Den Dickkopf meines stahlfedernbewehrten Verstands
…
Wir haben in den 4. Gang der neuen Kunst geschaltet
Wir heben schon ab
Unser Gedicht heißt
Konstruktivismus
Der Theatermann Meyerhold (Wsewolod Emiljewitsch Mejerchold, 1874–1940) ist die Person, die den türkischen Tausendsassa am nachhaltigsten in seiner Arbeit befruchtet. Denn Nâzım hat bereits bis zu dieser Zeit nicht nur Gedichte bergeweise, sondern darüber hinaus Romane, Artikel, Theaterstücke verfaßt. Das Theater ist seine große Liebe, eine unglückliche freilich – doch mag sich das Mitleid mit einem Manne in Maßen halten, der im Bereich Schauspiel lediglich „gutes Handwerk“ hinterlassen wird, statt dessen aber sich anschickt, zum orientalischen Lyriker des Jahrhunderts zu werden. Mit und für Meyerhold organisiert er Agitpropdarbietungen, führt Regie, schreibt ihm eine Ballettvorlage und leitet zeitweise eine Studentenbühne. Auch seine ersten beiden tieferen Beziehungen zu Frauen ergeben sich in der Stadt, gleichfalls unter unglückliche Liebe zu verbuchen. Nüzhet wird ihn zugunsten eines solideren Bewerbers verlassen und Lena an der Cholera sterben. Der Nüzhet-Episode verdanken wir die Ballade „Blauäugiger Riese, winzigkleine Frau und Jelängerjelieber“:
…..
Er war ein Riese, Augen blau.
Er liebte eine kleinwinzige Frau.
Eine winzigkleinwinzige Frau.
Sie liebte die Ruhe, die Frau,
aaaaadie Riesenwege des Riesen machten sie matt.
Lebwohl! rief sie, als endlich ein reicher Zwerg
sie am Arm nahm und in das Häuschen mit Garten hineingeführt hat,
aaaaawo gelblichrosa erblühte
aaaaaaaaJelängerjelieber-
aaaaaaaaaaabüsche ihrer harrten…
Auf den Riesen wartet zunächst ein anderer: Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924), schon von der tödlichen Krankheit gezeichnet. Weshalb Nâzım es nur noch dazu bringt, am 21. Januar 1924 für wenige Minuten am Totenbett des Verehrten wachen zu dürfen. Das Erlebnis, ein emotionaler Höhepunkt des Moskauaufenthaltes, scheint ein Bedürfnis nach Besinnung ausgelöst zu haben, verbunden mit Heimweh nach dem Land, das sich seit dem Vorjahr Türkische Republik nennt. Er kehrt zurück. Seine Partei setzt ihn in İzmir als Redakteur bei der linken Zeitung Aydınlık ein. Kurz darauf wird Aydınlık verboten, den Mitarbeitern droht die Festnahme. Das Jahr 1925 sieht Nâzım wieder in Moskau, fast als sei nichts geschehen.
Doch daheim geschieht etwas: Nâzım wird in Abwesenheit verurteilt. Drei weitere Jahre bleibt er fern, hofft auf Amnestie oder Vergessen. Als er 1928 mit dem Schiff die Türkei erreicht, verhaftet man ihn im Grenzort Hopa.
Acht Monate in einer Gefängniszelle am Schwarzen Meer, Nâzım schreibt –
Eine Gaslampe…
An die Wand genagelt…
Das spitze Ende des Nagels hat sich
aaaschief und krumm
aaaaaadurch das Herz eines Heftblattes gebohrt.
Das Blatt schneeweiß,
aaaaadas Blatt giftgelb.
Der Nagel hat des Blattes Blut getrunken.
Die Lampe gibt Licht wie die Sonne
an einem verregneten Morgen,
und das Heftblatt baumelt
aaaaaawie das weiße Hemd
aaaaaaaaaeines Erhängten…
– bis ihn eine Amnestie tatsächlich befreit. Er setzt seinen Heimweg fort, nach Istanbul.
Es folgt eine Strecke gleichsam normalen Lebens. Ein Sechsundzwanzigjähriger geht seinem gewählten Beruf nach. Er wohnt bei seinem Vater, der sich als Kinobetreiber zugegebenermaßen unter dem Niveau seiner früheren Verhältnisse durchschlägt. Der Großvater lebt nicht mehr. Nâzım hat ihn vergessen, verdrängt – ein bei ihm noch häufig zu beobachtender innerer Bewältigungsakt. Er heiratet. Die Braut heißt Pirâye – sie ist durch unzählige Gedichte zur literarischen Gestalt geworden.
Seine erste Gedichtsammlung erscheint: 835 ZEILEN – darin „Die Pupillen der Hungernden“ – in der von Mustafa Kemal soeben eingeführten lateinischen Schrift. (Hatte doch die Darstellung der vokalreichen türkischen Sprache durch die arabische Konsonantenschrift das Schreiben selbst zu einer Denksportaufgabe für Hochprivilegierte verkommen lassen.) Der schmale Band markiert einen Wendepunkt in der türkischen Lyrik des 20. Jahrhunderts. Er begründet den Ruhm des Autors und vermehrt zugleich die Zahl seiner Feinde. In kurzem Abstand folgen die Publikationen von vier weiteren Gedichtsammlungen und zwei Langpoemen sowie die Uraufführungen zweier Theaterstücke.
Seltsamerweise erscheinen vordergründig glückliche Zeitabschnitte in Nâzıms Biographie eher als Einschübe zwischen deren existentiellen, für Werk und Persönlichkeit nachhaltigen Perioden. Das Erfolgsjahrfünft 1928–1932 gleicht einem Intermezzo, allenfalls einem Mast, an dem das Drahtseil einer Gondelbahn, über ein Rad laufend, fixiert wird. Das Jahr 1933 findet den Dichter wieder in Haft. Eingesperrt wegen des Vorwurfs systemkritischer Textpassagen, wartet er in der Strafanstalt von Bursa auf seinen Prozeß.
III
Hier, im Gefängnis Bursa, verbringt der Autor die Mitte seiner Lebensfrist. Bis zur Entlassung 1935 schreibt er seine schon bald darauf beliebteste Dichtung nieder: „Das Epos vom Scheich Bedreddin, Sohn des Richters von Simavne“ – ein Kleinod stilistischer Meisterschaft. Es nimmt auch deshalb einen besonderen Rang ein, weil Schicksal und Werk des Verfassers sich in ihm auf verblüffende Weise verknüpfen.
Fabel des Poems ist eine Erhebung von Anatoliern gegen die osmanische Herrschaft zu Beginn des 15. Jahrhunderts, getragen von zwei gegensätzlichen Persönlichkeiten. Scheich Bedreddin, hochgebildet und von vornehmer Abkunft, hat ein mystisches Weltbild entwickelt, das die Einheit aller Geschöpfe mit dem Schöpfer herausstellt: Gott ist im Herrn wie im Knecht, Würde und Heiligkeit erfüllt jedes geschaffene Wesen und Ding gleichermaßen. Bedreddins Schüler Börklüce Mustafa hingegen, aus dörflichen Verhältnissen stammend, besitzt den Organisationsgeist und die Kondition, ein Volksheer zu sammeln, zu motivieren und ihm voran in die Schlacht zu ziehen. Diese freilich endet mit dem Sieg des kaiserlichen Heeres. Börklüce wird gefangen und gekreuzigt. Während so in der ägäischen Region Westanatoliens der Aufstand bereits gescheitert ist, gelingt es Bedreddin, per Boot nach Thrakien auszuweichen und dort Anhänger um sich zu scharen. Doch wird er von Kaisertreuen verschleppt, zum Tode verurteilt und erhängt. So weit die Ereignisse zur Regierungszeit Mehmet I., des fünften Sultans der Dynastie Osman.
Was macht der Dichter daraus?
Nâzım, als Gefängnisinsasse und Ich-Erzähler, liest eines Nachts eine Darstellung des Geschehens in einer historischen Abhandlung. Plötzlich erscheint hinter dem Fenster eine mönchartige weiße Gestalt. Sie lädt Nâzım zur Reise in die Vergangenheit ein. Gemeinsam folgen sie allen Etappen vom anfänglichen Erfolg bis zum Tod der Protagonisten. Daß die Geschichte sich am nächsten Morgen als Traum entpuppt und Nâzıms Begleiter als das am Fenstergriff aufgehängte Hemd des Bettnachbarn, kann die Dramatik und Aktualität des Erlebten nicht schmälern.
Wie fängt der Dichter das ein? Indem er gleichsam eine Konferenz der Formen und Textgattungen einberuft und jeder ihre Aufgaben zuteilt. Die Prosa hat sich als feuilletonistischer Bericht (des Ich-Erzählers), als altertümlicher Sermon (der gelesenen Abhandlung) und als ruhige Epik („Ahmets Geschichte“) zu positionieren. Der Lyrik obliegt die Beschwörung orientalisch-mittelalterlicher Szenerie durch Wohlklang und Wörterfülle, die karge kurzzeilige Zeichnung realen Elends, der balladeske Vortrag tragischer Episoden und gelegentlich der agitatorische Ton.
Das Ergebnis ist keine Collage, sondern ein Gebilde wohlabgewogener Übergänge. Spätestens hier zeigt sich, daß Nâzım seit Kindestagen eine geradezu umfassende Schule der Poetik durchlaufen hat. Er verfügt über die Mittel, aus Jahrhunderten nomadisch-türkischer und höfisch-osmanischer Dichtung die Quintessenz zu ziehen und sie mit neuen, aus eigenem Antrieb und fremdem Einfluß gefundenen Formen zu durchdringen:
aaaaaaaaaaSieh,
aaaaaaaaaawo wir sind!
Die Erde, einen Schritt zurück noch in Tränen,
fängt zu lachen an wie ein Kind!
Sieh die Feigen – wie Riesensmaragde!
Rebstöcke tragen schwer an bernsteinfarbenen Trauben!
Sieh die Fische, feuchtglänzend Schuppe an Schuppe,
in rohrgeflochtenen Körben wimmeln,
ihr Fleisch wie junges Lamm so weiß
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund weich!
aaaaaaaaaaSieh her,
hier ist der Mensch so reich
aaaaaaaaaawie Erde, Sonne und Meer –
und Meer und Sonne und Erde
aaaaaaaaaaan Segen dem Menschen gleich.
Angesichts eines Geniestreichs wie des „Epos vom Scheich Bedreddin“ erübrigt sich „Betroffenheitsliteratur“ aus der Gefängniszelle. Kein Künstler vom Schlage Nâzıms würde einem gelungenen Werk nicht zwei Jahre Bequemlichkeit opfern.
IV
1935 wird Nâzım entlassen, abermals dank einer Amnestie. Draußen wartet der Erfolg mit einer neuerlichen Theaterpremiere sowie drei Buchpublikationen, darunter der Bedreddin, der 1936 erscheint. Waren rückblickend zwei Jahre Haft auf fünf Jahre eingeschränkter Freiheit gefolgt, so wird sich das Verhältnis jetzt radikal umkehren. Drei Jahre beschatteter Berufstätigkeit gehen dreizehn Jahren Gefangenschaft voraus.
Als Nazim 1937, während des Spanischen Bürgerkrieges, seinen Standpunkt kundtut, indem er ein „Hilfskomitee für das republikanische Spanien“ gründet, wächst bei den Staatsorganen das Mißtrauen. Den Anlaß einzugreifen liefert letztlich ein Gedicht. Nâzım publiziert es am 25. Dezember 1937 in der Zeitung Haber akşam postası (Abendnachrichten). Es wendet sich – nach Nâzıms Art der persönlichen Empathie – an einen unbekannten spanischen Wachposten:
…..
Es ist dunkel und schneit,
du stehst vor Madrid. Gegenüber
ein Heer, das austilgt, was uns das Teuerste ist:
aaaaaHoffnung, Träume, Freiheit
aaaaaaaaaaund Kinder.
…..
Zwischen uns Meere, Berge,
meine fatale Machtlosigkeit
und das ,Komitee für Nichteinmischung‘.
Ich kann dir weder zu Hilfe kommen
aaanoch eine Schachtel Patronen,
aaaaaaeinen Karton frische Eier
aaaaaaaaaoder ein Paar Wollsocken schicken.
Doch weiß ich,
daß deine nassen, in Kälte und Schnee
vor Madrid ausharrenden Füße
frieren wie zwei nackte Kinder.
Ich weiß:
Alles, was groß und schön ist,
alles Große und Schöne, was der Mensch
aaaaaaaaaaaanoch schaffen wird,
diese gewaltige Sehnsucht, die Not meiner Seele
leuchtet in den schönen Augen
aaades Wachpostens vor Madrid.
Und ich kann nicht anders, als gestern, morgen
und heute abend ihn lieben.
Am 17. Januar 1938 wird Nâzım wegen aufrührerischer Umtriebe festgenommen. Er muß sich vor dem Marine- und dem Kriegsgericht verantworten. Das Urteil lautet achtundzwanzig Jahre Haft.
Im selben Jahr, am 10. November, stirbt einer der größten Bewunderer nicht der Person, aber der Dichtung Nâzım Hikmets, Mustafa Kemal Atatürk, nach längerem Krankenlager. Nâzıms Gnadengesuch an den Staatspräsidenten hat diesen zu spät erreicht und bleibt ohne Antwort. Was sich für den Dichter und Menschen als tragische Fügung darstellt, zieht die Produktion poetischer Werke von Weltrang nach sich. Denn der Neuerfinder des großen sangbaren Epos bringt dieses in gewaltigen Schüben unter wechselnden Titeln allein in Gefangenschaft zu Papier. Das kann nicht mit der Ruhe einer zur Kontemplation zwingenden, kargen Einzelzelle erklärt werden – einem vom streßgeplagten Neuzeitgenossen fast schon verklärten Topos. Es gibt weder Ruhe noch Einzelzelle. Der Häftling teilt den engen Schlafraum mit anderen, er ist gezwungen, Geld zu verdienen, um sich den bescheidensten Lebensstandard zu sichern, einschließlich Heizmaterial und Schreibpapier. Er hat Publikationsverbot. Unter Pseudonym setzt er den einen oder anderen Text ab. Er malt und gibt Schreibunterricht. Am Ende wird er noch weben, und zwar meisterlich feine, gefragte Seidenstoffe. Nach Jahren erhält er ferner ein schon verloren geglaubtes Honorar vom Opernhaus Ankara: Die Sängerin der Tosca besteht auf der von Nâzım noch vor seiner Festnahme gefertigten Übersetzung des Librettos.
Die Haftbedingungen bessern sich nach und nach. Zunächst in Isolier- und Dunkelhaft gehalten, wird der Verurteilte im Spätsommer 1939 aus dem Istanbuler Untersuchungsgefängnis in die Festung Çankırı nördlich von Ankara verlegt, und schließlich, da er dort erkrankt, nach Bursa. Bedreddin-Bursa! Hier, am Entstehungsort seiner Epen, begibt er sich sogleich an das zweite: „Das Epos vom Befreiungskrieg“. Es handelt von der Vertreibung der Griechen aus Anatolien vor Ausrufung der Republik. Nâzım kann darin auf die Beobachtungen und Schockerlebnisse seines eigenen ersten Anatolienjahres zurückgreifen. Als drittes folgen „Menschenlandschaften“ in fünf Büchern. Das riesige Opus – zu Nâzıms Lebzeiten ungedruckt – umfaßt vermutlich etwa ein Viertel des tatsächlich zu Papier gebrachten Textes, der portionsweise aus der Anstalt geschmuggelt werden muß und entweder irgendwo ankommt oder auch nicht.
Weit draußen ereignet sich unterdessen der Zweite Weltkrieg. Die Türkei bleibt neutral und unterzeichnet erst am 23. Februar 1945 eine Kriegserklärung an Deutschland und Japan. Nâzım hört Radio, liest Zeitung, soweit verfügbar. Er findet Freunde, schreibt an Pirâye und die Mutter, doch der schreckliche Puls der Zeit schlägt weit entfernt. Oder regt er Nâzım dazu an, jetzt gerade Krieg und Frieden von Lew Tolstoi zu übersetzen? Zwei neue Theaterstücke entstehen sowie fortlaufend Gedichte. Darunter die duftigsten Liebesverse an Pirâye, die doch die Beziehung nicht retten können. 1948 besucht ihn Mutter Celile und bringt seine entfernte Cousine Münevver mit, eine literarisch gebildete, verheiratete Frau. Nâzım verliebt sich in sie. Es geht ihm nicht gut. Die in Çankırı eingefangene Lungenkrankheit bricht wieder auf, zudem „Angina pectoris“:
…..
Alsdann, wenn unsere Gefangenen hier in Schlaf fallen
aaaaaaaaaaaaaaaund ausschwärmen aus dem Revier,
aaaaafindet mein Herz sich in einer verfallenen Villa
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaÇamlıcas wieder,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaajede Nacht, Doktor.
Nach alledem, seit zehn Jahren, bis heute
halte ich, um mein armes Volk zu bewirten,
aaaaaeinen einzigen Apfel in Händen, Doktor,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaeinen roten Apfel:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaamein Herz…
Das allein, Doktorchen,
nicht Arteriosklerose, Nikotin, nicht der Bau,
macht mir Angina pectoris…
Eine Generalamnestie wird erlassen, sie gilt nicht für die „Politischen“. Die Mutter wirbt auf Istanbuls Straßen um Solidarität mit dem Sohn, bis die Polizei eingreift. Türkische und französische Zeitungen berichten von Nâzıms Erkrankung. 1950 tritt Nâzım in Hungerstreik. Er läßt sich zum Abbruch überreden, nichts geschieht, er hungert erneut. Inzwischen ist eine internationale Kampagne zu seiner Befreiung in Gang gekommen. Die Petition an den türkischen Staatspräsidenten wird von Brecht, Aragon, Sartre, Laxness, Picasso und anderen unterzeichnet. Ein Regierungswechsel in Ankara zieht eine Amnestie nach sich, dank jener Kampagne auch für Nâzım sowie den Autor Kemal Tahir.
Der Freund aus Anatolien- und Moskau-Tagen, Vâ-Nû, wird später in seinem Buch Bu dünyadan Nâzım gecti (An dieser Welt kam Nâzım vorüber) beschreiben, wie sie in einer der ersten Nächte an Spitzelposten vorbei zum Bosporus schleichen. Nâzım will seine Hände ins Meerwasser tauchen. Der Leser erinnere sich:
Bedreddin beugt sich zum Wasser,
aaaaaschöpft eine Handvoll, richtet sich auf,
läßt die Tropfen durch die Finger
zurück in den See rinnen und spricht
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaazu sich selbst:
„Dieses Feuer,
das in meinem Herzen entbrannt ist,
das heftiger flammt mit jedem Tag…“
Ein neuer Abschnitt beginnt, ein Kind kommt zur Welt, und der erzwungene Abschied von seinem Land wird Nâzım im Eilschritt über Kontinente hinweg allein näher zu sich selbst führen.
V
Erneut ein Istanbul-Intermezzo, und wieder ein kurzes. Es genügt, um Sohn Mehmet zu zeugen und sich an seiner Geburt zu erfreuen. Nâzım lebt mit Münevver. Das Haus wird Tag und Nacht bewacht. Eine andere Art Eingesperrtsein. Scheidung von Pirâye. Den herzkranken Neunundvierzigjährigen erreicht ein Einstellungsbefehl zum Militär: eine andere Art Todesurteil. Mit viel List wird die Flucht arrangiert. In den Nachtstunden des 17. Juni 1951 verläßt Nâzım die Stadt per Schiff, wieder von Üsküdar aus Richtung Schwarzmeer wie dreißig Jahre zuvor, doch diesmal mit dem Ziel thrakische Küste – wie Bedreddin.
„Ach, Bedreddin,
aaaaaüber den schläfrigen Segelspitzen
aaaaaaaaaasehen wir nichts als Sterne.
aaaaaKein Flüstern durchläuft die Luft,
aaaaakein Laut dringt aus dem Meer
aaaaaaaaaazu uns herauf
aaaaaNur dunkles stummes Wasser,
aaaaanur sein Schlaf.“
Der kleine Greis mit langem weißem Bart
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaalacht auf
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund sagt:
aaaaa„Du kümmre dich nicht
aaaaaaaaum die Stille der Luft.
aaaaaaaaDas Weltmeer,
aaaaaaaaaaaaaes schläft und schläft – und erwacht!“
Nun, die Segelspitzen fehlen unterdessen, ausgangs des Bosporus am offenen Meer wartet ein Fischer mit seinem Motorboot auf den Flüchtling.
Der russische Autor Rady Fish erzählt die glückliche Rettung des Dichters auf drastische Weise. Das winzige Boot habe sich durch hohen Wellengang kämpfen müssen, es drohte zu kentern. Da sei am Horizont ein Frachter aufgetaucht. Beim Näherkommen lasen die Bootsinsassen auf einem riesigen Spruchband die Parole „Rettet den türkischen Dichter Nâzım Hikmet!“ Derselbe und sein Fischer fuchtelten und schrien, ohne daß jemand vom Frachter ihre Nußschale wahrnahm. Erst im letzten Moment… Willkommensseligkeit.
Nâzım gelangt in der Dobrudscha an Land; nahe der bulgarisch-rumänischen Grenze. Von Bukarest aus fliegt er nach Moskau. Alte Freunde und neue Funktionäre empfangen ihn wie einen Heros. Die große Sowjetunion gießt das Füllhorn der Gastfreundschaft über den Ankömmling aus: Nobelquartier, Karosse mit Fahrer, Apanage.
Zur Ruhe kommen, ausspannen, genießen, genesen – all das geschieht nicht. Der Vorzeigedichter nimmt die Bequemlichkeit an, dem Luxus entwindet er sich. Vor allem aber wird er vorgezeigt: auf Konferenzen, Weltfestspielen, Friedenskongressen, schlichten Genossentreffs. Man schmückt ihn mit Friedenspreisen. Er umrundet die Welt vergnügt wie ein Kind, zwischendurch krank, gesundgepflegt und wieder auf Trab.
In den nächsten zwölf Jahren bereist er Polen, Ungarn, China, Georgien, Schweden, die Tschechoslowakei, Schweden, Aserbaidschan, Bulgarien, Frankreich, die Schweiz, Österreich, Italien, Estland, Turkmenien, Usbekistan, Kuba, Ägypten und noch im letzten Lebenshalbjahr Tanganika (Tansanien). Europa, Asien, Afrika besuchte ich mit meinem Traum / nur die Amerikaner gaben mir kein Visum… Die Liste ist unvollständig, sie nennt nur die unter Ort und Datum von Reisegedichten angegebenen Länder. Nicht zu vergessen die DDR, wo allein sechs seiner Theaterstücke erstaufgeführt werden. Hier hat es ihm neben Ostberlin namentlich Leipzig angetan. Neben Metropolen wie Rom, Wien, Paris stehen Franzensbad, Jesenik, Varna, Pizunda im Logbuch – Kurorte zur raschen Regeneration. Allerdings zieht es ihn immer häufiger und heftiger nach Moskau zurück. Er hat sich verliebt. „Zwei Stunden, und ich bin auf dem Flughafen / Fünf Stunden, und ich bin in deiner Bläue…“ Vera, die Ärztin, die er im Text und im Leben „gülüm“ (meine Rose) nennt, ist seine letzte tiefe Leidenschaft. Er wird sie 1959 heiraten.
Kein Epos mehr, doch Lyrik entsteht in stetem Fluß, ob an Bord von Schiffen, Zügen, Flugzeugen, ob im Hotelzimmer, von der nachdenklichen Miniatur bis zur ausufernden Reportage in Versen, vom ideologischen Bläßling bis zum Glücksfund, der unerachtet des Zeitalters das Genie vom Talent abhebt. Die reifsten Liebesgedichte, die farbigsten Landschaftsskizzen entspringen der Hektik von Nâzıms Exiljahren nicht minder als dem Frieden, den er mit seinem Schicksal gemacht hat. Ein im Sterbejahr notiertes Fragment sieht die Erde, sein liebstes Vaterland, in kosmischer Dimension:
Chor:
aaaWir sind die Welt,
aaaein Stern unter Sternen,
aaaein Tropfen sind wir, wir sind, was fließt
aaaund sich wandelt ohne Anfang und Ende.
aaaUnd ihr seid zwei Tropfen von uns,
aaain uns beginnt ihr, in uns vollendet ihr euch.
Vera wird anwesend sein, wenn Nâzım am 3. Juni 1963 in der Moskauer Wohnung plötzlich und klaglos stirbt. Man begräbt ihn auf dem Friedhof Nowodewitschi. Auf dem wuchtigen Grabstein mit roh belassenen Kanten das Relief eines Mannes, der wie gegen Widerstand, den Kopf voraus, einen Schritt macht. Darüber der Schriftzug „Nâzım“.
Nâzım Zeitgenosse
Vorausgesetzt, Bürger des vergleichsweise nüchternen Abendlandes und neuen Jahrtausends haben die Poesie noch nicht aus ihrem Leben getilgt, was können sie aus der Lektüre von Nâzıms Versen gewinnen? Zunächst einmal gute Beispiele. Das Beispiel des lauteren Ideals, das über ein politisches Nahziel hinausreicht. Das des globalen Mitleids, welches den Berichterstatter auf Flügeln der Empathie selbst in Regionen entführt, die sein Körper nie zu sehen bekommt: Spanien, Äthiopien, Korea… Das Spiel mit der Sprache als vollsinnlichem, unerschöpflichem Ausdruck des menschlichen Innern, entgegen Krampf, Zwang und sklerotischem Weltbild. Das Beispiel von Hingabe versus Zeigefinger, erhobenen, drohenden, belehrenden Zeigefinger, Finger, der die Tasten des Computers niederdrückt, um sich ein Stück Wirklichkeit heranzuzoomen, in Herzhöhe, ohne Liebe. Moralische, fast altmodisch anmutende Tugenden. Was weiter?
Am Strom von Nâzıms poetischer Sprache kann einer atmen lernen. Sie bildet Bögen, Brisen, Wellen mit Umkehrpunkten und Zwischenräumen. Der Sprech- oder Leseakt – falls jemand Rhythmus zu goutieren weiß – aktiviert und beruhigt in wohltuendem Wechsel. Die Zweitsprache paßt sich dem an. Der Vorgang gleicht einer dynamischen Flugbewegung, man meint, wie ein Raubvogel zu kreisen. Doch nicht im Irgendwo, denn auch das Vogelauge tut seinen Dienst, indem es am Boden die kleinsten Details registriert. So scheint sich Nahaufnahme an Nahaufnahme zu reihen und ergibt doch das Luftbild eines ganzen Erdstrichs.
Zu abgehoben, zu sonor? Bitte. Man blättere weiter und finde die kleine Form, den Stoßseufzer, Denkspruch, Traumfetzen, Wehmutstropfen, die grimmige oder zärtliche Notiz. Eine Lakonik von zyklischer Aktualität, wie sie vor der Mitte des letzten Jahrhunderts Brechts Schreibweise bestimmte (in der Türkei diejenige von Orhan Veli Kanık, 1914–1950) und zum Kanon des Realismus gehört.
Mag sein, daß dieser wieder einmal ad acta gelegt wird. In der Türkei folgten auf Orhan Velis Askeseprogramm die „Zweiten Neuen“ mit Wörterschwall und ausgelassener Imagination – der gestaute Fluß trat über die Ufer. Sollte das Aquarellieren vor dem Zeichnen, der Schwung vor dem Schnitt erneut auch in unseren Breiten die Oberhand gewinnen, könnte Nâzım selbst darin mithalten und seine im Laufe des Lebens ins Kosmische und Geistige erweiterte Wahrnehmung des Erdinventars in die Waagschale werfen. Wer möchte, findet Textstücke, in denen das Materieverständnis des New Age vorausgenommen scheint – abzüglich des Rauschfaktors aus dessen Blumenkindertagen. Besonders auf Seereisen, in Anverwandlung des Meeres, zerrinnt die Grenze zwischen den Sphären: „Man muß Meer sein, mein Sohn, / mit seinen Wolken, Schiffen, Fischen und Algen“ – Indessen wird hierin wiederum nichts anderes als das Geheimnis der Großen Einheit besungen: Bedreddins Credo, das Erbe der Mystiker.
Im Nachwort zum Bedreddin-Epos bekennt Nâzım:
Ich… wollte Bedreddins Verständnis der Materie mit dem Spinozas vergleichen. Das ging daneben…
In der Tat ist Nâzım kein Theoretiker, dem es läge, Baruch Spinozas Lehre von der all-einen Substanz im Universum und folglich der Identität von Gott und Natur mit Bedreddins Ansichten in Beziehung zu setzen. Mag sein, daß er durch Lektüre auf die Gedankenspur Spinoza – Ludwig Feuerbach – Karl Marx aufmerksam wurde. Glücklicherweise dürfte ihn das unter türkischen Marxisten kursierende Gerücht, Bedreddin sei „Frühmaterialist“ gewesen, nicht erreicht oder nicht überzeugt haben. Wer derlei nachbetet, hat Bedreddin nicht gelesen. Auch Nâzım kannte Bedreddins – arabisch verfaßte – Schriften nicht im Original. Sein Beitrag zum Thema war das Poem, seine Art Quellenstudium ein existentieller Spürsinn für die Mission eines Geistesverwandten. Andererseits: Könnte das, was Nâzım im Nachwort zum „Bedreddin“ anmahnt, in Anbetracht aktueller Versöhnungsversuche zwischen den Religionen nicht nachgeholt werden: eine breite, über den akademischen Tellerrand hinausreichende Untersuchung west-östlicher Gemeinsamkeiten im Erkenntnisprozeß? Möge am Ende die Einsicht stehen, daß wir alle aus einem Stoff sind und die Namen unserer Götter allenfalls verschiedene Vokabeln? Genuß und Verpflichtung – Nâzım Hikmet lesen heißt, sowohl das ästhetische als auch das ethische Ausmaß seiner Schöpfungen neu ins Licht zu rücken.
Zur Auswahl
Die meisten seiner Texte hat Nâzım nie gedruckt gesehen. Das Publikationsverbot bestand von 1936 bis 1965. Danach erschienen in der Türkei diverse Einzelausgaben, auch Neuauflagen, in rascher Folge. Die erste türkischsprachige Gesamtausgabe kam zwischen 1967 und 1972 in Bulgarien heraus, von Nâzıms Freund, dem Verleger Ekber Babajev, in acht Bänden ediert. Sowohl diese wie auch die anschließend in der Türkei von Asım Bezirci begonnene Werkausgabe mußten noch lückenhaft bleiben, da in Moskau lagernde Texte und Materialien lange nicht zugänglich waren. In Westeuropa hat vornehmlich Frankreich sich um die Übersetzung von Nâzıms Werken verdient gemacht, nicht zuletzt durch den Einsatz der in Paris lebenden Münevver und Sohn Mehmet. Deutschland zog nach: die DDR auf Grund der häufigen Anwesenheit Nâzıms im Land, die BRD – zeitversetzt – in Rücksicht auf ihre wachsende türkische Minderheit. Auch türkische Immigranten übersetzten Nâzım ins Deutsche.
Grundlage der vorliegenden Auswahl ist die 2007 in Istanbul erschienene Edition Nâzım Hikmet, „Bütün Şiirleri“ (Sämtliche Dichtungen): ein gewichtiger Band von 2080 Seiten Umfang. Er enthält die Gedichte und lyrischen Epen. Die Schwierigkeit des Unterfangens, aus einer solchen Textfülle eine Auswahl zu treffen, muß nicht betont werden. Auch nicht die Subjektivität des Ergebnisses.
Im Vordergrund stand das Anliegen, das Phänomen Nâzım Hikmet abseits der anekdotischen Überlieferung allein im Werk aufzuspüren: eine Metabiographie im Medium seiner Lyrik. Dazu gehört über die chronologische Anordnung der Texte hinaus die Gliederung ihrer Inhalte. Kein Thema, dem Nâzım sich verschrieb, sollte ausgespart, keins strapaziert werden. Solcherart Gerechtigkeit gebührt gleichermaßen den Schaffensperioden. Nâzıms Handschrift fasziniert von den Anfängen bis zur Reife, und selbst gelegentliche Phasen von Einseitigkeit oder Monotonie gehören ins Bild.
Bei einer so riesigen Anzahl von Texten schwankt der poetische „Dichtegrad“, was nicht verwundert. Die Aufgabe, zwischen stark und schwach zu unterscheiden, mit Hilfe von Werkkenntnis und eigener Arbeitserfahrung, scheint dennoch ungleich leichter zu lösen als die, zwischen stark und stark auszuwählen. Da finden sich Gedichte, die zu Nâzıms Lebzeiten Leser ins Herz trafen und in unserer Zeit, dazu in unserem Landstrich, blaß aussehen. Andere dagegen lagen wie Keime unter Buchseiten verborgen und entfalten erst heute dank veränderter Konnotationen ihre Botschaft.
Es wird Leser geben, die ihren alten Nâzım nicht wiederfinden und „Hits“ vermissen. Wir haben den Dichter über den Kommunisten gestellt, auch deshalb, weil ihm allzulang das Gegenteil angetan und damit der Wert seines Werkes geschmälert wurde. Das vorliegende Buch wendet sich nicht an die Linke des vorigen Jahrhunderts, sondern an Jetztmenschen. Sie können Nâzıms Kommunismus womöglich auf eigene Weise, als Ideal der Geschwisterlichkeit mit allen Geschöpfen, noch in den intimsten und traumverlorensten seiner Verse wiederentdecken.
Zur Nachdichtung
Es hat sich herumgesprochen: Das Türkische ist keine indoeuropäische Sprache. Es unterscheidet sich vom Deutschen nicht nur durch Vokabeln, sondern bereits durch das Denken VOR dem Sprechen. Ein türkischer Satz, wörtlich ins Deutsche übersetzt, ergibt Nonsens. Daraus folgt, daß der deutsche Satz, will er ausdrücken, was im türkischen steht, neu gebaut werden muß. Nicht selten wird er dabei um etliches umfangreicher. Das Türkische gehört zu den agglutinierenden Sprachen, das heißt, es fügt Silben aneinander, für die wir im Deutschen jeweils ganze Wörter oder ganze Nebensätze brauchen. Im Gedicht kann das die Verszeile derart verlängern, daß sie, um nicht rechts über den Papierrand hinauszulaufen, neu gebrochen wird, daß folglich in der Nachdichtung mehr Zeilen dastehen als im Original.
Auch die grammatischen Zeiten entsprechen nicht immer einander, weder streng nach Regel noch in den freien Varianten der Umgangssprache. Gelegentlich verlangt eine türkische Vergangenheitsform nach dem deutschen Präsens. So ließen sich zahlreiche weitere Textvorkommnisse auflisten, denen eine schulmäßige Übernahme schlecht bekommen und literarisch den Garaus machen würde.
Beim Übersetzen eines Sachtextes mag Schulmäßigkeit angebracht sein. Penibilität gilt als akademische Pflicht, und auf Sprachschönheit kommt es nicht an. Doch in der literarischen Prosa kann das Dilemma bereits bei der Unzahl von Relativsätzen beginnen, vom treuen Übersetzer aus Einzelwortformen gebastelt, welche im Original flüssig dahingleiten:
yazdiğim mektup =
schreibenhabenmein Brief =
der Brief, den ich geschrieben habe
Auf diese Weise wird der Sprachfluß gestaut, die Lektüre eines Romans gerät zur Strapaze. Hier sollte der Übersetzer sich etwas ausdenken, zum Beispiel etwas weglassen, wenn der Zusammenhang klar ist. Orientalischer Stil kettelt und schlingt den Erzählfaden, immer geschmeidig. Literarische Übersetzer leben vom Tauschhandel zwischen Sprachkunstwerken. Die eigene Sprache ist keine Tragetasche, sondern der Gegenwert.
Beim Gedicht droht nachgerade Gefahr, es ganz zu zerstören. Lyrik „original“ übermitteln hieße, sie des Merkmals Poesie zu berauben. Weder Duft und Schmelz noch Biß und Prägnanz überleben den philologischen Akt. Die einzige Chance, ein Gedicht zu retten, besteht darin, es neu zu schreiben. Das aber gelingt einzig dann, wenn ich zuvor seine Aussage, seine Tonlage, seinen Gestus erfasse, einschließlich der seiner Entstehung vorausgehenden Gemütsbewegung des Autors. Es kann auch mißlingen.
Freilich gelten Grundregeln, die unsereins bei Strafe (der Verfälschung des Textes) einzuhalten hat. Fakten sind Fakten, Symbole ebenfalls unantastbar, Farben und Zahlen inklusive. Auch Bildmetaphern gehören zum unveräußerlichen, metasprachlichen Bestand eines Gedichts. Der Ausrufesatz „Dies Herz ist keine Birne, die vom Stiel bricht“ (im Bedreddin-Epos) mag im Deutschen seltsam klingen, bleibt aber tabu. Schlaubergermentalität hat beim Nachdichten nichts zu suchen.
Im übrigen ist „nachdichten“ das Verb, das den Transport des Gedichts aus der (strukturfremden) Erst- in die Zweitsprache treffend benennt. Vom Übersetzen kann höchstens in des Wortes Urbedeutung die Rede sein: ein schwanker Kahn, eine teure Last, Fährmann oder -frau, die sie über den Fluß setzen.
Irrtümer, Fehler sind so leidig wie unausrottbar. Auch der Ratschlag: Frag doch deine türkischen Freunde! hilft nicht immer weiter. Schleichender Sprachverfall, Verarmung des Wortschatzes und ein Nachlassen grammatischer Eleganz haben in den jüngst vergangenen Zeiten – trotz unterschiedlicher Voraussetzungen – Deutsche wie Türken befallen. An nicht wenigen Stellen rätselten wir gemeinsam.
Ein Grundthema des Wettstreits zwischen zwei Sprachen heißt „Gewinn und Verlust“. Was ein Dichter mit extremem Feingefühl bis ins letzte Schrift- oder Leerzeichen aufgebaut hat, geht auf dem Umzug in die Zweitsprache notwendigerweise zu Bruch. Namentlich die Finessen des Türkischen: Binnenreime, Vokalharmonie… Der Schmerz darüber trifft alle Beteiligten. Aber siehe, im neuen Quartier finden sich Kostbarkeiten, die den kahlen Stellen unerwarteten Reiz verleihen. Griffige Verben, üppige Adjektive… Sag mir ins Ohr, Meister, welches ich nehmen soll… Die Angelegenheit ist ernst, und sie glückt nur, solange ich spiele. Zeilen wollen eingehängt, nicht festgenagelt sein wie das vom spitzen Ende des Nagels durchbohrte „Herz eines Heftblattes“ an der Wand der Gefängniszelle in Hopa. Nâzıms Leichtigkeit eines Luftgeistes läßt sich im Deutschen unschwer nachzeichnen. Das Rauhe, das Bittere entgeht der Penetranz und behält seine Flügel. Allein die unendlichen Wiederholungen – pardon, falls solche gelegentlich ein wenig gerafft daherkommen, abendländischer Ungeduld zuliebe!
Epilog
Die Fährfrau hat ihre Bootslast noch nicht ausgeladen. Ihr hängen Fragen an deren Eigner im Kopf. Vielleicht der Entwurf eines Briefes. „Lieber Nâzım“, würde sie schreiben, „etwas verstehe ich nicht. Du hast kähneweise Gedichte verfaßt. Hast mitgelitten mit Völkern am Rand der Welt. Warum nicht mit den Kurden? Den Armeniern? Sind sie nicht Anatolier, Bewohner deiner Heimat – sind sie dir darum zu nahe? Oder warst du – Kommunismus beiseite – ein Kemalist?“ Kurdisch gibt’s nicht, meint Mustafa Kemal, meinen die Kemalisten. Kurdisch, die iranische Sprache, der deutschen verwandt, nichts als ein Hirngespinst. Kurden sind Türken, Bergtürken, ein bißchen verludert. Man muß ihnen auf die Sprünge helfen. Und weiter:
Die Armenier sind traurig, daß du sie vergessen hast. Sie lieben dich, aber um sich vor dir bemerkbar zu machen, darf ein Armenier nicht am Ararat wohnen. Er muß Sowjetbürger sein.
Hunderttausende zum Krepieren in die Wüste gejagt. Von Atatürks Leuten verleugnet, aus der Geschichte gestrichen, bis ins zweite Jahrtausend. Es lebe der Nationalstaat. Egal, ob er auf Blut schwimmt.
Das wolltest du nicht. Wußtest du es auch nicht?
Oder, während sie die tropfnassen Ruder einzieht:
Rußland. Du beschreibst seine Hungersnot. Das geht in Ordnung. Aber – Stalin? Was hast du mitbekommen? Bist du zu gut? Warst du zu müde?
Die Fährfrau hat nichts zu sagen. Aber nach einer Weile sagt sie: Wenn du wiederkommst, Nâzım, mach weiter, wo du aufgehört hast. Unsinn, schilt sie sich selbst. Der Mann hat die Schätze geschaffen, die ich hier säuberlich auf den Kai lege. Er will schlafen. Nichts da, er schläft nicht. Er antwortet mir, so leise, ein Windhauch in meinem Kopf:
aaaaaMadame – –
aaaaasicherlich war ich zu nah.
aaaaaWie wenn man ein beschriebenes Blatt
aaaaadicht vor das Auge hält:
aaaaaMan kann nichts entziffern.
(Knistergeräusche.)
aaaaaKemalist bin ich nicht,
aaaaadoch verstehe ich ihn,
aaaaaMustafa Kemal.
aaaaaGegen den Batzen Osmanisches Reich
aaaaawar Anatolien ein Krümel.
aaaaaNichts, aber nichts, durfte mehr abbrechen.
aaaaaÜbrigens haben wir hier darüber gesprochen,
(ein Pfeifton,)
aaaaamehr oder weniger durcheinander,
aaaaaman trifft sich – –
aaaaawir haben Pläne.
Ich will es weitersagen, sagt sie und zupft an einem Papier, das seitlich aus einem Packen heraussteht wie „die abgegriffenen Ränder der vergilbten Textseiten“ jener Bedreddin-Chronik auf dem anderen Stapel.
…..
Diese Welt, dies Korsarenschiff, geht unter,
aaawie wenn Stein zerbirst, geht es unter,
und wir gründen ein Weltall, so hoffnungshell
aaawie deine Stirn, so frei und heiter, Pirâye mein…
„Ich bin dabei,“ sagt sie und springt hastig an Land.
Gisela Kraft, Nachwort, April 2008
Editorische Notiz
Ein türkischer Text, ins Deutsche übersetzt oder nachgedichtet, wird länger, er braucht mehr Wörter und darum oft mehr Zeilen. Der Grund liegt in der strukturellen Verschiedenheit beider Sprachen. Auch die grammatischen Formen entsprechen nicht immer einander. Der Einfluß der Alltagssprache – im Türkischen wie im Deutschen – hat einen eigenen Umgang vor allem mit Einzahl und Mehrzahl, mit Gegenwart und Vergangenheit hervorgebracht. Die Tradition bildete Redewendungen aus, die, Wort für Wort gedolmetscht, zerstört würden. Verläßlich gemeinsam dagegen bleibt der poetische Anteil des Textes: Bilder, Metaphern sowie das, was „zwischen den Zeilen“ steht. (Vgl. hierzu den Abschnitt „Zur Nachdichtung“ im Nachwort.)
Grundlage der Nachdichtungen ist die türkische Gesamtausgabe Nâzım Hikmet, Bütün Şiirleri, Yapı Kredi Yayınleri, Istanbul 2007. Die Datierungsweisen der türkischsprachigen Originaltexte folgen dieser Ausgabe. Das Gedicht „Der Mann mit der Nelke“ wurde hingegen in einer älteren, kürzeren Fassung übernommen. Der von Nâzım Hikmet seinem Epos vom Scheich Bedreddin später hinzugefügte „Anhang“ (Zeyl) wurde mit Ausnahme des Schlusses nicht berücksichtigt. Der Schluß, „Nâzıms Nachwort“, findet sich nun am Ende des eigentlichen Epos. Dieses erschien (ohne „Nachwort“) bereits in der Ausgabe Nâzım Hikmet, Bleib dran Löwe, Epische Dichtungen, Rütten & Loening Verlag, Ostberlin 1984. Es wurde für die vorliegende Ausgabe neu überarbeitet. Das gleiche gilt für drei Gedichte aus dem „Epos vom Befreiungskrieg“.
ist ein Meilenstein der modernen türkischen Literatur. Schon zu seinen Lebzeiten galt er als Star-Poet, dessen Texte zu Liedern, Parolen und geflügelten Worten wurden. Seine Gedichte sind zugleich Erlebnis und Dokumentation des 20. Jahrhunderts. Die Neuübersetzung von Gisela Kraft erschließt endlich auch die existentielle Dimension dieses außergewöhnlichen Lyrikers. Ihre Auswahl ist eine Reise zu den Lebensstationen Hikmets: vom zarten Debüt des Elfjährigen aus Istanbul bis hin zur ironischen Skepsis im Moskauer Exil. Sie vollzieht seinen künstlerischen Werdegang nach und zeigt den Dichter in allen seinen Wandlungen: als Liebenden und Freund, als Kämpfer und Agitator, als Romantiker und avantgardistischen Sprachspieler. Hikmets Ton ist mal zweifelnd, verzweifelnd, mal maßlos mutig, mal lakonisch komisch – aber immer voll poetischer Intensität.
Ammann Verlag, Klappentext, 2008
– Die Gedichte des türkischen Lyrikers Nâzım Hikmet sind in Vergessenheit geraten, zu Unrecht, denn Hikmet zählt zu den größten Dichtern des Zwanzigsten Jahrhunderts. Nun lädt eine neue Ausgabe ein, die Gedichte des Künstlers wiederzuentdecken: Die Namen der Sehnsucht. –
Wer unter den jüngeren, nicht-türkischen Literaturfreunden kennt heute noch Gedichte von Nâzım Hikmet, ein einziges nur? Es dürfte nicht viele große Dichter geben, die auf internationalem Parkett so hoch gestiegen und dann so rasch verdrängt worden sind wie Nâzım; so, einfach beim Vornamen, nennen ihn seine Anhänger.
Beides, sein internationaler Ruhm aufgrund der Vereinnahmung durch die Kommunisten, ebenso wie die spätere Geringschätzung sind ungerechtfertigt. Nâzım Hikmet ist ein großer Dichter, aber er ist eben auch ein Sozialist. Diese aussterbende Spezies von Dichtern erweist sich in Zeiten, wo sich die Lyrik auf feinsinnige Sprachspielereien beschränkt, als überraschend lebendig, ja teils überwältigend.
Vielleicht liegt es daran, dass 1902 geborene Nâzım Hikmet alles andere als ein poetischer Schreibtischtäter war. Er hat seine Zeit und seine politischen Überzeugungen gelebt wie nur wenige Autoren seiner Größe. „Ich habe im Kittchen geschlafen und in großen Hotels / mit dreißig sollte ich gehängt werden / mit achtundvierzig die Friedensmedaille verliehen bekommen und bekam sie verliehen“, heißt es in dem Gedicht „Lebenslauf“. Sechzehn Jahre seines 62-jährigen Lebens verbrachte er im Gefängnis, zwanzig Jahre im Ausland, davon mindestens dreizehn unfreiwillig, als Exilant in Osteuropa. Seit er 1921, im Alter von neunzehn, zum Studium nach Moskau gegangen war, befand er sich bis zu seinem Tod gerade einmal sieben Jahre auf freiem Fuß in der Türkei.
Die einzigartige Mischung von Mystiker und Kommunist, wie sie von Nâzım Hikmet verkörpert wurde, ist wohl nur im Orient denkbar. Der „Hafis des Kapitals“ müsste er werden, schreibt er in einem frühen programmatischen Gedicht, Karl Marx also in der Gestalt des mittelalterlichen persischen Dichters Hafis, dessen mystische Töne schon Goethe zu seinem West-östlichen Divan inspirierte. Wieviel mehr muss er Hikmet inspiriert haben, der in seiner Jugend das klassische Osmanisch lernte und Hafis im Original gekannt haben dürfte.
Die liedhafte, immer zur Rezitation drängende klassische Sprache der mystischen Dichtung, die Nâzım als Kind ins Blut überging, findet sich noch in jenen seiner Versen, die sonst keine Affinitäten zur osmanischen Tradition aufweisen. Ihr Urgrund ist pantheistisch – er erlaubt dem Dichter die Feier der Schöpfung und zugleich ein kosmisches Mitgefühl mit allen Geschöpfen. Es ist dieses Mitgefühl, das die Mystik, von der Nâzım zehrt, anschlussfähig macht an den Sozialismus:
Willst du wissen
Von welchem der beiden ich abstamme, steck deinen Kopf
In meine
Hosentasche:
Dort
sagt dir ein Stück erleuchtetes Schwarzbrot
die Wahrheit.
Die Wahrheit ist freilich, dass Nâzım gediegenen bildungsbürgerlichen Verhältnissen entstammt. Sein menschliches Erweckungserlebnis hatte er auf einem Fußmarsch durch Anatolien, wo er das Elend und den Hunger der dortigen Bevölkerung kennenlernte. In Ankara wollte er sich dem von Atatürk geführten nationalen Widerstand als Dorflehrer andienen – eine Tätigkeit, die er nach wenigen Monaten aufgab, als sich ihm die Gelegenheit bot, einen Passierschein nach Russland zu erhalten.
Als er auf dem Weg nach Moskau in einer russischen Zeitung ein Gedicht von Majakowski erblickte, dessen Zeilen stufenförmig über die Seiten liefen, war er sogleich fasziniert. Die persönliche Begegnung mit den russischen Futuristen und der brodelnden intellektuellen Szene im Moskau der zwanziger Jahre machte den klassisch gebildeten, empfindsamen jungen Mann zum Erneuerer der türkischen Lyrik. Innerhalb von wenigen Jahren zerfiel die klassische osmanische Diwandichtung zu Staub, zermahlen von der Ästhetik der Futuristen, die sich Hikmet zu eigen machte und mit der überlieferten türkischen Sprachmelodie neu auflud:
Wir haben in den 4. Gang geschaltet
Wir heben schon ab
Unser Gedicht heißt
Konstruktivismus
Jenseits der Programmatik, angewendet auf das, was er auf seinen Wanderungen in Anatolien gesehen hatte, klingt der lyrische Motor im vierten Gang tatsächlich beeindruckend. Hören wir den Beginn des Gedichts „Die Pupillen der Hungernden“:
Nicht drei oder vier
Nicht fünfzehn –
Dreißig Millionen
Hungernde
Haben wir
Wir haben sie!
Sie
Haben uns!
Das Meer
Hat Wogen!
Wogen haben das Meer!
Nicht drei oder vier,
nicht fünfzehn –
30.000.000!
30.000.000!
Während der jahrelangen Gefangenschaften wurde Hikmets labile Gesundheit ruiniert, aber er gewann den langen Atem und zugleich – durch den Umgang mit den Gefangenen aus allen sozialen Milieus – das vielfältige Anschauungsmaterial, das in seine Werk eingegangen ist. Von den Versepen Nâzıms wie den berühmten vielbändigen „Menschenlandschaften“ finden wir unter der kenntnisreich zusammengestellten Auswahl von Gisela Kraft das frühste. Es handelt sich um das während des Gefängnisaufenthaltes von 1933 bis 1935 entstandene „Epos vom Scheich Bedreddin“, einem frühneuzeitlichen Sozialrevolutionär im Osmanischen Reich.
Es ist ein sozialistisches Lehrgedicht über einen Stoff aus der türkischen Geschichte, aber es hat nichts von der Trockenheit, die mit dem Lehrgedicht in unseren Breiten einhergeht. Man könnte Nâzım einen Bert Brecht nennen, aber er ist ein besserer Brecht, mit einer größeren, heißblütigeren und eben darum poetischeren Seele. Nachdem die Aufständischen um Scheich Bedreddin besiegt worden sind, heißt es:
Sag nicht:
Solches war
Nach den sozialen, historischen und okönomischen Umständen
Nicht zu vermeiden.
Ich weiß.
Aber mein Herz
Will diese Sprache nicht leiden.
Es schreit: He, niederträchtige Welt!
He Schicksal, gemeine Hure!
Und zuckt
Unter den Schritten
Des Zugs der Besiegten von Karaburun
Barfuß, die Gesichter im Blut,
Schulter an Schulter, von Peitschenstriemen zerschnitten.
Heute Nâzım Hikmet zu lesen, nachdem alle sozialistischen Träume ausgeträumt scheinen, zumal in der Literatur, kommt mit der Wucht einer Offenbarung über den Leser. Stimmt, erinnert man sich, es gab einmal Anliegen, Engagement, höchst berechtigtes sogar! Ja, mehr noch: Es gab einmal eine Sprache dafür, Lyrik, die nicht nur echte Lyrik sein wollte, sondern überdies eine Aussage hatte, kämpferisch war, die Menschen ansprechen konnte.
Von reiner Propaganda jedenfalls ist in dieser Ausgabe nichts zu spüren. Stattdessen finden wir auch teils völlig unpolitische Texte, in denen Nâzıms stupende Beobachtungsgabe mit seiner melodischen, mit häufigen Wiederholungen arbeitenden lyrischen Technik eine hochemotionale Verbindung eingeht, die heute lehren kann, was Lyrik vermag. Wer vermag schon wie Nâzım die so einfache aber doch kaum beschreibliche Ekstase einer „Tischrunde“ unter Freunden in einer Stadt am Meer in ein zeitloses Gedicht verwandeln:
In Varna bin ich verrückt geworden,
bin durchgedreht.
Auf dem Tisch Tomaten, grüne Paprika, gebackener Steinbutt,
im Radio „He Kerle!“, Schwarzmeerluft,
Raki im Glas, mit Wasser Löwenmilch, Anis, ah, der Anisduft!
Meine Zunge gelöst wie unter Brüdern, Vertrauten…
Es geht aufwärts, hui, es geht aufwärts mit mir…
In Varna bin ich verrückt geworden,
bin durchgedreht …
Die Nachdichtungen von Gisela Kraft machen den zweisprachigen Band selbst für diejenigen Leser zu einem literarischen Ereignis, die des Türkischen nicht mächtig sind. Die Übersetzerin schafft es, mit ihrem Enthusiasmus für Hikmet den Leser anzustecken, nicht zuletzt dank ihres einfühlsamen Nachworts. Und wenn man das Buch zuklappt, schüttelt man fragend den Kopf: Wie konnte es passieren, dass Nâzım Hikmet so lange fast vergessen und ungelesen war?
– Dank dieser Edition von Gisela Kraft kann man wieder Gedichte von Nâzım Hikmet lesen, den ganzen Hikmet – und nicht nur den politisch zurechtgestutzten (und zensierten?) Kommunisten Hikmet. –
„Das vorliegende Buch“, schreibt die Übersetzerin und Editorin Gisela Kraft in ihrem Nachwort, „wendet sich nicht an die Linke des vergangenen Jahrhunderts, sondern an Jetztmenschen.“ Man hätte sich diesen Satz in die Einleitung gewünscht, vielleicht sogar als Widmung. Wenn ‚die Linke‘ des vergangenen Jahrhunderts, was immer man sich heute in Zeiten einer Partei gleichen Namens unter diesem politischen Etikett vorstellen kann, überhaupt Gedichte las, dann las sie die Lyrik von Bertold Brecht, von Pablo Neruda, vielleicht noch von Erich Fried, sicherlich aber von Nâzım Hikmet.
Leben
einzeln und frei wie ein Baum
und brüderlich
wie ein Wald
ist unsere Sehnsucht
Manchmal konnte man diesen Vers sogar als Graffiti gesprüht an Häuserwänden lesen. Hikmet galt immer als Poet der Revolution, als Stimme der Kommunisten, ja für viele war er sogar ein unkritischer Parteigänger Stalins. Und trotz dieser von heute gesehen tatsächlich fragwürdiger politischen Sympathien haben es einige seiner Verse sogar bis ins Poesiealbum von Töchtern aus ‚besseren Kreisen‘ geschafft.
Ich kam
blieb
lachte
und starb
Mit dem Zusammenbruch der realkommunistischen Staaten und dem langsamen Ausbleichen der roten Trasparente der linken Studentenszenen in den sechziger, siebziger Jahren, wurde es auch immer stiller um Nâzım Hikmet. Irgendwie war er zu einem verstaubten Schriftsteller geworden, dessen kämpferischer Ton für die ‚Unterdückten dieser Welt‘ uns heute nichts mehr sagte.
Jetzt aber bringt der Amman-Verlag eine ganz neue Hikmet-Edition auf den Markt und man erstaunt.
Wir haben mit dieser Auswahl den Dichter über den Kommunisten gestellt, auch deshalb weil ihm allzulang das Gegenteil angetan und damit der Wert seines Werkes geschmälert wurde (Gisela Kraft).
Den wunderschön gestalteten Band durchblätternd, immer wieder hängen bleibend bei einzelnen Gedichten, bemerkt man, wie sehr der Dichter Hikmet früher hinter dem Kommunisten Hikmet versteckt war. In einem heute wieder aktuellen – und dringend benötigten – Sinne, war Hikmet ein ‚Weltdichter‘, mit starken biographischen Wurzeln in der Türkei, aber gleichzeitig auch sehr weltneugierig. Die Türkei galt ihm viel, auch wenn er wegen seiner politischen Gesinnung verfolgt wurde und viele Jahre in Gefängnissen verbracht hat. Er war aber auch ein großer Reisender, dem ‚seine Türkei‘ kulturell zu eng war. Er wollte ‚raus in die Welt‘ und wenn er dann in der Fremde war, zog es ihn magnetisch wieder an den Bosperos zurück. In dem lange ‚Prag-Zyklus‘ ist immer wieder diese extreme Ambivalenz zwischen Ferne und Nähe, zwischen Fremdheit und Heimat spürbar.
Der Dichter, fern der Heimat,
zerlöchert von Sehnsucht…
Einen großen Platz in dem Band nimmt das „Epos vom Scheich Bedreddin, Sohn des Richters von Simavne“ ein. Teils in Prosa, teils in lyrischen Versen erinnert Hikmet hier an an die Vertreibung der Griechen aus Anatolien bevor die türkische Republik ausgerufen wurde. Hier spürt man ganz besonders den langen Atem von Nâzım Hikmet, von dem man in der bislang vorherrschenden ‚linken‘ Rezeption immer nur die kurzen, manchmal mit Pathos allzu aufgepumpt wirkenden Gedichte kannte. Man wird sicherlich nicht zu persönlich, wenn man Nâzım Hikmet auch als einen ‚türkischen Macho‘ bezeichnet. Seine vielen Liebschaften waren jedenfalls legendär. Aber trotzdem – oder vielleicht auch gerade deswegen – schrieb er ganz wunderbare Liebesgedichte.
Mein Lieb
mach sacht die Augen zu
wie etwas weich ins Wasser gleitet
so leicht und rein fall du in Schlaf
ein süsser Traum ist dir bereitet
schlummre du…
Dank dieser Edition von Gisela Kraft kann man wieder Gedichte von Nâzım Hikmet lesen, den ganzen Hikmet – und nicht nur den politisch zurechtgestutzten (und zensierten?) Kommunisten Hikmet.
Manch einer kennt die Arten der Pflanzen oder der Fische
ich die des Getrenntseins
manch einer weiß die Namen der Sterne auswendig
ich jene der Sehnsucht
In einem mit 11. September 1961 datierten Gedicht mit dem Titel „Otobiyografi“ (Lebenslauf) resümiert der gealterte Dichter über sein Leben, er zählt die Höhepunkte.(„Lenin hab ich verpasst statt dessen hielt ich 1924 Wache / an seinem Sarg“), aber auch die Niederlagen auf, wenn er einige Zeilen weiter, verbitterter nun, schreibt:
meine Werke werden in dreißig vierzig Sprachen gedruckt
in meiner Türkei in meinem Türkisch sind sie verboten
Und doch kommt er zu einem versöhnlichen Abschluss:
Wenn ich heute in Berlin vor Kummer krepieren sollte
kann ich doch sagen ich habe gelebt wie ein Mensch
Zwei Jahre später starb der türkische Dichter Nâzım Hikmet tatsächlich, allerdings in Moskau und sein Werk wurde erst 1965 wieder in der Türkei legalisiert. Sechzehn Jahre hatte er dort im Gefängnis verbracht, zwölf Jahre lebte er im Exil.
Die vorliegende zweisprachige und in Halbleinen gebundene Ausgabe ausgewählter Werke des Autors gibt einen Querschnitt von den Anfangsphasen des Dichters (mit 13 Jahren fing er an) bis hin zu seinen verklärteren Tagen. Nâzım Hikmet war ein politischer Mensch, aber auch ein sehr verliebter, denn viele seiner Gedichte sind Frauen gewidmet, die ihn in seinem Leben begleiteten. Er wurde in eine sehr privilegierte Familie hineingeboren, sein Vater war immerhin Gouverneur von Aleppo und seine Mutter wurde als schön, tatkräftig und hoch gebildet geschildert, Eigenschaften, die ihr nach der Scheidung sicherlich das Überleben erleichterten. So wie Kemal Atatürk wurde auch Hikmet in Saloniki geboren und die beiden sollen sich sogar begegnet sein. Leider konnte ihn auch der Staatspräsident die Jahre im Gefängnis nicht ersparen, denn er starb bereits 1938, genau zu der Zeit als Hikmet seine längste Periode im Gefängnis zu verbüßen hatte. Auch eine Petition von Brecht, Aragon, Sartre, und Picasso unterzeichnet erreichte zwar auch nicht ihr Ziel, jedoch zieht ein Regierungswechsel in Ankara eine Amnestie nach sich. Endlich frei, erreicht ihn allerdings ein Stellungsbefehl zum Militär: Hikmet ist 49 Jahre alt und flieht ins Ausland. Die Sowjetunion rollt dem verfemten Dichter und Kommunisten den roten Teppich aus.
Grundlage der vorliegenden Auswahl ist die 2007 in Istanbul erschienene Edition Nâzım Hikmet Bütün Siirlerei (Sämtliche Dichtungen), ein gewichtiger Band von 2080 Seiten Umfang. Gisela Kraft hat die Auswahl daraus so getroffen, dass die Gedichte auch eine „Metabiographie im Medium seiner Lyrik“ ergeben. Die Texte sind aus diesem Grund auch chronologisch angeordnet. „Ein türkischer Text, ins Deutsche übersetzt oder nachgedichtet, wird länger, er braucht mehr Wörter und darum oft mehr Zeilen“, erklärt die Herausgeberin in ihrem Nachwort. „Lyrik „original“ zu übermitteln hieße , sie des Merkmals Poesie zu berauben. Die einzige Rettung bestünde darin, das Gedicht neu zu schreiben. Das aber gelinge einzig dann, wenn man zuvor seine Aussage, seine Tonlage, seinen Gestus erfasse, einschließlich der seiner Entstehung vorausgehenden Gemütsbewegung des Autors. Es ist der Autorin in aller Bescheidenheit auch bewusst, dass dies auch misslingen könne.
„Dieses Feuer, / das in meinem Herzen entbrannt ist, / “, lässt Nâzım Hikmet den Scheich Bedreddin in seinem gleichnamigen Epos sagen, „das heftiger flammt jeden Tag… / darin mein Herz hingehn und schmelzen wird, / und wäre es von geschmiedetem Eisen… / Ich werde hinausgehn, ich werde den Aufstand wagen!“ Mit diesen Worten gibt der Autor die Fackel des Aufstands weiter an die Nachgeborenen. Auch wenn Bedreddin am Ende besiegt und aufgeknöpft wird, ändert dies nichts an seiner und Hikmets Hoffnung, dass beim nächsten Mal die gerechte Sache siegen wird. Mit dieser Hoffnung ist wohl auch der Autor selbst gestorben und Gisela Kraft hat in der vorliegenden Buchausgabe einen Weg gefunden, das Vermächtnis Hikmets, die Hoffnung, weiter in unseren Herzen entbrennen und auch weiterhin lodern zu lassen.
– Er liebte seine Heimat, doch diese liebte ihn nicht: Die Gedichte des türkischen Dichters Nâzim Hikmet kennen Die Namen der Sehnsucht. –
Wir haben es oft gehört, dass Nâzim Hikmet einer der bedeutendsten türkischen Dichter ist. Erfahren konnten wir es selten. Deshalb ist es erfreulich, dass wir rechtzeitig zur Buchmesse mit dem türkischen Schwerpunkt in einer neuen Auswahl der Gedichte, einiges von der Größe dieses Dichters erahnen können. Dabei halten wir uns an Stoff und Form der Gedichte, nicht an den Leitfaden des schwierigen Lebens, den der neue Band mit dem sprechenden Titel: Die Namen der Sehnsucht gleichfalls geben soll. Diese Editionsidee erscheint nicht sehr plausibel.
Hikmet war durch die gewaltigen Umbrüche in der Politik seines Vaterlandes sowohl wie des 20. Jahrhunderts lebenslang sehr geplagt und gebeutelt. Er saß immer wieder im Gefängnis, musste fliehen und um sein Leben fürchten. Und auch wir Nachgeborenen sind wahrscheinlich noch immer nicht unvoreingenommen genug und reif für eine vorurteilsfreie Betrachtung dieses Lebens, in welchem sich der Dichter immer wieder an die Hoffnungen des Sowjet-Kommunismus geklammert hat. Hikmet studierte und verbrachte lange Zeit im Moskauer Exil. Ein Linker in unserem westeuropäischen Sinne war er dennoch niemals. Er war ein Dichter und von welchem Format, das können die Gedichte allein und mühelos erweisen.
(…)
Diese zwei Strophen haben es in sich. Das Sein Gottes, gleichbedeutend mit der Möglichkeit des Denkens, der Begriff des Parmenides begegnet hier in neuer rhetorischer Einkleidung: „Dein Sein, das macht, dass einer denkt“ – und verknüpft sie sogleich mit einem leisen Zweifel. Die Form des Gedichts, das Hikmet, der mit elf zu dichten begonnen hatte, übrigens mit 17 Jahren schrieb, ist in klassisch-statischem Ornat gehalten und nimmt den Bestand des „so ist es“ auf, indessen es beinah unmerklich die offene soziale Frage in den Versbau einfügt: Warum kann die Größe des Seins den Knechten nicht offenbar werden? Wobei deren Niedrigkeit nicht nur sozial, sondern überhaupt als Gottferne, Gottfremde konnotiert ist.
Nâzim Hikmet ist kein grober Verseschmied, der seine Anschauung und Erfahrung der Welt einer Weltanschauung unterwirft, wie etwa Bert Brecht das des Öfteren tut. Er gelangt auch bei kleinstem Anlass spielerisch leicht in die Tiefe eines ironischen Vergleichs. In der ersten Strophe eines Katzengedichts beschreibt er zärtlich das kreatürliche Wunder eines schönen Kätzchens, in der zweiten findet er plötzlich den Übergang zur Parodie auf eine Dame der Gesellschaft, die das Kätzchen nachzuahmen trachtet. Doch anders als beim Kätzchen schlägt die Zärtlichkeit der Dame brüsk in Dünkel um. Denn:
Die Dame ist nicht irgendwer
Sie mimt Gefühl, doch nicht zu sehr.
Dieser lapidare Tonfall erinnert an Kästner und zeigt im Ganzen doch die größere Könnerschaft Hikmets, mit dem Schweigen umzugehen im Gedicht. Die Konversation wirkt bei ihm immer wie ein ins Schweigen der Poesie einmontiertes Zitat, nie als gleichberechtigt mit der dichterischen Sprache. Um deren Geheimnis und Regeln weiß Hikmet schon als ganz junger Dichter. Dann nähert er sich den Avantgarden Europas, experimentiert mit Prosaformen in der Poesie, nähert sich etwa Majakowskis kühnem Wagnis, die Revolution auch in der Lyrik stattfinden zu lassen. Diese Versuche Hikmets vermag die Nachdichterin Gisela Kraft, der sonst sehr zu danken ist, am wenigsten plausibel zu machen.
Grandios und in der freien ungebundenen Musikalität kühn und schwungvoll erscheint die Nachdichtung und Auswahl, wo diese das Spätwerk dokumentiert. Die Kraft und die visionäre Nachhaltigkeit der Metaphern gehört zur Sinn und Verstand öffnenden Universalsprache der Dichtung. Etwa in dem Gedicht „Stunden in Prag“, wo der Dichter die schicksalhafte Geschichtlichkeit unserer Existenz aus dem Barock der verwitterten, bröckelnden Baudenkmäler herausliest:
das Prager Barock braucht lang, bis es hell wird:
vage, friedlose,
an den Goldzieraten verwitterte Trauer.
Die Figuren der Karlsbrücke gleichen
Vögeln, entkommen einem sterbenden Stern
Das lange ausschwingende Gedicht ist auf den 20. Dezember 1956 datiert. In der friedlosen Trauer Prags ist noch heute ein Echo auf den Aufstand im Nachbarland Ungarn zu vernehmen. Nâzim Hikmet wurde nicht alt, er liebte seine Heimat, diese erwiderte sein Gefühl nicht. Im September 1961 notierte er in Ostberlin, einen Monat nach der Errichtung der Mauer dort:
meine Werke werden in dreißig vierzig Sprachen gedruckt. In meiner Türkei in meinem Türkisch sind sie verboten.
Die Welt war eiskalt und sie ist so geblieben, gerade auch in der Türkei. Der Dichter starb 1963 im Moskauer Exil.
– Der türkische Dichter Nâzim Hikmet (1902–1963) gilt als Mythos. Ihn (wieder) zu lesen, ist dennoch beglückend. –
HEUTE IST SONNTAG
Heute holten sie mich das erste Mal aus dem Bau
ins Helle. Das erste Mal
im Leben sah ich den Himmel
so weit von mir fort,
so blau,
so offen,
und stand verdutzt
auf der Stelle.
1960 erschien, von Hans Magnus Enzensberger „eingerichtet“, das Museum der moderne Poesie. Gedichte von Rafael Alberti bis zu William Carlos Williams. Diese Anthologie entwickelte sich sehr bald zu einem Verzeichnis weltliterarischer Bedeutungsträger. Wer zählte, stand drin. Wer drin stand, der zählte.
Auch Nâzim Hikmet ist mit drei Gedichten vertreten, als türkischer Vertreter der literarischen Moderne. Hikmet war 1902 in Thessaloniki, zu dieser Zeit unter türkischer Herrschaft, geboren worden. Schon 1963 starb er, im Exil, in Moskau.
Mein Andenken wird sich wie schwarzer Rauch
im Wind verlieren.
Als ich diese Verse zum ersten Mal las, wusste ich nichts von dem Schicksal des Autors, der sein halbes (erwachsenes) Leben im Gefängnis und die andere Hälfte im Exil verbringen musste. Hikmet sagte einmal, er habe in seinem ganzen Leben nie ein Gefängnis verlassen, ohne dass alle Mitgefangenen lesen und schreiben konnten. Darauf sei er stolz.
Hikmet war Kommunist. Und Dichter. Er konnte das trennen. Die türkischen Behörden nicht. Die meisten seiner eigenen Arbeiten hat Hikmet nie gedruckt gesehen. Von 1936 bis 1965 bestand in der Türkei sogar ein striktes Publikationsverbot. Noch heute ist der bedeutendste Dichter seines Landes offiziell in seiner Heimat eher ungelitten.
Seine Berühmtheit, sagt dazu Gisela Kraft, die jetzt die große Auswahl seiner Gedichte unter dem Titel Die Namen der Sehnsucht zweisprachig im Ammann-Verlag herausgebracht hat, beruhe wohl am wenigsten auf der Kenntnis seines Werkes. Er wurde wegen seiner Standhaftigkeit gerühmt. Sein Leidensweg durch die türkischen Gefängnisse machte ihn zum Märtyrer. Das Verbot seines Werkes verstärkte diese Wirkung. Die wenigstens Türken hatten ihn gelesen, jeder kannte ihn. Er wurde berühmt. Er wurde populär. Er wurde zum Mythos.
Sehr früh, 1921, hatte er sich den Kommunisten angeschlossen und blieb dieser Entscheidung sein Leben lang treu. Die Jahre des stalinistischen Terrors verbrachte er in türkischen Gefängnissen. Später, entlassen, musste er bald wieder um sein Leben fürchten, und fand erneut Zuflucht in der Sowjetunion.
Sein Leben bestand aus Verfolgung, Haft, Folter, aus Angst und Hoffnung. Und aus Liebe. Vor allem blieb Hikmet unbeirrt und, seine Verse zeigen es, auf sonderbare Weise sanft. Er blieb ungebrochen. Er kämpfte nicht eigentlich gegen, sondern immer für etwas. Er wusste: „Das Leben ist schön“. Und Liebe möglich. Das zeigen besonders eindrucksvoll die Gedichte. Das erste Gedicht, das Hikmet mit nur elf Jahren schrieb, beschwört schon die Hoffnung, die er sein Leben lang bewahrte.
1938 wurde er wegen angeblicher Anstiftung zum Aufruhr zu 29 Jahren Haft verurteilt. Zwölf lange Jahre, bis 1950, saß er davon ab. Erst eine internationale Kampagne, an der sich viele seiner Schriftsteller-Kollegen aus aller Welt beteiligten und die er mit einem Hungerstreik begleitete, verhalf ihm schließlich zu seiner Entlassung. Im Zuchthaus war er herzkrank geworden. Trotzdem erhielt er 1951 einen Gestellungsbefehl zum Militärdienst. Das war ein Todesurteil und offenbar auch als solches gedacht. Deshalb floh er erneut. Seine letzten zwölf Jahre lebte er, von einigen, auch längeren Reisen abgesehen, als Gast der Regierung in Moskau.
Bis zuletzt arbeitete er an dem Roman Die Romantiker. Der ursprüngliche Titel lautete: Mensch, das Leben ist schön!. Den Helden des Romans, Ahmet und Ismail, zwei jungen Männern, hat Hikmet sein eigenes Schicksal zu fast gleichen Teilen aufgetragen.
Der Roman zieht Bilanz. Er folgt der Chronologie der Ereignisse und sprengt sie doch, wo immer nötig, auf. Es ist kein umfangreicher, aber ein großer Roman geworden. Wie in seinen Gedichten zeigt Hikmet auch hier, völlig unaufdringlich, eine radikale Modernität. Das Buch beginnt mit der Ankunft in Izmir. Ahmet besucht, auf der Suche nach Arbeit, seinen Onkel, der ihn aber keineswegs mit offenen Armen empfängt, eher abzuwimmeln versucht.
Es ist eine ebenso abenteuerliche wie spannende Geschichte, die von großen Gefühlen und großen Hoffnungen, von Entbehrung und Leiden, von Unrecht und von dem Kampf gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt erzählt, und von der Liebe junger Leute, Moskauer Studenten, türkischer Kommunisten, von Türken, Russen, Chinesen, vom Aufbrechen alter Beziehungsformen und von den Schwierigkeiten mit dieser Situation umzugehen. Dieser Roman handelt von Gott und der Welt und oft von allem zugleich.
Wir sitzen mit dem Erzähler (bzw. den Erzählern) in einer dunklen Steinhütte am Rande von Izmir. Ahmet malt Striche an die Wand, einen für jeden Tag, der vergangen ist. Und er erinnert sich. Er war in Moskau, hat dort studiert, gelebt und geliebt. Er hat sogar Wache gestanden, fünf Minuten nur, aber immerhin, am Sarg des toten Lenin. Später wird Ismail, in türkischen Gefängnissen, mit Strichen, seine Tage zählen.
Gisela Kraft hat die Gedichte Hikmets ausgewählt, übersetzt und nachgedichtet. Die über dreihundertfünfzig Seiten enthalten frühe Gedichte, die Zeit bis Anfang der dreißiger Jahre, das Epos vom Scheich Bedreddin, Gedichte bis 1955 und einige aus den letzten drei Lebensjahren. Mit einem umfangreichen, vierzig Seiten umfassenden Nachwort mit zahlreichen Fotos des Dichters, seiner Familie und nahen Freunden kommentiert und bettet sie sein Werk in den Kontext seines Lebens ein.
Ergänzt wird der wunderschöne gebundene, mit Leinenrücken und Lesebändchen ausgestattete Band durch Anmerkungen zu den Gedichten und zur Aussprache und zu den Lebensdaten Hikmets. Den editorischen Notizen und dem Bildnachweis folgt ein Verzeichnis der Gedichte in türkischer und deutscher Sprache.
Nâzım Hikmet – Die Namen der Sehnsucht ist eine sehr gelungene Hommage an den Dichter Nâzım Hikmet. Welche Meisterleistung Gisela Kraft vollbracht hat, kann wahrscheinlich nur derjenige wirklich nachvollziehen und würdigen, der ebenfalls versucht hat, Lyrik aus dem Türkischen zu übersetzen. Einer Sprache, die hinsichtlich Struktur, Ausdruck und Denkweise völlig unterschiedlich zur deutschen Sprache ist. Mit einfachem Übersetzen ist es also nicht getan, auch nicht mit sinngemäßem Übertragen. Nein, es gilt etwas Neues, Eigenes zu erschaffen, um die Stimmung, den Klang, den Rhythmus zu erfassen.
Grundlage der vorliegenden Auswahl ist die 2007 in Istanbul erschienene Edition Nâzım Hikmet Bütün Siirleri (Sämtliche Dichtungen). Aus diesem über zweitausend Seiten umfassenden Werk hat Gisela Kraft eine Auswahl getroffen, die zwangsläufig subjektiv ist, wie sie selbst betont. Wichtig dabei war ihr, die Person Nâzım Hikmets in seinem Werk aufzuspüren; sie stellte bei ihren Entscheidungen den Dichter über den Kommunisten und gibt vielfältigen Themen, die den Dichter beschäftigten, Raum.
Die Gedichte Hikmets handeln von der Liebe, der Freundschaft, vom Krieg und vom Hunger; die ersten schrieb er bereits im Alter von elf Jahren. Sie zeugen von seiner Liebe zur Wahrheit, zur Freiheit und zur Gerechtigkeit, aber auch von seiner Liebe zu den Frauen. Seine Dichtung gilt als Meilenstein der modernen türkischen und sogar der europäischen Literatur und seine Texte wurden zu Liedern, Parolen und geflügelten Worten, im Deutschen etwa von Hannes Wader.
Ebenso kreativ wie seine Wortwahl ist die Gestaltung auf dem Papier. Man denkt dabei an arabische Kalligraphien, in welcher der zeichnerischen Ausführung und Optik des Geschriebenen die gleiche Bedeutung zugemessen wird wie dem eigentlichen Inhalt. Die Worte galoppieren wie rote Rosse über das Papier, entfernen sich und nähern sich wieder, jedoch nicht ohne Ziel, Schüsse und Schreie verhallen. Wiederholung, Rhythmus ist bedeutsam.
Wie schon das anfangs erwähnte Gedicht zeigt, spielt auch die Mystik eine Rolle im Werk Hikmets. In den Texten der Mystiker geht es darum, die Essenz zu erfassen und mitzuteilen. Sie verweisen auf das, was hinter dem eigentlichen Wort liegt. Schon der Großvater ist ein praktizierender Sufi des von Rumi gegründeten Mevlevi-Ordens, in dessen Haus regelmäßige Treffen stattfanden. In dem Epos vom Scheich Bedreddin wird Hikmet nachts von einer Gestalt in einem nahtlosen weißen Gewand, die über das Meer wandelt, abgeholt.
Die Sprache Hikmets ist wie klares Quellwasser. Sie ist rein, klar, unverfälscht und mächtig. Sie kommt direkt aus den Tiefen des Geistes, gespeist von der höchsten Quelle. Etwas zu schreiben hieß für Hikmet, „etwas fangen im Innern, den Eimer in den inneren Brunnen werfen und Wasser heraufziehen“. Nach ihm „verrottet das Wort, das nicht aus der Erde kommt, das nicht in die Erde dringt, das nicht in ihr Wurzeln schlägt“. Es ist eine kraftvolle Sprache, ohne Schnörkel, der es dennoch gelingt starke und einprägsame, bewegende Bilder zu erzeugen. Wie dieses Buch zeigt, sind seine Worte noch lange nicht dabei zu verrotten und haben an Potential nicht verloren.
Leben
Einzeln und frei wie ein Baum
Und brüderlich wie ein Wald
Das ist unsere Sehnsucht.
Als der noch jugendliche Rezensent Anfang der siebziger Jahre zufällig auf dieses Gedicht des ihm bis dahin unbekannten türkischen Dichters Nâzım Hikmet stieß, traf es ihn an inneren Orten, die er zuvor nicht kannte. Dieses damals dann sehr oft zitierte Gedicht traf ein Lebens- und Hoffnungsgefühl einer Generation, die aufbrechen wollte in eine neue Welt. Eine Welt in der Frieden und Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung, wie man das ein Jahrzehnt später in der Friedensbewegung nannte, nicht nur Lippenbekenntnisse von Politikern bleiben sollten, sondern erfahrbare Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten für alle Menschen.
Immer wieder wollte der Rezensent in jungen Jahren diesem Gedicht nachspüren und jenen Autor näher kennen lernen, der es wohl mit brennendem Herzen schrieb. Doch dann gewannen andere literarische und lyrische Vorbilder, wie z.B. Erich Fried mit seinen politischen Gedichten und seinen Liebesgedichten die Oberhand und Nâzım Hikmet entfernte sich aus meinem Horizont. Zu unbekannt war damals wohl auch die fremde Welt, aus der er kam und die mir lange fremd bleiben sollte und in manchen Emanationen bis auf den heutigen Tag ist.
Bis ich auf dieses wunderbare Buch stieß, das der Ammann-Verlag 2008 veröffentlichte. Aus einer großen Zahl von Werken und Gedichten des 1963 verstorbenen Nâzım Hikmet hat der Herausgeber eine Auswahl getroffen, sie neu aus dem Türkischen übersetzt und mit einem umfangreichen Nachwort versehen. Zwar fehlt trotz des Titels das eingangs zitierte Gedicht, dennoch sind sowohl die Auswahl der Texte (zweisprachig abgedruckt) als auch das instruktive Nachwort auf das Beste geeignet, einem jungen Publikum einen unvergleichlichen Dichter mit seiner bewegten Lebensgeschichte nahe zu bringen.
Ich denke dabei auch an die Hunderttausende von türkischstämmigen Bürger der dritten Generation in den deutschsprachigen Länden Europas, die, gut gebildet und ausgebildet in beiden Sprachen einen Lyriker und Autor kennen lernen können, über den sie in dem Herkunftsland ihrer Eltern in der Schule sicher nichts erfahren hätten.
Diese von Gisela Kraft bearbeite Neuausgabe dokumentiert die vitale Größe dieses epochalen türkischen Lyrikers. Hikmet, der im Juni 1963 in Moskau gestorben ist, gilt als Begründer der modernen türkischen Lyrik. Viele seiner Werke sind während seiner Inhaftierung entstanden. Hikmet, der als das sprachgewaltigste poetische Sprachrohr der türkischen Linken anzusehen ist, war seit 1924 Mitglied der illegalen Kommunistischen Partei der Türkei. Für seine politischen Überzeugungen die er in der Zeitschrift Aydinlik publizierte, wurde er verhaftet und Jahre lang interniert. Sein Engagement für die Linke musste er also teuer bezahlen, denn mehr als die Hälfte seines 61 Jahre währenden Lebens hat er in türkischen Gefängnissen und im Moskauer Exil. Er hat Liebesgedichte geschrieben, angeregt durch diverse Liebschaften und Ehen. Zur Sicherung des Lebensunterhalts hat er Drehbücher und Theaterstücke geschrieben.
Mit seinen zahlreichen dramatischen Werke hat er trotz Verfolgung und Exil, und des über seinen Tod hinaus bestehenden Publikationsverbots, die türkische Literatur nachhaltig geprägt. Seine Texte sind zum Teil in seiner Heimat zu Volksliedern oder geflügelten Worten geworden.
Die Auswahl der Gedichte in diesem Buch führt wie ein Leitfaden von der frühen Kindheit durch alle markanten Stationen seines Lebens. Seine Lyrik ist nicht nur für Lyrik Liebhaber ein Genuss, denn seine poetische Stärke kommt in seinem Sprachstil großartig zum Ausdruck. Sein Ton, seine Metrik, ist mal untröstlich ratlos, skeptisch zwiespältig, dann aber auch wieder hemmungslos couragiert, ein anders Mal wieder erstaunlich befremdend wortkarg.
Nâzım Hikmet hat es verstanden Leben, Poesie und Politik völlig miteinander zu vereinen ohne das eine oder andere zu zerstören. Auch in den schwierigsten Situationen blieb er glaubwürdig. Seine Reflexionen beeindrucken nachhaltig. Im Namen der Sehnsucht ist ein großes Dokument für ein exemplarisches Dichterleben.
– Gisela Krafts poetische Wanderungen. –
Am 28. Juni 2016 wäre Gisela Kraft 80 Jahre alt geworden. Bereits von ihrer schweren Krankheit gezeichnet, der sie am 5. Januar 2010 erlag, erhielt die Dichterin im September 2009 den Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis für ihre Nachdichtung von Nâzım Hikmets Die Namen der Sehnsucht. In Erinnerung an die Schriftstellerin, die 1991 nach Weimar kam und das literarische Leben in Thüringen nachhaltig bereichert hat, drucken wir im Folgenden Stefan Reichmuths Laudatio zur Verleihung des Wieland-Preises 2009, die das Werk der Übersetzerin Gisela Kraft ehrt.
Manch einer weiß die Namen der Sterne auswendig
ich jene der Sehnsucht
Dieser Vers aus Nâzım Hikmets Lebenslauf-Gedicht liefert den Titel der Nachdichtungen, für die Du, liebe Gisela, heute geehrt wirst. Das Gedicht ist eine ziemlich lakonische Bestandsaufname von Nâzım Hikmets bewegtem Leben. Er schrieb es in Ostberlin, nur zwei Jahre vor seinem Tod in Moskau. Ihm geht es darin nicht um eine nostalgische Überhöhung des Exils, der persönlichen Brüche und der politischen Enttäuschungen, die er erfahren musste. Erkennbar wird eher ein ruhiger Blick auf die utopischen Qualitäten des Lebens, die das eigene Streben in Erfolg und Scheitern durchdringen und übersteigen. Die Auswahl der übertragenen Gedichte lässt diesen Nâzım Hikmet gegenüber seinen herkömmlichen ideologischen Vereinnahmungen deutlicher hervortreten. Freilich bleiben kosmisches Einheitsbewusstsein und soziale Utopie in seinen epischen Menschenschilderungen auch sonst immer verschränkt.
Die Arbeit an Nâzım Hikmet hat Gisela Kraft bekanntlich schon lange begleitet. Sie war es nicht zuletzt, die sie 1984 zur Übersiedlung nach Ostberlin bewog. Fast 20 Jahre nach der Wende konnten ihre Nachdichtungen in neuer Überarbeitung erscheinen und finden nunmehr ihre langverdiente Anerkennung. Zwei ineinander verschlungene poetische Wanderungen, eine deutsch-türkische und eine deutsch-deutsche, kommen heute zu einem gemeinsamen Ziel. Wie hängen diese Wanderungen zusammen? Was hat ein türkischer Dichter mit der poetischen Arbeit an deutschen Verhältnissen zu tun?
Gisela Krafts eigene Dichtung lebte und entwickelte sich seit den siebziger Jahren in beständiger Auseinandersetzung mit ihren Türkei-Erfahrungen und mit der türkischen Literatur. Vieles davon hat in ihren Gedichten seinen Niederschlag gefunden. In ihren Erinnerungen wird man hoffentlich bald nachlesen können, wie die Besuche in Istanbul und die Reisen vom Bosporus bis zum Ararat ihr Leben und ihre Sicht darauf veränderten. Die geschmiedeten Arabesken der Moscheelampen, die schwingende Ordnung im Raumerlebnis der großen Istanbuler Moscheen gehörten ebenso zu diesen prägenden Erfahrungen wie das prähistorische Kleinasien mit seinen Muttergottheiten, und das bäuerliche Anatolien, das sich damals seinerseits im Aufbruch befand und viele seiner Söhne als Arbeiter nach Deutschland schickte.
Studien der Islamwissenschaft und der Vorderasiatischen Altertumskunde an der FU Berlin vertieften die Auseinandersetzung mit dem Islam, mit der Republik Türkei und ihrem osmanischen Erbe, und mit dem Alten Orient. Die tiefe politische Spaltung der türkischen Gesellschaft in Rechts und Links in jenen Jahren war freilich unübersehbar; sie reichte hinein bis in die wachsende türkische Diaspora in Berlin. An dieser Spaltung arbeitete sich auch die Berliner Reisende ab und trug diese Arbeit in ihre Studien wie in ihre eigene Dichtung hinein. In Berlin selbst gewann sie Anschluss an eine zunehmend multikulturelle Literaten- und Künstlerszene und fand dort als Übersetzerin und Dichterin ihre unverwechselbare Stimme: die einer humanistischen Linken, die sich geläufigen Zuordnungen und Lagerbildungen immer wieder entzog.
Geist, Natur und Geschichte bilden für Gisela Kraft eine Einheit, und sie selbst ist unbeirrbar auf ihrem eigenen Weg der poetischen Utopie geblieben. Dies erklärt nicht nur ihre Affinität zu Nâzım Hikmet, dessen Epos von Scheich Bedreddin sie erstmals 1977 in einem Ausstellungs-Katalog herausbrachte. Auch weitere türkische Dichter sind hier zu nennen, deren Werke sie über lange Zeit begleitet haben und bei denen sich ähnliche Wahlverwandtschaften finden lassen: der erst vor einem Jahr verstorbene große türkische Lyriker Fazıl Hüsnü Daǧlarca, der mittelalterliche Mystiker Yunus Emre, und der schiitische Barde und Märtyrer des 16. Jahrhunderts, Pir Sultan Abdal.
Fazıl Hüsnü Daǧlarcas dichterisches Werk bildete den Gegenstand von Gisela Krafts Dissertation, die sie 1978 abschloss. Sie trägt den Titel Fazıl Hüsnü Daǧlarca – Weltschöpfung und Tiersymbolik (Klaus Schwarz Verlag 1978). An ihr lässt sich ablesen, wie sie ihren Zugang zum Motivkanon der modernen türkischen Poesie entwickelt und für ihre eigene Arbeit fruchtbar macht. Daǧlarca schuf seit den vierziger Jahren einen sehr persönlichen poetischen Kosmos, in dem eine Fülle von Tiergestalten den Menschen begleitet. Pferd und Vogel, Rind und Schaf dienen diesem Dichter als Symbole für eine allseits belebte und beseelte Welt und für die archetypischen Beziehungen des Menschen zu Land und Gemeinschaft, denen er in Liebe, Kampf und alltäglichem Leid verbunden ist. Die Gedanken- und Symbolwelt Daǧlarcas weist viele archaische Elemente auf, die sich bis in den Alten Orient zurückverfolgen lassen. Sie ist aber nicht weniger stark auf die Gegenwart ausgerichtet, deren politischen Auswüchsen der Dichter gelegentlich mit heftigem Protest begegnete. In dieser reichen dichterischen Welt bilden die Tiere die symbolische Brücke zwischen Innen und Außen. Das hat auch Gisela Krafts eigene Poesie bereichere.
Nach dem erfolgreichen Abschluss der Dissertation war sie 1978 bis 1983 als Mitarbeiterin am Institut für Islamwissenschaft an der FU Berlin tätig. Zugleich entfaltete sie eine rege künstlerische Arbeit in Berlin, nicht zuletzt in Kooperation mit der Schaubühne und ihrem Türkischen Ensemble, das von 1979 bis 1984 bestand. In diesem Rahmen lieferte sie weitere Übersetzungen türkischer Poesie und Erzählprosa und schließlich eine Sammlung von Gedichten von Yunus Emre und Pir Sultan Abdal. Diese wurden 1981 am Halleschen Ufer zur Aufführung gebracht (Mit Bergen Mit Steinen, Harran Verlag, Berlin 1981). Beide gehören zu den Klassikern der türkischen Volksdichtung und sind im religiösen wie im laizistischen Milieu in der Türkei populär geblieben. Ihre eingängigen, bis heute verständlichen Verse verbinden die Beschwörung von Gottesliebe und Heilserwartung mit der ganzen Spannbreite menschlicher Erfahrung zwischen Hoffnung und Leid. Vielleicht am berühmtesten ist Yunus Emres Rad der Schmerzen: die Klage eines Wasserrades, das von dem geliebten Gott in seine Form gezwungen und dazu bestimmt wurde, sich immerfort zu drehen und unter schmerzlichem Seufzen Wasser zu schaufeln. Mühsal und unbeirrte Sehnsucht des menschlichen Lebens auch hier.
Gisela Krafts eigene Poesie aus den frühen achtziger Jahren versetzt die türkischen Volkssänger und Heiligen wie Yunus Emre und Hadschi Bektasch, aber auch die altanatolische Muttergottheit Kybele in die türkische Migrantenwelt. In ihrem Mauer-Diwan (Eremiten-Presse, Düsseldorf 1983), der in dieser Zeit erschien, wird dann auch Berlin selbst zunehmend zum Thema, und es ist wohl bezeichnend, dass sich diese Hinwendung geradezu zwanglos aus der multikulturellen Erfahrung ergab. Neuberlinisch in sieben Sprachen (Harran Verlag, Berlin 1982) war eines ihrer Projekte in der Theatermanufaktur Berlin. Der Dokumentationsband präsentiert Gedichte und Kurzprosa von „zwanzig in- und ausländischen Berlinern“, wie sie das nannte. Die Stadt war zu einem Ort geworden, an dem die alten festgemauerten Grenzen in ein neues, weitläufiges Gefüge gerieten, das die ganze Welt einbezog. Der Mauer-Diwan umkreist dieses neue Berlin-Gefühl, mit einem einleitenden Gedicht „Von der Untrennbarkeit des Kreises“ bis zum Ende, wo die Stadt in kosmischer Namenlosigkeit erscheint. An anderer Stelle wird Heraklit zum Kronzeugen für den beständigen Wandel, der Abschied wie Freiheit bringt. Ebenfalls in dieser Zeit entstand die Satire von der „Häschenschule“ (in Schwarzwild, Literarisches Colloquium, Berlin 1983, 39ff.). Junge Hasen werden hier, frei nach Fritz Koch-Gotha, von ihrem Lehrer in das bescheidene, aber friedliche Leben auf dem Grenzstreifen in der Mitte Berlins eingewiesen. Ironisch zieht die Autorin die Register der anarolischen Tiermythologie, im Blick auf das Brandenburger Tor und die vier Pferde der Quadriga.
Die Neuorientierung, die hier persönlich wie beruflich einsetzte, erhielt durch die Arbeit am Werk von Nâzım Hikmet eine ganz neue Richtung. Das Angebot einer Publikation beim Aufbau-Verlag ermöglichte es Gisela Kraft, das Epos von Bedreddin und andere epische Texte Hikmets in Ostberlin zu publizieren. Für Länder außerhalb der DDR waren die Publikations-Rechte durch einen konkurrierenden türkischen Verlag nachträglich blockiert worden. Die Herabsetzung, die sie durch eine begleitende Kampagne der Konkurrenten erfuhr, bestärkte sie in ihrer Zusammenarbeit mit Ostberliner Verlagen, bei denen nicht nur das Bedreddin-Epos (Aufbau-Verlag / Rütten & Loening, Berlin 1984), sondern auch der Auswahlband Brot und Taube (Verlag Volk und Welt, Berlin 1984) mit Gedichten Daǧlarcas erschien. In dieser Zeit reifte dann auch ihr Entschluss, ganz in den Osten der Stadt überzusiedeln, wo sie nunmehr im Gegensatz zum Westen durch ihre Publikationen über eine gesicherte Existenz verfügte. Wiederum konnte sie dort als freischaffende Schriftstellerin eine reiche literarische Tätigkeit entfalten.
Der Ortswechsel, den Gisela Kraft 1984, fünf Jahre vor der Wende vornahm, war in dieser Zeit ohne Beispiel. Ohne Nâzım Hikmet und die Arbeit an seinem Werk, die ihr in der DDR eine Existenz verschaffte, ist er nicht zu erklären. Ihre Hinwendung zur Berliner Linken hatte diesen Wechsel persönlich möglich gemacht, ohne sie ideologisch weiter zu binden. Im Nachhinein zeigt sich wohl, dass auch der Osten Berlins in der Endphase der DDR ideologisch und kulturell poröser geworden war, als es vom Westen her den Anschein hatte. Gisela Krafts Erinnerungen dokumentieren eine menschlich reiche und geistig vielseitige Landschaft, in die sie hineinkam und in der ihre poetische Utopie einen produktiven Ort fand. Die widersprüchlichen, aber vielfach auch sehr positiven Erfahrungen, die sie im dortigen Kulturleben sammelte, können nur schwer mit einem summarischen Urteil über die DDR verrechnet werden.
Das große Projekt der Novalis-Trilogie, das bereits in den Anfängen steckte, konnte Gisela Kraft von Ostberlin aus ortsnah weiterführen. Der erste Band, der Prolog zu Novalis erschien dann 1990, kurz nach der Wende, im Aufbau-Verlag. Die Annäherung an den Romantiker Novalis verschränkt sein inneres Erleben mit der mitteldeutschen Landschaft, in der er sich bewegt. Es ist eine langwierige Trauerarbeit: in der Tiefe der Fixierung auf die früh verstorbene Verlobte wird das Ich neu entdeckt, werden intensive Todeswünsche durchlebt und allmählich überwunden. Wie in der orientalischen Dichtung treten hier Tiere als wichtige Vermittler zwischen Innen- und Außenwelt in Erscheinung. Am Anfang steht ein langer Ritt durch Wind und Wetter zum Grab der Verlobten. Beschreibungen von Landschaft und Reittier durchdringen den inneren Monolog; ein Wechselspiel, das große strukturelle Ähnlichkeiten mit der altarabischen Qasida aufweist. Das Pferd, ein ruhiger, kraftvoller Brauner, ruft die charakterlichen Wertigkeiten in Erinnerung, die dem Braunen auch bei Daǧlarca zukommen. Am Ende steht ein Prozess der inneren Klärung, der den Dichter schließlich dem Leben wieder zuführt. Er findet seinen Ausdruck in der mitleidigen Zuwendung zu einem untröstlich klagenden Lamm – wiederum tritt hier die Symbolik der Tierwelt Daǧlarcas zutage, bei dem das Lamm Erdverbundenheit, Opfer und zugleich Hoffnung verkörpert. Hier münden die deutsch-türkischen lyrischen Wege, die Gisela Kraft so lange beschritten hat, in die poetische Landschaft der deutschen Romantik. Der Ortswechsel nach Weimar (1997), wo sie bis heute lebt, folgte auch diesen Spuren.
Die Auseinandersetzung mit Nâzım Hikmet hat nunmehr mit den Namen der Sehnsucht einen neuen Höhepunkt gefunden. Hatte sich Gisela Kraft bisher auf Hikmets epische Dichtungen und auf die Theaterstücke konzentriert, so folgt der neue Auswahlband den Stadien seiner Biographie und wirft damit Schlaglichter auf die ungeheuren formalen Entwicklungen in seinem Lebenswerk. Am Anfang steht der jugendliche Dichter, noch ganz den spätosmanischen poetischen Mustern verpflichtet. Es folgt der Einbruch der russischen avantgardistischen Lyrik der Revolutionszeit, die auch die graphische Form als Gestaltungsmittel einbezieht. Er erscheint im Rückblick noch ungeheuerlicher. Es gibt wohl kaum Gedichte, die den tiefgreifenden Umbruch nach dem ersten Weltkrieg plastischer zum Ausdruck bringen, als Hikmets Pupillen der Hungernden. Hier führe er die Hunger-Katastrophen im Russland jener Jahre in dramatischen Stenogrammen vor Augen, die den Autor wie den Leser in die Solidarität zwingen. In einem anderen avantgardistischen Gedicht wird die Leidenschaft von Kerem, dem vor Liebe verbrennenden Helden eines alten Epos, zum Anstoß für Aufbruch und Hoffnung in einer bleiernen Zeit.
Hikmets Dichtung, die in der Türkei stilbildend war, zeichnete sich auch weiterhin durch einen großen formalen Reichtum aus, der traditionelle wie avantgardistische Vorbilder umfasste. Dies hat seinen Niederschlag gefunden in großen epischen Dichtungen wie Scheich Bedreddin, dem Epos vom Befreiungskampf, und den Menschen-Landschaften, in denen Nâzım Hikmet seine Gefängniserfahrungen verarbeitet. All diese Dichtungen blicken in erster Linie auf den einzelnen Menschen, aus dessen Erlebnissen, Gesprächen und Taten sich allmählich ein epischer Kosmos bildet, in dem Erfolg, Scheitern und utopische Hoffnungen ineinander verschränkt bleiben und in dem sich die Liebe zum Menschen in allen Widrigkeiten erhält.
Auch der Novalis-Zyklus von Gisela Kraft weist viele formale Parallelen zu Nâzım Hikmets lyrischer Epik auf, in der sich Prosa und freier Vers durchdringen (Prolog zu Novalis, Aufbau-Verlag, Berlin 1990; Madonnensuite. Romantiker-Roman, Faber & Faber, Leipzig 1998; Planet Novalis, Faber & Faber, Leipzig 2006). Lyrische Dichte und formale Vielfalt prägen auch den Erzählstil der drei Novalis-Bücher, ebenso die dokumentarische Rahmung durch Originalzitate. Am auffälligsten ist die Ähnlichkeit in der Gestaltung der Dialoge, die bei Gisela Kraft wie auch bei Hikmet häufig szenischen Charakter gewinnen. Auch bei ihr werden verschiedene lyrische Formen teils monologisch, teils dialogisch in die Erzählung eingebettet. Das Ineinanderfließen innerer Monologe und szenischer Dialogfolgen, das Zurücktreten des Erzählers in die Vielstimmigkeit, all das entspricht in vieler Hinsicht dem Aufbau der Epen Hikmets. Die Knappheit, Kühnheit und Dringlichkeit der Sprache, die Gisela Kraft einmal an den alten türkischen Volksdichtern ausgemacht hat, kann man ebenfalls bei Nâzım Hikmet finden, aber auch in ihren eigenen Dichtungen und Nachdichtungen. Ebenfalls gemeinsam bleibt die menschliche Grundhaltung, und in der Gestalt des Novalis verteidigt die humanistische Utopie ihre kosmische Dimension. Die Auseinandersetzung mit Nâzım Hikmet hat offensichtlich Gisela Krafts Novalis-Projekt von Anfang an begleitet und sprachlich wie formal bereichert. Auch hier kommen also die Wege zusammen. Wohin sie gemeinsam führen, darauf dürfen wir auch weiterhin gespannt sein.
Dir liebe Gisela, meine herzlichste Gratulation!
Stefan Reichmuth, Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen, 24. Jahr, 1. Heft, 2016
Kai Agthe: Für Gisela Kraft, die Derwischa und Katzenfreundin
Das Blättchen, 27.6.2011
Danke, so viele Gedichte und Biographisches. Ich suche “Martilar ah eder” von Nazim Hikmet, habe gestern sämtliche Bände in der Heidelberger Stadtbücherei durchforscht, es aber nicht gefunden. Hat jemand eine Übersetzung? Das wäre schön, im Rahmen einer Einführung in die türkische Musik singe ich es.