DIE FLAMME, DIE REDE
In einer Dichtung les’ ich:
Worte wechseln ist göttlich.
Doch Götter reden nicht:
bauen, zerhauen Welten,
während die Menschen reden.
Die Götter, ohne Worte,
spielen schreckliche Spiele.
Der Geist läßt sich hernieder
und entfesselt die Zungen,
doch er spricht keine Worte,
er spricht Gluten. Die Sprache,
von dem Gotte entzündet,
sie ist eine Verheißung
aus Flammen und ein Turmbau
aus Rauch, ein Niederprasseln
feuerverzehrter Silben:
Aschenstaub ohne Sinn.
Das Wort des Menschen aber
ist die Tochter des Todes.
Wir reden, weil wir sterblich
uns wissen: unsere Worte
sind nicht Zeichen, sind Jahre.
Im Sagen, was die Namen
sagen, welche wir sagen,
sagen sie Zeit: uns selber.
Wir sind Namen der Zeit.
Verstummt, sprechen die Toten
dieselben Worte aus,
die wir Lebenden sagen.
Die Sprache ist die Wohnung
von allen, das Haus, hängend
an der Flanke des Abgrunds.
Worte wechseln ist menschlich.
Die Geschichte unserer Literatur könnte uns ein wenig
über die Mutlosigkeit hinwegtrösten,
die unsere reale Geschichte in uns bewirkt.
Octavio Paz (1976)
Das 20. Jahrhundert beginnt für Mexiko mit der Revolution von 1910 – ein Ereignis, das nicht nur das politische Leben, sondern auch das Bewußtsein der Mexikaner erschüttert. Das Geschehen weckt bei den Intellektuellen, Dichtern und Künstlern das Bestreben, sich selbst und die eigenen Traditionen zu erkennen. Zeugnisse dieser sozialen und kulturellen Erneuerung sind u. a. der Roman der Mexikanischen Revolution (Mariano Azuela, Martín Luis Guzmán), die Bewegung der mexikanischen Wandmalerei (Dr. Atl, Diego Rivera, José Clemente Orozco) sowie die Kulturphilosophie von José Vasconcelos, der als Minister unter Obregón (1921) den mexikanischen Malern Aufträge erteilte und damit Förderer des muralismo wurde. Der Dichter Octavio Paz, der am 31. März 1914 in Mixcoac/Mexiko-Stadt geboren wurde, kennt die Geschichte der Revolution aus den Traditionen der eigenen Familie: Der Großvater hatte gegen die französische Intervention in Mexiko gekämpft und war eine wichtige Figur des mexikanischen Liberalismus gewesen; auch als Schriftsteller und Journalist hatte er sich einen Namen gemacht. Der Vater war ein Intellektueller, der dem Bauernführer Emiliano Zapata gefolgt war und ihn später in den Vereinigten Staaten vertrat. Einer der Lehrer des jungen Octavio Paz an der Schule von San Ildefonso war Díaz Soto y Gama, ein Freund der Familie Paz, der den Schülern die Geschichte der Revolution aus eigener Erfahrung vermittelte. Hier wurden dem jungen Mann viele der Fragen bewußt, die man in seinem Elternhaus diskutierte: für den Vater waren die Modernisierung und Industrialisierung des Landes, für den Großvater dagegen die Demokratisierung der Gesellschaft die dringend zu lösenden Aufgaben Mexikos. Paz erkannte, daß es in seiner Heimat praktisch zwei Länder gab: das Mexiko des technischen Fortschritts und „das Land in Lumpen, das Mexiko der Millionen armer Bauern und Arbeitslosen, die in die Großstädte ziehen und Nomaden werden“. Wahrscheinlich haben solche sozialen Fragen Octavio Paz zum Studium der Philosophie und der Rechtswissenschaften angeregt. 1937 verläßt er jedoch ohne einen akademischen Abschluß die Universität der Hauptstadt. Er bleibt endgültig Autodidakt und geht nach Yucatán (Südmexiko), um dort eine Schule für Bauern- und Arbeiterkinder zu gründen. Hier begegnet er jener Wirklichkeit, von der er bisher nur durch die Bibliothek seines Großvaters Kenntnis hatte: dem Elend der Bauern. Die Erfahrung der Verlassenheit dieser Menschen und die Begegnung mit der Geschichte des indianischen Volkes sind wohl eher die Gründe für seine späteren Reflexionen über die Einsamkeit der Mexikaner als der Einfluß des philosophischen Existentialismus.
Allerdings ist sein Interesse für das Thema „Die Einsamkeit des Bewußtseins und das Bewußtsein der Einsamkeit“ auch durch andere Erlebnisse geprägt worden: die Poesie der Gruppe um die Zeitschrift Contemporámeos (1928–1931). Dichter wie Xavier Villaurrutia, José Gorostiza, Carlos Pellicer, Ortíz de Montellano, Elias Nandino und Jorge Cuesta hatten die großen Themen der modernen Poesie, der Welt der Träume, der Analogie Gérard de Nervals, der geheimnisvollen „correspondances“ Baudelaires, der Geistesfreiheit eines William Blake in die mexikanische Lyrik eingeführt. Mit ihrem feinen Gespür für die Moderne haben die Contemporáneos (Zeitgenossen) auf Paz einen dauernden Einfluß ausgeübt. Xavier Villaurrutia führt Paz in die poetische Strömung ein, die von Sipervielle bis zu Eluard reicht. Bei José Gorostiza findet Paz Konzentration und Strenge der poetischen Sprache. Villaurrutia und Gorostiza sind in gewissem Sinne hermetische Dichter, deren Werk einen ausgesprochen philosophischen Charakter hat. Sätze wie den folgenden hätte Paz ohne die Begegnung mit diesen Poeten wahrscheinlich niemals geschrieben:
Die Entdeckung unserer selbst bekundet sich als eine Erfahrung unserer Einsamkeit. Zwischen uns und der Welt öffnet sich eine unspürbare, durchsichtige Mauer: die unseres Bewußtseins. (El laberinto de la soledad, 1950 dt. 1970)
Die Dankbarkeit, die Paz für diese Autoren empfindet und oft bekundet hat, schließt jedoch die Distanz zu ihren Positionen nicht aus. Besonders in ihrer Reifezeit ziehen diese Dichter sich auf die Erforschung der Subjektivität, auf die „Analyse des Einsamen Bewußtseins“ zurück. Villaurrutia schreibt die Nocturnos (1933), Nostalgia de la muerte (Sehnsucht nach dem Tode, 1939–1946) und Gorostiza Muerte sin fin (Tod ohne Ende, 1939). Den jungen Paz stört der übertriebene „Intellektualismus“ dieser Poeten schon ein wenig. Für ihn ist die Einsamkeit kein Programm, sondern der Ausgangspunkt, die Brücke, um zur comunión, zum Gemeinsam-Sein, zu gelangen.
Nationale und universelle Dimension der Kultur haben die persönliche Entwicklung und den Charakter der Dichtungen von Octavio Paz geprägt. Er selbst hält diese doppelte Strömung von Universialität und nationaler Tradition, von Kosmopolitismus und americanismo, d.h. kontinentaler Sicht der Kultur, von gelehrter Sprache und Umgangssprache für einen Grundzug, für zwei abwechselnd herrschende Momente in der Geschichte der mexikanischen, lateinamerikanischen und spanischen Lyrik und Literatur. Ramón López Velarde (1888–1921) und José Juan Tablada (1871–1945), zwei Dichter, die am Anfang der modernen Lyrik Mexikos stehen, sind für Paz die Vertreter dieser doppelten Tradition. López Velarde, Autor des Gedichts El retorno maléfico, forderte von den Dichtern eine Rückkehr nach Mexiko, zum Leben und zur Sprache der Provinz. Tablada, Dichter des Nocturno alterno, starb in New York, nachdem ihn ein bewegtes Leben durch Europa, Asien und Südamerika geführt hatte. Er war es, der das japanische Haiku in die Lyrik spanischer Sprache eingeführt hat. Für Paz war Tablada die Aufforderung, in die Welt zu reisen und sich in anderen Kulturen zu Hause zu fühlen, sein Name ist für ihn gleichbedeutend mit der „ersten Begegnung mit dem Orient“:
Seine grenzenlose Sympathie für die Tiere, die Bäume, die Kräuter oder den Mond bringt ihn zur Entdeckung einer seit Jahrhunderten verschlossenen Tür – der Tür, die uns mit dem Augenblick verbindet. In ihren besten Momenten steht die Poesie Tabladas in einem erstaunlichen Einvernehmen mit der Welt. (Estela de José Juan Tablacla, 1957)
Für Paz ist die Sprache die eigentliche Heimat des Dichters, wenn er sagt:
Ich bin kaum mehr als eine Episode in der Geschichte unserer Literatur, die vergängliche und zufällige Verkörperung eines Moments der spanischen Sprache.
Seine Beziehung zur spanischen Sprache und Literatur begann in der Bibliothek der Familie: „Das verdanke ich meinem Großvater Irineo Paz, der ein Bücherliebhaber war und eine kleine Bibliothek zusammengetragen hatte, in der die guten Schriftsteller unserer Sprache reichlich vertreten waren“, sagte der Autor in seiner Rede anläßlich der Verleihung des Cervantes-Preises für Literatur im Frühling 1982. Eine konkretere Beziehung zur spanischen Lyrik findet er in der persönlichen Bekanntschaft mit Rafael Alberti, der 1934 nach Mexiko reiste. Dann kam das Jahr 1936, für Spanien der Beginn des Bürgerkrieges. Der 23jährige Paz wird zur Teilnahme am Zweiten Kongreß der antifaschistischen Schriftsteller für die Verteidigung der Kultur vom Juli 1937 in Spanien eingeladen. Die erste Station seiner Reise war Frankreich: Am Bahnsteig des Pariser Bahnhofs warten Neruda und Aragon auf die Delegierten aus Lateinamerika. „Für mich war Neruda“, so erinnert sich Paz in einem Gespräch mit Julian Ríos „der große Zerstörer und Schöpfer der Dichtung spanischer Sprache… Er war ein Mythos, geboren vom Ozean, wie ein faszinierender Fisch aus den Tiefen des Meeres“. Am gleichen Abend lernt Octavio Paz César Vallejo kennen. In Valencia begegnet er Vicente Huidobro und Miguel Hernández. Noch in Spanien liest er die erste Ausgabe von Luis Cernudas Werk La realidad y el deseo (Die Wirklichkeit und das Verlangen) und macht die Bekanntschaft mit Antonio Machado, José Bergamin und Ramón Gómez de la Serna. In der nächsten Periode seines Schaffens interessieren ihn besonders jene spanischen Dichter, die vom Surrealismus beeinflußt wurden: Luis Cernuda, Federico García Lorca, Rafael Alberti und Vicente Aleixandre.
1938 nach Mexiko zurückgekehrt entfaltet er eine rege Aktivität als Schriftsteller und Herausgeber. Paz ist Mitbegründer der Zeitschrift Taller (Werkstatt, 1938–1941), in der Texte von Hölderlin, Rimbaud und Leopardi erscheinen. 1940 gibt er zusammen mit Villaurrutia die ZeitschriftJ El hijo pródigo (Der verlorene Sohn) heraus, in der die erste spanische Übersetzung der Dichtungen von Isidore Ducasse publiziert wird. Paz’ bevorzugte Lektüre dieser Zeit sind die deutschen Romantiker, Baudelaire, Nerval und Breton. In einem grundlegenden Essay noch aus der Jugendzeit Poesía de soledad y poesía de comunión (1942) spricht Paz eine Idee aus, die für seine späteren Dichtungen und Positionen Geltung behält: Die Poesie will nicht verschönern, (wie manche Literaten glauben), sondern das Leben verändern, wie schon Rimbaud es formuliert hatte. Die Poesie ist für Octavio Paz eine Erfahrung, die gelebt werden muß.
1943 bis 1945 lebt Octavio Paz in den Vereinigten Staaten, das erste Jahr dank eines Stipendiums in San Francisco, das zweite als Freischaffender in New York. Den größten Teil seiner Zeit widmet er dem Studium der nordamerikanischen Lyrik. Eliot hatte er bereits gelesen; die neuen Autoren heißen Cummings, Pound, Yeats. In den USA lernt er die Dichter Robert Frost, Jorge Guillén und Juan Ramón Jiménez kennen. Durch Vermittlung seines Freundes José Gorostiza vertritt Octavio Paz 1946–1951 sein Land im diplomatischen Dienst in Frankreich. In Paris unterhält er Beziehungen zur Zeitschrift Fontaine von Max-Pol Fouchet und beteiligt sich an den Aktivitäten der surrealistischen Gruppe. Schon Anfang der 40er Jahre hatte er die Surrealisten Benjamin Péret, Remedios Varo, Leonora Carrington und Wolfgang Paalen kennengelernt, die während des Krieges in Mexiko Zuflucht gesucht hatten. In der französischen Hauptstadt schließt er jetzt eine enge und dauerhafte Freundschaft mit André Breton, lernt André Pieyre de Mandiargues und Henri Michaux kennen. Am Surrealismus interessiert Paz nicht so sehr der sogenannte „surrealistische Stil“, sondern seine Moral, seine Verteidigung der drei Prinzipien Imagination, Liebe und Freiheit, die fähig sind, das Leben des Menschen zu verändern. Die Imagination ist für Paz das dem Menschen innewohnende Vermögen, über sich selbst hinauszugehen. Daher ist ihm der Mensch „ein liebendes Wesen“, das sich nach einer Gegenwart sehnt und von der Begierde nach dem „Anderssein“ charakterisiert ist.
Der Mann verwirklicht sich in der Frau, das Ich in der Gemeinschaft.
Die erste Reise in den Fernen Osten im Jahre 1952 nach Indien und Japan hat wichtige Folgen für sein weiteres Leben und die Entwicklung seiner Ideen. Er macht die erste Begegnung mit dem Buddhismus:
Ich war durch die deutschen Romantiker und den Surrealismus darauf vorbereitet.
Er entdeckt die Poesie von Matsuo Bashô, die für ihn eine Bestätigung seiner Ansicht ist, daß jede neue Kultur, die man kennenlernt, ein Fenster ist, „das uns ein anderes Bild vom Menschen zeigt.“
Eine der fruchtbarsten Perioden beginnt im Schaffen von Octavio Paz. Seine Erfahrungen sowie sein Verständnis der Mythologie Altmexikos, der surrealistischen Poetik und der Lehren des Orients fließen zusammen in den zwei großen Gedichten dieser Phase: Zerbrochener Krug (1955) und Sonnenstein (1957). Wie Paz erklärt, erscheint im ersten Text die Vergangenheit Mexikos als ständige Gegenwart:
Ob er als aztekischer Priester, als katholischer Bischof oder Inquisitor, als Führer der Unabhängigkeit, als General der Revolution oder als Bankier erscheint, immer handelt es sich um ein und dieselbe Gestalt: der dicke Kazike aus Cempoala, der Verbündete des Eroberers Cortés.
Die Zahl von 584 Versen des kreisförmigen Gedichts Sonnenstein ist astronomischen Ursprungs: „Die Altmexikaner“, so Paz in der Anmerkung zu seinem Gedicht, „zählten den Venuszyklus ab dem Tag 4 Olín; 584 Tage später bezeichnete der Tag 4 Ehécatl die Konjunktion von Venus mit der Sonne und demzufolge das Ende eines Zyklus und den Beginn eines anderen.“ Sonnenstein ist für seinen Freund Julio Cortázar „das bewunderungswürdigste Liebesgedicht, das je in Lateinamerika geschrieben wurde, eine Antwort im erotischen Bereich auf den Durst nach totaler Begegnung des Menschen mit seiner eigenen Transzendenz.“
Die Zeit von 1959 bis 1961 verbringt Octavio Paz als Diplomat in Paris, wo er die in dem Band Salamandra (1962) zusammengefaßten Gedichte schreibt. Seine nächste und letzte diplomatische Vertretung als Botschafter Mexikos übernimmt er in Indien (1962-1968). Wie Paz später erklärte, nahm er solche Aufträge an, weil er im großen und ganzen mit der fortschrittlichen Außenpolitik Mexikos einverstanden war, zu deren Programm die Solidarität mit den spanischen Republikanern und die Anerkennung ihrer Regierung im Exil, die Unterstützung der Antifaschisten, die in Mexiko Asyl gefunden hatten, die Herstellung diplomatischer Beziehungen zu allen Staaten der Welt, unabhängig von ihrer Gesellschaftsordnung, die Verurteilung aller Putschversuche gegen verfassungsmäßige Regierungen und aller bewaffneter Interventionen in den Ländern Lateinamerikas gehörten. Das traf jedoch nicht auf die Innenpolitik Mexikos zu. Die Verwandlung einer Volksbewegung, wie es die Mexikanische Revolution ursprünglich war, in die Angelegenheit der Bourgeoisie, die mit der politischen Macht auch ihre ökonomische Macht konsolidiert hatte, hat mexikanische Intellektuelle wie Paz gegen die bürgerlichen führenden Eliten besonders mißtrauisch gemacht. Seine Mitarbeit in der mexikanischen Regierung endet im Herbst 1968, als Paz aus Protest gegen die Ermordung der Studenten auf dem Platz Tlatelolco in Mexiko-Stadt vom diplomatischen Dienst zurücktritt: „Ich verließ die Botschaft in Indien, um meine moralische Nichtübereinstimmung mit der Politik der mexikanischen Regierung zum Ausdruck zu bringen“, erklärte der Schriftsteller 1977 in einem Interview. 1969, nach Europa zurückgekehrt, wirken der Aufenthalt in Indien, die Erlebnisse und Studien (Buddhismus, Zen-Buddhismus, Hinduismus, Tantrismus und Taoismus) in seinen Ideen und poetischen Projekten weiter. Dichterische Frucht dieser Jahre ist der Lyrikband Ladera Este (Östlicher Abhang, 1969). In diesem Zyklus setzt Paz seine bereits mit den Dichtungen Hymne zwischen Ruinen, Salamander und Blanco (Weiß, 1967) begonnenen Versuche im Bereich der Sprache fort: Pluralität von Stimmen und Räumen, die sich in einer Hauptstimme vereinen (wie im Fall des ersten Textes), Pluralität von Stimmen/Räumen/Zeiten, die als Resultat eine „verbale Collage“ ergeben (wie im Salamandra), sowie die weitere Beschäftigung mit der Kombinatorik, wie sie von Paz im Poem Blanco praktiziert wurde: Pluralität von Texten innerhalb eines Textes. Das Gedicht kann in zwei selbständige Texte geteilt werden, wobei der zweite entweder als zwei oder als vier voneinander getrennte Texte gelesen werden kann. Hatte Paz in seinem Essay Fernando Pessoa – Der sich selbst Unbekannte (1965) hervorgehoben, daß im Werk dieses Dichters eine Pluralität von Stimmen (Alberto Caeiro, Alvaro de Campos, Ricardo Reis) zur Sprache kommt, so entdeckt er später mit Begeisterung in den poetischen Schulen des Orients die japanische Tradition des Kettengedichts Renga, das von mehreren Poeten gemeinsam geschriebene Gedicht. Paz sieht zwischen dem Renga und den surrealistischen Spielen eine Analogie:
Das Schaffen von Poesie erfordert Selbstaufgabe, den Verzicht auf das Ich.
Der Verzicht auf die persönliche Identität des Dichters impliziert für Paz jedoch nicht einen Verlust des Seins „sondern gerade seine Wiedererlangung“. Im April 1969 entsteht auf Initiative von Paz in Paris das erste europäische Renga, das er zusammen mit Jacques Roubaud, Charles Tomlinson und Edoardo Sanguineti verfaßt. Das Unternehmen bestand in der „Komposition eines Textes durch mehrere Dichter in mehreren Sprachen; innerhalb einer Rotationsbewegung schreibt jeder Poet eine Strophe, auf die der nächste eingeht, wobei seine Intervention mehrere Male erfolgt.“ Zusammenfassend sagte Paz über seine Erfahrung mit dem Renga:
Novalis hat etwas Bewunderungswürdiges gesagt, und damit wollen wir abschließen. Sein Satz ist die einzige Rechtfertigung all dieser Experimente mit der Kombinatorik und der pluralen Dichtung wie Renga. Die Maxime von Novalis lautet: „Dichter ist nicht derjenige, der tut, sondern derjenige, der es zuläßt, daß getan wird“.
Als Paz 1971 aus England nach Mexiko zurückkehrt, findet er seine Vaterstadt vom Zeichen des Geldes markiert und ein Kulturleben, das vom phantasielosen Geschmack der Mittelklasse geprägt ist. Er zieht sich in seine Tätigkeit als Schriftsteller und Herausgeber wichtiger Kulturzeitschritten wie Plural und Vuelta zurück. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt jetzt auf dem Gebiet der Kultur- und Literaturgeschichte, der Kultur- und Literaturkritik. Seine Reflexionen in den wichtigsten Essays dieser Zeit gelten den Kulturtraditionen des mexikanischen Volkes. Die kulturelle Identität Mexikos zu bewahren heißt nicht, so betont er, in jenen bornierten Nationalismus zu verfallen, der seit je von der Oberschicht gefordert wurde. Als Beispiel sei an die Reaktion eines guten Teils der Gebildeten der Hauptstadt erinnert, als der Film Die Vergessenen von Luis Buñuel aufgeführt wurde. Sie bezeichneten den Film als eine Diffamierung Mexikos und forderten die sofortige Ausweisung des Regisseurs aus dem Lande. Im Gegensatz zu diesen Kreisen verteidigte Paz den Film als echtes Zeugnis des Lebens der Jugend in Mexiko. „Alles änderte sich nach dem Festival von Cannes, wo der mexikanische Dichter Octavio Paz – ein Mann, von dem mir Breton als erster erzählt hatte und den ich seit langem bewunderte –, eigenhändig einen von ihm verfaßten Artikel am Kino-Ausgang verteilte. Es ist ein sehr schöner Artikel, sicher der beste, den ich über den Film gelesen habe“, schreibt Buñuel in seiner Autobiographie. Der Gegenpol des Nationalismus, mit dem sich Paz ebenfalls auseinandergesetzt hat, ist der Eurozentrismus und das Epigonentum eines Teils der Intellektuellen in Mexiko und Lateinamerika: Das Übel, das darin besteht, sich geistig ausschließlich von Übersetzungen aus den letzten europäischen Strömungen zu ernähren und dabei die Realität und die spezifische Natur der eigenen Kulturtradition zu verkennen. In dieser Frage gibt es Berührungspunkte zwischen Paz und Autoren wie José Lezama Lima und Miguel Angel Asturias. So pflegte der guatemaltekische Romancier zu sagen, daß die lateinamerikanischen Künstler und Schriftsteller jahrhundertelang aufmerksam auf die Stimme der europäischen Kultur gehört hätten, jetzt aber seien die Europäer an der Reihe, der Stimme Lateinamerikas zuzuhören, die Epoche, in der man den Lateinamerikanern Lektionen von außen erteilte, sei zu Ende. Paz verlangt von den mexikanischen Schriftstellern, Historikern, Anthropologen, Philosophen und Wissenschaftlern, auf der Grundlage der eigenen geschichtlichen Erfahrungen und der eigenen Vorstellungen die Gegenwart Mexikos zu denken und entsprechende Vorschläge für die Zukunft zu entwerfen. Das setzt wissenschaftliche Strenge, aber auch Erfindungsgabe und Phantasie im Denken voraus. In diesem Zusammenhang hält Paz es für notwendig, das Bild, das heutzutage in der Welt von Lateinamerika kursiert, zu korrigieren. Hispanoamerika sei wohl ein „armer und ausgebluteter Kontinent, eine an der Grenze angesiedelte, exzentrische Kultur“, aber nicht nur das, sondern auch „Imagination, Sensibilität, Höflichkeit, Sinnlichkeit, Freude, ein gewisser Stoizismus gegenüber dem Leben und dem Tod – Genie.“
Die Geschichte des modernen Zeitalters hat dem kritischen Denken von Paz den Stoff seiner politischen Reflexionen geliefert: „Die bürgerliche Revolution proklamierte die Menschenrechte, während sie sie gleichzeitig im Namen des Privateigentums und des freien Handels mit Füßen trat; sie erklärte die Freiheit für heilig, aber machte sie zugleich von den Geldverhältnissen abhängig; sie behauptete die Souveränität der Völker und die Gleichheit der Menschen, während sie den Planet eroberte, alte Königreiche der Sklaverei unterwarf und in Asien, Afrika und Amerika die Schrecken der Kolonialregime etablierte“, schreibt Paz 1956 in Der Bogen und die Leier.
Geschichtliche Ereignisse, wie die Mexikanische Revolution (1910), die Spanische Republik und der Bürgerkrieg (1936), haben Paz’ politische Anschauungen entscheidend geprägt. Vor allem die nachrevolutionäre Entwicklung in Mexiko ließ ihn die Erfahrungen gewinnen, die seine Auffassung über die Rolle und Funktion des Intellektuellen in der Gesellschaft bestimmten. Die Geschichte der mexikanischen Intellektuellen in diesem Jahrhundert ist die Geschichte ihrer Beziehungen zur politischen Macht. Seit der Revolution bis Ende der 60er Jahre haben bedeutende Vertreter des geistigen Lebens offizielle Funktionen ausgeübt. Persönlichkeiten wie Alfonso Reyes, Jaime Torres Bodet, Fernando Benítez, Juan Rulfo und Carlos Fuentes haben gleich Octavio Paz im diplomatischen Dienst gestanden bzw. in Staatsorganen gewirkt. Eine Zusammenarbeit, die den Widerspruch nicht ausschloß.
In den letzten Jahren sind die kulturgeschichtlichen Auffassungen von Paz zum Gegenstand heftiger Kritik nicht nur junger Intellektueller Mexikos (so etwa Jorge Aguilar Mora und Evodio Escalante) geworden. Ihm wird vorgeworfen, konservative Positionen in kultureller und politischer Hinsicht zu vertreten, da in seinem Denken die geschichtlichen Unterschiede zugunsten einer Rückkehr zum „mythischen Ursprung“ und zur „mystischen Analogie“ eingeebnet werden. Diese Polemik zielt auf eine Tendenz seiner Lyrik, die Widersprüche des Lebens und der Geschichte in einer höheren Wahrheit zu versöhnen. Das Prinzip der Identität und der Analogie hat für Paz die Bedeutung, im Sinne einer Selbsterkenntnis zur ursprünglichen Natur des Menschen zurückzufinden, wie sie in den altmexikanischen Dichtungen und Mythen versinnbildlicht ist.
Was die Stellung von Octavio Paz zur gegenwärtigen politischen und sozialen Krise in Mittelamerika betrifft, so unterstützt er wie die meisten fortschrittlichen Schriftsteller Lateinamerikas die Positionen der Contadora-Gruppe, zu der auch Mexiko gehört. Für Paz steht auch hier die Suche nach dem Dialog an erster Stelle. Es geht um eine politische Lösung des Konflikts unter Verzicht der Einmischung oder gar der militärischen Intervention von außen.
Eine persönliche Erinnerung sei gestattet: Ich sprach im Dezember 1971 mit Miguel Angel Asturias und fragte ihn unter anderem nach seiner Meinung zu Octavio Paz, denn ich wußte, daß er sowohl die Autorität von Paz als Literaturkritiker anerkannte als auch in ihm den großen Dichter bewunderte. Asturias bestätigte seine Wertschätzung für Paz und fügte hinzu:
Übrigens habe ich den Eindruck, daß Paz in der letzten Zeit mehr Essays als Gedichte schreibt. Es ist schade, er ist ein großer Dichter. Er sollte mehr Gedichte schreiben.
1976 veröffentlicht Paz in Barcelona seinen letzten Gedichtband Vuelta (Rückkehr). Nach zehn Jahren poetischen Schweigens kündigte er Anfang September 1986 in Spanien das Erscheinen seines nächsten Gedichtbandes für 1987 an. „Ein dünnes Buch hält besser stand“, erklärte Paz, der nach Spanien gekommen war, um mit einem Vortrag über das Thema „Die Romantik in der modernen Literatur“ das Herbstsemester an der „Internationalen Universität Menéndez Pelayo“ zu eröffnen, und er fügte hinzu: „Man kann nicht den ganzen Tag Poesie schreiben, weil sie sich sonst in Religion verwandelt und es besteht die Gefahr, daß man dabei zum Frömmler wird“.
Wie bei Novalis sind in der Person des mexikanischen Schriftstellers Dichter und Philosoph vereint. Vielleicht läßt deshalb Andre Breton in seinem Text zur Internationalen surrealistischen Ausstellung L’Ecart absolu (1965/66) Heraklit mit Octavio Paz einen Dialog führen:
− „Die Menschen begreifen nicht, daß es (das All-Eine), auseinanderstrebend, mit sich selber übereinstimmt: widerstrebende Harmonie wie bei Bogen und Leier.“
− „– die Leier, die den Menschen heiligt und ihm einen Platz im Kosmos verleiht; der Bogen, der ihn über sich selbst schleudert … Im Gedicht versöhnen sich für einen Augenblick das Sein und das Verlangen zu sein, wie die Frucht mit den Lippen.“
Carlos Marroquín, Nachwort, Leipzig, September 1986
wo das Schweigen endet, erfinde ich die Verzweiflung, den Verstand, der mich entwirft, die Hand, die mich zeichnet, das Auge, das mich entdeckt. Ich erfinde den Freund, der mich erfindet, meinen Nächsten; und die Frau, meinen Gegner.“ Diese Freiheit der Phantasie, die sich alles selbst zu schaffen erlaubt, verbindet der mexikanische Dichter Octavio Paz (geb. 1914) mit einer kritischen Haltung zur Sprache und ihren Möglichkeiten. Ob er sich mit einer so grundlegenden Frage wie der nach dem Verhältnis von Dichtung und Geschichte auseinandersetzt, ob er an aztekische Götter erinnert oder steingewordene Mythen lebendig werden läßt, ob er die Schönheit eines Körpers in seiner erotischen Anziehung beschreibt oder einem verehrten Dichter ein Denkmal setzt, seine Verse bilden feingesponnene Gewebe aus klangvollen Metaphern, die sich im Rhythmus verschiedener Versformen disziplinieren. Seine Dichtung ist leidenschaftliche Suche nach Kommunikation zwischen den Menschen, nach dem Dialog zwischen Kulturen und ihren Traditionen. Sie reifte mit der Aufnahme und der schöpferischen Weiterentwicklung so unterschiedlicher Einflüsse wie des französischen Surrealismus, der poetischen Kombinatorik des Orients und der lyrischen Tradition altmexikanisch-indianischer Kultur.
Die vorliegende Auswahl ermöglicht mit Beispielen aus allen Schaffensperioden einen Einblick in das dichterische Gesamtwerk von Octavio Paz, das zu den bedeutendsten Leistungen der lateinamerikanischen Lyrik im 20. Jahrhundert gehört.
Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1987
− Gedanken zum Werk des mexikanischen Dichters Octavio Paz. −
Eine Begegnung mit dem Werk von Octavio Paz kommt einer Begegnung mit dem Andersartigen, mit dem „Anderen“ (otredad/otro), gleich. Nicht nur weil viele seiner Schriften den Leser mit der „Ex-zentrizität“ mexikanischen Denkens und Fühlens konfrontieren, sondern vor allem weil Denken und Schreiben sich bei Paz als Dialog und im Dialog vollziehen. Wenn aber dem Ich immer ein Du gegenübersteht, geht es nicht darum, Ich und Du in einem „Dritten“ zu vereinen, sondern darum, im Ich das Du und im Du das Ich zu erkennen. Das heisst: es geht letztlich nicht um Synthese, sondern um Durchsichtigkeit oder um den Raum, der sich zwischen Ich und du, zwischen Ja und Nein, spannt, um ein „Spannungsfeld“, das der Dichter in einem 1971 publizierten „Ideogramm der Freiheit“ („Ideograma de libertad“) festzuhalten versuchte:
aaaaaSINO
aaaaa⎠ ⎝
aaaaNO Sí
„Sino: No – Sí“ („Schicksal: Nein – Ja“); wobei das spanische Sino auf das lateinische Signum verweist, ein Wort, aus dem auch Signo („Zeichen“, „Konstellation“) hervorgegangen ist. Was „sagt“ uns also das „Ideogramm“? Zunächst, dass Freiheit und Schicksal zusammengehören, dass Freiheit in jenem Spannungsfeld zwischen Ja und Nein aufleuchtet, aus dem das (Wort) „Schicksal“ besteht. Wenn Freiheit hier zunächst mit einer Infragestellung, des Bestehenden – mit einem No – beginnt, soll sie nicht mit einer Verneinung gleichgesetzt werden. Das Nein ist nur der erste, notwendige Schritt einer Distanzierung: ein Abrücken, das Raum schaffen soll und in dem das Schicksal als Zwang „aufgebrochen“ wird. Das „Zentrum“ des Gedichts ist hier eine Öffnung, ein Zwischenraum (nicht nur das Intervall zwischen No und Sí, sondern auch das, was Sino von No – Sí trennt) – ein Freiraum der reinen Erwartung. Und was sich in diesem „Silbenspiel“ abzeichnet, ist eine Konstellation. Besser gesagt: das Silbenspiel selber ist eine Konstellation, ein Si(g)no, in der das Schicksal als Freiheit als das in Frage gestellte, in Bewegung geratene Schicksal erkannt wird.
„Durchsichtigkeit ist alles, was bleibt“, steht im grossen, von Mallarmés „Un coup de dé“ und vom tibetischen Tantrismus inspirierten Gedicht „Blanco“ (1967). Sie ist der „Ort“, in dem alles zusammenfliesst, in dem alles sich in allem erkennt. Aber das bedeutet auch, dass Durchsichtigkeit die höchste Erfüllung des analogischen Denkens ist. Was ist Analogie? Sie ist, nach Paz, die „Wissenschaft“ der Bezüge und Entsprechungen: eine ciencia, die von den Unterschieden lebt. Denn nur weil „Dieses nicht Jenes ist, ist es möglich eine Brücke zwischen Diesem und Jenem zu schlagen. Die Brücke ist das Wort ‚wie‘ oder das Wort ‚ist‘: Dieses ist wie Jenes, Dieses ist Jenes“.
Wenn nun alles mit allem verbunden wird, wenn Stern und Zikade miteinander „sprechen“ wird die Welt, von einem riesigen Netz umspannt, selber zu einem Kommunikationssystem, in dem nichts bedeutungslos ist, in dem nichts in sich zurückfällt, nichts auf sich selbst zurückgeworfen wird. Nicht nur verweist das Blinken der Sterne auf das Zirpen der Zikaden, sondern Stern und Zikade vertauschen ihren Standort: im nächtlichen Himmel wird das intermittierende Leuchten „hörbar“. So ist Durchsichtigkeit das, was sichtbar wird, wenn jedes mit allem in Beziehung gebracht wird, wenn alles in jedem erscheint und durchscheint. Sie ist das Glück (felicidad) der Differenz: erfüllte Analogie.
„Analogie, universelle Transparenz: in Diesem Jenes sehen“: In der Meditation über Sprache und Dichtung. „El mono gramático“, findet das Gedicht als „Verdichtung“ solcher Durchsichtigkeit sein Symbol im Kristall. Dieses Symbol wiederum wird vom Dichter als allzu unbeweglich und starr empfunden. Die innere Kohärenz des „Kristallgedichts“, die dank vielfältigen Bezügen, dank Spiegelungen und Refraktionen immer wieder hergestellt wird und in deren „Vollzug“ erst Sinn entsteht, könnte sich in der Tat so sehr „verdichten“, dass sie zu jenem Kerker des Einen würde, gegen den sich Octavio Baz ein Leben lang aufgelehnt hat. Nicht der Kristall, nicht das zu Eis erstarrte Feuer soll zum „Modell“ der Analogie – und somit der Dichtung – werden, denn der Kristall weist auf eine „Versteinerung“ hin und somit auf jenen „Tod in der Form“, aus dem heraus kein neues Leben entstehen kann.
Dem Kristall soll ein „Bild“ entgegengesetzt werden, in dem der „Punkt“, der alles zusammenhält, reine Öffnung bleibt. Ein Bild, das sowohl Bewegung als auch Ruhe, sowohl Dasein als auch Nichtsein, sowohl reihe Zeit als auch Zeitlosigkeit verkörpern kann. Jahrelang war es das Wasser, das im Springbrunnen zugleich fliessende und stillstehende, bewegte und unbewegte Wasser, in dem der Dichter ein solches „Bild“ erkannte. In den achtziger Jahren jedoch wird der Springbrunnen von einem neuen Bild „überblendet“. Die tanzende Säule wird durchsichtiger und „körperloser“; zur Schwerelosigkeit, zum schwebenden Auf und Ab gesellt sich ein gespenstisches Hin und Her, aber auch ein fortwährendes Entstehen und vergehen. Das Wasser wird Wind, der Springbrunnen zur Windhose, zum Staubwirbel. Gleichzeitig findet der Dichter auch zu seinem eigenen Land zurück. Staubwirbel gehören zur mexikanischen Landschaft und sind zugleich ein Bild jener jähen, unberechenbaren Zornesausbrüche eines in Resignation verharrenden Volkes. Staubwirbel: entstehend und vergehend, sind sie formgewordener Augenblick; zeitlos wie die Zeit selber, sind sie und sind doch nicht. Als reine Bewegung stehen sie unbeweglich da.
Ich öffne das Fenster,
das sich nirgendshin öffnet.
das Fenster,
das sich nach innen öffnet.
Der Wind
lässt
leichte, vergängliche
Türme aus Staub hochwirbeln.
Sie sind
höher als dieses Haus.
Sie finden Platz
auf diesem Papier.
Sie fallen und erheben sich.
Bevor sie etwas sagen,
werden sie beim Wenden des Blattes
zerstreut.
Immer häufiger wird der Staubwirbel, die flüchtige, plötzlich aus dem Nichts aufsteigende und tanzende Luftsäule mit dem eigenen Werk gleichgesetzt. „Nein / im Sog von dem, was entschwindet / der Wirbel der Erscheinungen / Ja“, lesen wir schon in „Blanco“, in Versen, die das „Ideogramm der Freiheit“ vorwegzunehmen scheinen. Und was hier, im Spannungsfeld zwischen No und Sí, sichtbar wird, was hier aufgewirbelt wird, um sich gleich wieder aufzulösen, das sind die Worte und Bilder des Gedichts selber. Ein Gedicht, das eigentlich nichts anderes ist als ein das Schicksal (Sino) aufbrechender, „gestalteter“ Freiraum, ein Gebilde des Augenblicks, in dem Schicksal zur Freiheit wird.
Mit Wörtern und ihren Schatten schuf ich ein wanderndes Haus aus Spiegelungen, einen Turm, der sich bewegt, ein Gebilde aus Wind.
Und in diesem durchsichtigen Gebäude erkennt sich Paz selber. So lesen wir in einem 1988 publizierten Gedicht:
Für einen durchsichtig klaren Augenblick war ich
der Wind, der still steht,
sich um seine eigene Achse dreht und sich wieder auflöst.
Und es ist kein Zufall, das „El mono gramático“ dem indischen Affenkönig und Gott Hanuman gewidmet ist. Die Figur Hanumans drängte sich Paz vorerst durch die konkrete Erfahrung einer Pilgerfahrt in Indien auf. Aber Hanuman selbst ist auch Wind. Ein Begründer der Grammatik (der neunte „Grammatiker“ Indiens), ein Freund Valmikis, des Schöpfers des Ramayana-Epos, ist Hanuman selber Dichter. Ein leibhaftiges „Monogramm der Sprache“ − mono/grama del lenguaje −, wird der Affenkönig (mono heisst „Affe“) zum „Ideogramm des Dichters“. Als Herr und Diener aller Metamorphosen, als grosser Imitator und Wiederholungskünstler, ist er vor allem auch der grosse Befruchter: der „semantische Samen“ schlechthin. „Weil er Luft ist, ist er auch Ton und Sinn: ein Wortsender, ein Dichter. Sohn des Windes, Dichter und Grammatiker, ist Hanuman der göttliche Bote, der heilige Geist Indiens.“
Dichtung ist letztlich reiner Raum, wortgewordene Durchsichtigkeit, ein Blick, der sich selbst durchdringt, ein Ort, in dem „Worte“ zu „Augen“ werden –
Poesie
sät Augen aufs Papier,
Worte in die Augen.
Augen sprechen,
Worte blicken,
Blicke denken. (…)
Die Augen schliessen sich,
Die Worte öffnen sich.
Doch der sich zwischen Ja und Nein öffnende Raum der „Durchsichtigkeit“ weist seinerseits auf jene Distanz hin, welche Reflexion, kritisches Denken, ermöglicht. So ist Kritik zunächst reine „Auseinander-setzung“, und ihre Aufgabe besteht darin, jenen (Frei-)Raum zu schaffen, in dem schöpferisches Denken erst möglich wird. „Wir wissen, dass Kritik an sich weder Literatur noch Kunst oder gar Politik schafft. Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Wir wissen auch, dass nur sie jenen Raum schaffen kann – jenen physischen, sozialen, moralischen Raum −, in dem Kunst, Literatur und Politik sich entwickeln können.“ Einen solchen Raum zu schaffen ist heute Pflicht eines jeden Schriftstellers.
Indem sie nun den Weg zwischen Ja und Nein sowohl öffnet als auch selber beschreitet und misst, ist Kritik auch das, was uns vom Monolog zum Dialog hinführt, zu jenem anderen also, in dem Ich mich erkennen soll. Wiederum geht es hier um „Freiheit“, um jenen „Spalt“, der das Schicksal aufbricht. Wiederum wird ein kompaktes Sino in Sí und No aufgespalten, werden die beiden Silben des Wortes „Schicksal“ umgekehrt. Und im Wechselspiel von No / Sí und Sí / No beginnt jene Bewegung, die der Dichter die „Rotation der Zeichen“ nennt.
Indem sich aber Kritik immer wieder zu jenem Freiraum zwischen Sí und No bekennt, zu jenem Dazwischen (entre), offenbart sich auch ihre sprachliche Struktur. Eigentlich können Sprache und Kritik gleichgesetzt werden. Sprache setzt nämlich Distanz voraus, sie entsteht aus Distanz, ist in ihr verankert. Das „Ding“, das wir nennen, ist nicht das „Ding“ an sich, sondern sein „Fehlen“. Dieses „Fehlen“ wiederum wird im Wort insofern aufgehoben, als das Wort die Anwesenheit des Genannten „heraufbeschwört“. Worte sind Schritte, mit denen wir die Distanz messen, die uns von den Dingen trennt. Und doch sind sie, gerade weil sie Intervalle markieren, auch das, was uns zu den Dingen hinführt, was uns mit ihnen verbindet. Das Wort ist eine Narbe, die sowohl auf die Wunde wie auf ihre Heilung hinweist. Mehr noch: es ist einer Brücke vergleichbar, die zwei Ufer zusammenführt und doch stets auf ihre Trennung verweist. Und wenn es im Spiel der Entsprechungen und Bezüge, das Analogie heisst, darum ging, zwischen Diesem und Jenem die „Brücke“ des Wortes „wie“ oder des Wortes „ist“ zu schlagen, wird jetzt im Sprechen das Wort an sich als Brücke erkannt. „Zwischen jetzt und jetzt, zwischen ich bin und du bist, das Wort Brücke.“
„Worte sind Brücken.“ Und so kann das Schreiben (soll das Schreiben) zum Brückenschlag werden. Denn gerade weil das Wort mit dem, was es bezeichnet, nicht identisch ist, gerade weil es Distanz und Intervall ist, kann es verbinden und zusammenführen. „Wir brauchen Werke, die Brücken sind, Menschen, die Brücken sind.“ In einer Welt, die zum Dogmatismus, zum „monolithischen Denken“ neigt, in einer Welt, die im „Anderen“ und „Andersartigen“ nur den Feind erkennt, soll Kritik zu einer „Architektur der Brücken“ werden. Somit soll der Kritiker, der Schriftsteller das tun, was Sprache eigentlich ist.
Hier wird aber auch die „Verwandtschaft“ der Kritik mit einer anderen Tätigkeit, der Übersetzung, erkennbar. Es ist kein Zufall, dass der Dichter und Kritiker Octavio Paz zum Übersetzer wurde. Aus einem anfänglichen Misstrauen – Paz spricht 1956 noch von der „Unmöglichkeit, Gedichte zu übersetzen“ – wird eine rückhaltlose Bejahung der Übersetzung. Und wenn, nach Paz, Dichtung und Kritik letztlich untrennbar sind, wenn das Gedicht gar seine eigene Kritik als Lektüre schon enthält, wird in beiden, in der Dichtung wie auch in der Kritik, eine Art Übersetzung erkannt.
Was ist Kritik? Sie ist zuallererst Lektüre. Durch sie wird das geschriebene, auf das Papier „gebannte“ Zeichen wieder in Bewegung gebracht, so daß jene „Rotation der Zeichen“ beginnt, die im Spiel Sino / No – Sí modellhaft dargestellt wurde. Etwas Ähnliches geschieht nur beim Übersetzen. Ein in seinen eigenen sprachlichen Bezügen „erstarrter“ Text wird gelesen, aufgebrochen, in Fluss gebracht. In eine neue Sprache umgesetzt, wird er anders – und ist doch immer der gleiche. Was ist Schreiben, was ist Sprechen, wenn nicht Übersetzen? „Sprechen lernen ist übersetzen lernen, wenn das Kind nach der Bedeutung von diesem oder jenem Wort fragt, will es, daß man ihm den unbekannten Ausdruck in seine Sprache übersetzt.“ – „Die Sprache selbst ist Übersetzung: (…) Sprechen ist ein ununterbrochenes Übersetzen innerhalb der gleichen Sprache.“
Die Faszination, welche die Übersetzung auf Paz ausübt, wird aber erst dann voll erklärbar, wenn der Akzent auf das Anderswerden des Gleichen gesetzt wird, auf die Verwandlung. „Was wir übersetzen, verändern wir, und – vor allem: wir verändern uns selbst dabei. Für uns ist Übersetzung Transmutation: Metapher: ein Ausdruck des Wechsels und des Bruchs.“ Einmal mehr wird das Eine aufgebrochen, das vorgeschriebene Schicksal auf die Freiheit des Anderssein hin gelesen. Nur ist es hier der Text, der aus dem „Kerker“ seiner selbst befreit wird, damit er, „andersseiend“, sich wieder findet.
Von dieser Bewegung her betrachtet, ist die gängige Vorstellung, dass Übersetzung Verrat am Original sein könnte, unmöglich geworden. Da die Veränderung, die der ursprüngliche Text in der Übersetzung notwendigerweise erfährt, zum poetischen Akt schlechthin gehört, könnte der Verrat nur darin bestehen, dass die Übersetzung allzu „wörtlich“ wäre. In diesem Fall fände keine echte Übertragung statt, sondern bloss eine „Maskierung“: ein Zurückfallen des Textes in seine – eigene – (Toten-)Maske. Nicht der Übersetzer ist ein Verräter, sondern der Purist, der einer falschen Texttreue Verhaftete.
Wie der Zwischenruf auf „Kritik“, die Durchsichtigkeit auf „Dichtung“ hingewiesen hatte, weist die Brücke auf die „Übersetzung“ hin. Alle drei, d.h. Dichtung, Kritik und Übersetzung, drehen sich letztlich um den gleichen Punkt: um jenen lebendigen Angelpunkt, den der Dichter Metapher nennt. Alle drei sind „metaphorische Akte“, schreitendes Sprechen, das – immer dasselbe sagen – stets etwas anderes sagt. Alle drei bezeichnen sich gegenseitig. Denn während Kritik als Lektüre sich der Übersetzung nähert, ist das Spiel der „universellen Beziehungen“ der „Analogie“, von dem die Dichtung lebt, nichts anderes als ein „System der Übersetzungen“.
Die Kraft, aus der wir sprechen und die zugleich das Schicksal aufzubrechen vermag, die Kraft, die den Freiraum zwischen No und Sí „bewohnt“ und das „Ideogramm der Freiheit“ entwirft, diese Kraft nennt Paz „Metaphern“. Am Anfang also war nicht das Wort, sondern die Metapher. Aber das bedeutet auch, dass es keinen wirklichen Anfang gibt: „Es gibt keinen Anfang, es gibt kein Ursprungswort, jedes Wort ist die Metapher eines anderen Worts, das die Metapher eines anderen ist, und so fort. Alle sind sie Übersetzungen.“ So wird die Suche nach dem Anfang, nach dem Ursprung, illusorisch, denn sie kann uns nur bis zu jenem Akt führen, den man paradoxerweise „ursprüngliche Metapher“ nennen könnte; erste Übersetzung. Sie kann nur bis zu jenem Punkt gelangen, der eigentlich reine „Bewegung“ und Öffnung ist: ein „Schritt“ zum Anderen hin – jenes „Dazwischen“, das sich im Schicksal als stets neuer Aufbruch zur Freiheit offenbart.
Maya Schärer, Neue Zürcher Zeitung, 22./23.4.1989
3. Die Fragen der Zeit
Im Jahr 1937 ist für Octavio Paz die Zeit eine Summe aus tausend Fragen und Forderungen. Zeit ist Geschichte, die vom Menschen verlangt, ihr gewachsen zu sein. Auf den spanischen Bürgerkrieg antwortet Octavio Paz mit Taten: Von Mexiko aus engagiert er sich in verschiedenen Gruppen für die Spanische Republik; er schreibt, wie bereits gesehen, sein sozial kritisches Gedicht „¡No pasaran!“ – und vermacht den Erlös der guten Sache; in Yucatán gründet er, zusätzlich zu seinen Aktivitäten in den Arbeiterschulen, ein Komitee für die spanische Demokratie.
Zeit ist auch Geschichte der Lyrik, eine Geschichte, die vom Dichter verlangt, Formen zu finden, die ihrer Essenz entsprechen. So ist die Zeit auch Zeit des Gedichts: Formwille. Die Zeit ist rituelle Zeit der Wörter, Zeit der Begegnungen mit der Geliebten, erinnert und ersehnt. Und so ist Raíz del hombre, das von Jorge Cuesta so begeistert besprochene Buch, auch eine Antwort auf das, was er als Forderung der Zeit ansah. Die erste Ausgabe besteht aus fünfzehn Gedichten und einer Einleitung. In der letzten Ausgabe verbleiben von diesen Gedichten nur noch drei, überdies mit Änderungen. Seinerzeit war Raíz del hombre Octavio Paz’ erstes Langgedicht, allerdings weniger streng durchkomponiert als seine späteren, oder vielmehr mit weniger Bewußtsein für den Charakter des Langgedichts. Ein Thema, für das er sich mit der Zeit lebhaft interessiert, sowohl in der Praxis – er schreibt mindestens zehn solcher Gedichte – als auch in der Theorie oder der Kritik: Er hält Vorträge und schreibt substantielle Essays dazu.
Die Erotik in Raíz del hombre ist ein Abgrund, in dem der Mensch plötzlich auf seine biologische, seine gesamte Geschichte stößt. Im Augenblick der Begegnung mit der Geliebten fallen Vergangenheit und Zukunft zusammen, Leben, Liebe und Tod:
Ausgestreckt und aufgerissen,
rechts neben meinen Adern, stumm;
an sterblichen Gestaden unendlich,
reglos und Schlange.
Ich taste über deine trunkene Oberfläche,
die stillen, keuchenden Poren,
das rasende Kreisen deines Blutes,
seinen wiederholten Schlag, grün und matt.
Zuerst ist es ein Morgenhauch,
sanfte Gegenwart aus Pochen,
das deine Haut durchpulst, ganz Lippen,
flirrender Rhythmus der Zärtlichkeiten.
(…)
In weiße Spiralen geworfen,
streifen wir unseren Ursprung, unsere Wurzeln;
Zeitalter weichen, Träume, Zeiten:
die Pflanze ruft uns,
der Stein erinnert uns,
und die dürstende Wurzel
des Baumes, der aus unserem Staub erwuchs.
Zwischen diesen Schatten erspür ich dein Gesicht,
die tiefe Klage deines Geschlechts,
deine Nähe, das Nichts des Lebens,
den Ursprung ahnend in deinem Atemhauch
und den Tod, den du verborgen in dir trägst.
In deinen Augen segeln Kinder, Schatten,
Blitze, meine Augen, und die Leere.
Der verliebte Dichter sah in der Frau eine Chiffre für die allem zugrundeliegende Zeit des Menschen. Zugleich sah er in der Sisalagave („Entre la piedra y la flor“) eine Chiffre für die rituelle, aber ausgebeutete menschliche Arbeitszeit, das heißt: auch eine Chiffre für Leben und Tod.
Die Agave,
grüne Lektion in Geometrie
auf weißer, ockerner Erde.
Landwirtschaft, Handel, Industrie, Sprache.
Eine Dauerpflanze ist sie, eine Faser,
eine Aktie an der Börse und ein Zeichen:
Die menschliche Zeit,
Zeit, die sich akkumuliert,
Zeit, die sich verschwendet.
Aber in beiden Chiffren sah er auch die utopische Möglichkeit einer glücklichen Zukunft, die den Kräften des Todes trotzt.
Im Juni 1937 kehrt er von Mérida nach Mexiko-Stadt zurück und heiratet Elena Garro, die mehr als zwanzig Jahre später ihren Roman Erinnerungen an die Zukunft schreiben wird. Im Laufe der Zeit ist sie als Choreographin, Dramatikerin, Drehbuchautorin und Journalistin tätig. Sie haben eine gemeinsame Tochter, Helena, und lassen sich später schließlich scheiden. Bei ihrer Hochzeit war Elena noch keine achtzehn, Octavio dreiundzwanzig. Unmittelbar danach reisten sie nach Spanien, denn noch während seines Aufenthalts in Yucatán hatte Octavio Paz eine Einladung zu einem Kongreß antifaschistischer Intellektueller in Valencia erhalten.
Diese Reise war für die Entwicklung des Dichters von entscheidender Bedeutung; erneut, und diesmal noch drängender, erfuhr er die Erfordernisse der Geschichte. In der politischen Vorstellungswelt der Schriftsteller ist ein Großer Kongreß so etwas wie ein Großer Kreuzzug: die Begegnung von Schriftstellern aus der ganzen Welt, die für dieselbe Sache kämpfen. Ein Großer Kongreß beflügelt die kriegerische Phantasie, entzündet den Glauben und verlangt nach Einsatzbereitschaft. In den dreißiger Jahren wurden mehrere internationale Schriftstellerkongresse durchgeführt. Es brodelte damals in der Gesellschaft, es waren Jahre der Utopie, aber auch des Krieges. Eins der bemerkenswertesten Treffen war eben jenes in Valencia, mitten im spanischen Bürgerkrieg, das als II. Internationaler Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur bekannt wurde. Der erste hatte zwei Jahre zuvor in Paris stattgefunden, und wie damals war der Faschismus der erklärte Feind. Ein wirklicherer und gefährlicherer Feind war in diesen Jahren nicht vorstellbar.
Gegen den Faschismus verteidigten die Schriftsteller die Kultur. Allerdings nicht die existierende, sondern die Neue Kultur, die in der Neuen Gesellschaft zu schmieden war, wie es gerade in der Sowjetunion, so dachten sie, unternommen wurde. Die Kongreßprotokolle von 1935 belegen, daß der Neue Mensch in aller Munde war. Unter Berufung auf beste Absichten und noch bessere Utopien verfolgten die Veranstalter jener Kongresse mehr oder weniger verschleierte Ziele. Das erste Ziel war, die Unterstützung der weltweit angesehensten Intellektuellen für die Sowjetunion sicherzustellen. Über die zwielichtigen Manöver hinter den Kulissen jener Kongresse ist kaum etwas geschrieben worden. In seinen überraschenden Autobiographischen Schriften verrät uns Arthur Koestler jedoch, wer jene Kreuzzüge organisierte, finanzierte und seinen propagandistischen Vorteil daraus zog. Koestler, damals eifriger kommunistischer Aktivist, arbeitete in Paris als Angestellter eines Büros, das mit getarnten Aktionen moralische und finanzielle Unterstützung zugunsten der Sowjetunion beschaffte. Der Chef dieses Büros, Willi Münzenberg, wird von Koestler beschrieben als der unsichtbare Mann, der alles bis ins letzte arrangierte, so daß die Schriftsteller ihre Kampagnen in Angriff nehmen konnten. Aragon, Eluard, Moussinac, Rolland und Ehrenburg arbeiteten für ihn. Ruth Fischer, unermüdliche kommunistische Aktivistin jener Zeit, schrieb Jahre später:
Der Erfolg, mit dem in diesen Jahren die kommunistische Parteilinie unter Sozialdemokraten und Liberalen propagiert wurde (…), die Tausende von Malern, Schriftstellern, Ärzten, Rechtsanwälten und Sängern, die ein Potpourri der Generallinie anstimmten – all das hat seinen Ursprung in Willy Münzenbergs „Internationaler Arbeiterhilfe“.
Einige, wie Aragon in Frankreich und Bergamin in Spanien, hätten für Münzenberg die Hand ins Feuer gelegt. Dahinter stand die Masse der Schriftsteller mit gereckter linker Faust und unerschütterlichem Köhlerglauben. Es ist nicht verwunderlich, daß auf dem ersten Kongreß, 1935 in Paris, der Fall des Victor Serge, den man unter der schweren Anschuldigung, „Trotzkist“ zu sein, nach Sibirien deportiert hatte, von den Veranstaltern strategisch und mit Gewalt heruntergespielt wurde. Und ebensowenig verwundert es, daß auf dem Kongreß in Spanien, eben jenem, an dem Octavio Paz teilnahm, André Gide sich eine scharfe Verurteilung einhandelte, weil er es gewagt hatte, seine bittere Schilderung dessen, was er ein Jahr zuvor in der Sowjetunion gesehen und erlebt hatte, zu veröffentlichen.
Neben dem politischen Reiz, den dieser Kongreß ausübte, war die Einladung für Octavio Paz insofern von großer Bedeutung, als an diesem Treffen viele der wichtigsten Schriftsteller aus aller Welt teilnahmen. Aus Mexiko reisten vornehmlich Künstler an, die Mitglied der Kommunistischen Partei und insbesondere der Liga der Revolutionären Schriftsteller und Künstler (LEAR) waren, welcher Octavio Paz nicht angehörte, da er ihre orthodoxe Ästhetik nicht akzeptieren konnte: den „sozialistischen Realismus“, die „proletarische Kunst“ etc.
Nur zwei mexikanische Dichter, die zwar mit dem Kommunismus sympathisierten, aber nicht in der Partei organisiert waren, wurden eingeladen: Carlos Pellicer und Octavio Paz. Unter den Kongreßveranstaltern waren Rafael Alberti und Pablo Neruda. Der erste kannte Paz persönlich; der zweite hatte Raíz del hombre gelesen und war, wie er selbst in seinen Memoiren (Ich bekenne, ich habe gelebt) erzählt, einer der ersten, die voller Begeisterung die Qualitäten des jungen, damals noch unbekannten mexikanischen Dichters erkannten.
Zunächst in Paris, dann in Spanien traf Octavio Paz mit Schriftstellern zusammen, die in seinem Alter kennenzulernen er sich nicht hätte träumen lassen: Neruda selbst, Louis Aragon, César Vallejo, André Malraux, Stephen Spender, Jorge Guillén, Julien Benda, Tristan Tzara, Vicente Huidobro, Miguel Hernández, Luis Cernuda etc. In Valencia freundete er sich mit den jungen spanischen Dichtern an, die die Zeitschrift Hora de España herausgaben und später nach Mexiko ins Exil gehen sollten. Die Erfahrungen dieser ersten Begegnung mit Europa waren in vielerlei Hinsicht bestimmend für seinen weiteren Lebensweg.
Präsentiert von dem spanischen Dichter und Verleger Manuel Altolaguirre, veröffentlichte er in Valencia eine neue Gedichtsammlung unter dem Titel Bajo tu clara sombra y otros poemas sobre España (In deinem klaren Schatten und andere Gedichte über Spanien, 1937). In Spanien kamen ihm jedoch erstmals auch politische Bedenken, die auf Dauer dazu führen sollten, daß er seinen „engagiertesten“ Kameraden entgegentrat und die Notwendigkeit schriftstellerischer Unabhängigkeit verfocht.
Der Fall Gide ist heute noch ein Beispiel für die Intoleranz jener Zeit. In einem Interview, in dem er sich unlängst zu diesem Kongreß äußerte, sagte Paz: „Gide gegenüber herrschte eine Stimmung, die von großem Druck und Mißbilligung geprägt war. Es kam zu mehreren vertraulichen Sitzungen mit den Mitgliedern der lateinamerikanischen Delegationen, auf denen Gides Buch diskutiert wurde, die darin geäußerte Haltung und die Notwendigkeit, es zu ächten. Man schlug vor, eine verurteilende Erklärung abzufassen, unterzeichnet von allen lateinamerikanischen Delegierten, und es kam zu einer Abstimmung, um das Einverständnis aller zu erzielen. Bei dieser Gelegenheit verteidigte Carlos Pellicer das Recht André Gides, anders zu denken und seiner Meinung Ausdruck zu verleihen. Als bei der Schlußabstimmung Gides Ächtung beschlossen wurde, gab es nur zwei Enthaltungen: die von Pellicer und meine; letztlich wurde diese Verurteilung aber niemals geschrieben, denn auf der öffentlichen Sitzung am Nachmittag hielt José Bergamín eine so vehemente Rede gegen Gide, daß nach Ansicht der verschiedenen Delegierten eine weitere Verurteilung nicht mehr vonnöten war.
Der spanische Schriftsteller Ricardo Muñoz Suay schrieb in einem Brief:
Ich erinnere mich, daß ich damals, im Sommer 1937 in Valencia, wenn ich mit den Schriftstellern zusammenstand und mit ihnen eine Weile plauderte, mich gleich zu Octavio Paz hingezogen fühlte (der eher in meinem Alter war), aber auf der Stelle flüsterte irgendein mit allen Vollmachten eines ,Kommissars‘ ausgestatteter Freund mir zu, ich solle mich „vor diesem Mexikaner in acht nehmen, der mit dem Trotzkismus liebäugelt“. 1937 war ich ein neunzehnjähriger Bursche, aber aktiver Kämpfer und sogar Studentenführer der Spanischen Kommunistischen Partei, und demzufolge sehr aufgeschlossen für die damalige Welt der Intellektuellen. ,Gides Verrat‘ hatte, wie ich mich erinnere, eine nachhaltige Wirkung auf uns. Er war nicht einfach ein Renegat wie so viele andere. Gide genoß moralisches Ansehen, über seine Geltung als Intellektueller hinaus, die bis dahin niemand in Zweifel gezogen hatte. (…) Andererseits gestatteten mir meine herzliche Freundschaft mit Bergamín und meine Bewunderung für Malraux, mit dem ich auch persönlich bekannt war, kaum Zweifel, daß diese Offensive gegen Gide gerechtfertigt war, bei der man sich auch des wunderbaren Paul Nizan entledigte, dem noch bei seinem Tod der Geruch des Verrats anhing und den ich flüchtig bei Ce Soir kennengelernt hatte. In manchen Bereichen unserer Gesellschaft wollen sich viele, die guten Glaubens ,pazifistische‘ Kämpfer sind, immer noch nicht die Binde von den Augen nehmen, aber niemand wird mich vergessen machen können, welche Beweggründe diese Männer hatten, die wie damals Gide und heute Octavio Paz und andere versuchen, sich ohne Wenn und Aber mit der Geschichte auseinanderzusetzen.
Für kurze Zeit erlebte Paz die Wirklichkeit eines Volkes im Bürgerkrieg, eine Wirklichkeit, die weit entfernt war von dem Bild, das seine eigenen Gedichte von diesem Krieg zeichneten, was eine weitere, schmerzlichere Lehre für ihn war. Er kehrte mit der Überzeugung aus Spanien zurück, daß es gewiß in der Welt Gründe gab, für die es sich zu kämpfen lohnte, im Gegensatz zur Auffassung seiner Freunde, der Dichter der älteren Generation aus dem Kreis um Contemporáneos, insbesondere Villaurrutia. Aber die Frage, die ihm bereits vor seiner Reise nach Spanien keine Ruhe gelassen hatte, wurde noch drängender: Wie soll eine Dichtung beschaffen sein, die der Geschichte nicht den Rücken kehrt, eine Dichtung, die keine „poesía pura“ und doch Dichtung ist, will sagen, die nicht von den ästhetischen Dogmen der Zeit eingeschränkt wird? Seine dichterische und herausgeberische Tätigkeit in den kommenden Jahren sollte eine erste Antwort auf diese Frage sein. Und so wie er suchten auch andere Vertreter seiner Generation nach einer Antwort.
Von 1938 bis 1941 war die Zeitschrift Taller der Ort, wo diese neue Unruhe, die zugleich eine neue Sensibilität war, sich bündelte und äußern konnte. Sie erschien in insgesamt zwölf Ausgaben, bei denen die herausgeberische Mitwirkung von Octavio Paz, neben dem Gründer Rafael Solana, Efrain Huerta und Alberto Quintero Álvarez, von entscheidender Bedeutung war.
Ein kurzer Aufsatz von Paz, „Razón de ser“ (Raison d’être), brachte bereits in der zweiten Ausgabe auf den Punkt, worin sie sich von der älteren, der Generation der Contemporáneos unterschieden und was sie miteinander gemein hatten. Bei den Älteren dominierte eine Vorstellung von reiner poetischer Strenge, wie etwa bei Paul Valéry oder Juan Ramón Jiménez. In seinem Manifest würdigte Paz den künstlerischen Wert seiner Vorgänger und ihre schöpferische Assimilation der gesamten Moderne, die Paz selbst und die Dichter um Taller geerbt hatten, aber er beklagte den Mangel an Hoffnung in ihren künstlerischen Erneuerungsbemühungen. Die Skepsis der Mitglieder von Contemporáneos ist erklärlich: sie waren die erste Schriftstellergeneration nach der Mexikanischen Revolution; sie konnten nicht mehr daran glauben, daß Gewalt zu einer utopischen Verbesserung der Lebensumstände führte. Die neue Generation aber glaubte daran. „Sie sind die Nachkriegsgeneration“, bekräftigte Octavio Paz, „wir stehen vor dem nächsten großen Blutbad, sie haben es schon hinter sich.“
Jahrzehnte später sollte er in seinem Essay „Antevíspera“ (Der Tag vor dem Vorabend) schreiben:
Auch wenn es unmöglich ist, in einem Satz zusammenzufassen, was uns von unseren Vorgängern trennte, so scheint mir, daß der große Unterschied darin bestand, daß unser Bewußtsein von der Zeit, die wir durchlebten, lebendiger war und, wenn schon nicht klarer, so doch tiefer und umfassender. Die Zeit stellte uns eine Frage, auf die wir antworten mußten, wenn wir nicht unser Gesicht und unsere Seele verlieren wollten. Unser Platz in der Geschichte machte uns beklommen.
In der Lyrik dieser Generation, insbesondere in der von Octavio Paz, nahm diese Antwort eine immer konkretere, wenngleich nicht weniger abwechslungsreiche Gestalt an: Aus dem Motiv der modernen Stadt voller Trümmer und Versprechen erwuchs eine Dichtung, die auf die Geschichte reagierte und zugleich Teil von ihr war. In der lyrischen Landschaft Mexikos und Lateinamerikas war ein neuer Raum gewonnen worden, der sich mit der Zeit nurmehr ausweiten sollte.
Ein paar Jahre später erkannte Octavio Paz, daß es in anderen Ländern bereits zwei Antworten auf die Frage nach der glücklichen Vermählung von Dichtung und Geschichte gab. Da war zum einen der Surrealismus mit seiner Kombination aus Rebellions- und Ausdruckskraft, zum anderen die eigenwillige Lösung von T.S. Eliot und Ezra Pound, welche in ihre Gedichte sowohl historische als auch prosaische Elemente einbrachten und diese so poetisierten. Beide Antworten wurden zu wichtigen Auswegen, zu Erfahrungen, die Paz’ Werk bereicherten.
Nicht minder beeinflußt wurde sein poetisches und essayistisches Werk durch seine stetig erweiterte Sicht der bildenden Kunst. Auf seiner Europareise hatte er die wichtigsten Museen von Paris und Madrid besucht. In Frankreich sah er sowohl klassische als auch avantgardistische Werke. Nach seiner Rückkehr durchschaute er die ideologische Rhetorik der Muralisten, die er während seiner Schulzeit tagtäglich in den Fresken der Escuela Nacional Preparatoria einfach nur bewundert hatte. Es ist kein Zufall, daß der Dichter, der seine neue Poetik auf die eigene Situation in der Stadt gründen wollte, sich durch die Beschäftigung mit der Ästhetik der Stadt und die Entdeckung des künstlerischen und historischen Reichtums in ihrem alten Zentrum mit der bildenden Kunst vertraut gemacht hatte. 1939 schreibt er seinen ersten Aufsatz hierüber: „Isla de Gracia“ (Insel der Gnade), der sich mit der Kunst auf Kreta befaßt; 1941 folgt ein längerer Aufsatz über den Maler Juan Soriano, und im Jahr darauf ein weiterer über José María Velasco. In diesen Texten besticht die Ausdruckskraft, die Verknüpfung mit seiner Poetik-Konzeption, die er entwickelt, und vor allem der – auch in seinen literarischen Essays sichtbare – Wille, seinen Blick zu einer Sehweise, einer Vision zu machen. Schließlich ist die Vision, wie er selbst erläutert, „nicht nur das, was wir sehen. Sie ist eine Position, eine Idee, eine Geometrie: ein Gesichtspunkt im doppelten Sinne des Wortes“.
In dem kurzen Essay über Kreta zeigt sich bereits seine Suche nach neuen formalen und konzeptuellen Horizonten; in dem Essay über Soriano wird die poetische Verwandtschaft mit einem Werk und einem Maler deutlich, die ihn faszinieren; in dem Essay über Velasco beginnt er, eine Philosophie der Formen in der Malerei zu skizzieren, und darüber hinaus zieht er eine Parallele zwischen dem Werk Velascos und den Landschaften in der Dichtung Manuel José Othóns. In seiner letzten Kunstkritik, die er schreibt, bevor er im November 1943 Mexiko für viele Jahre verläßt, bespricht er das Werk Jesús Guerrero Galváns und kritisiert die damals gültige Klassifizierung in der mexikanischen Malerei. Bereits in diesem Text erweist er sich als leidenschaftlicher Kenner der mexikanischen Kunst und zeigt die bittere Notwendigkeit auf, ein Kunstverständnis zu korrigieren, das er als Mißverständnis betrachtet.
Offenkundig in Octavio Paz’ Frühwerk ist der Wunsch – bei ihm könnte man auch genausogut sagen: die feste Absicht –, seinen Platz in der Tradition der spanischsprachigen Lyrik einzunehmen und diese gleichzeitig zu sprengen. Unbeirrbar trachtete er danach, aufzudecken, wie – unter welcher neuen Maske, im Gewand welcher neuen Metamorphose – sich das tiefe, vielfältige Schicksal der Menschen seiner Zeit äußerte, denn in der Lyrik seiner Vorgänger war dies für ihn nicht erkennbar. In einem der Gespräche, die 1984 für das mexikanische Fernsehen aufgezeichnet wurden, sagt Paz:
Für uns nimmt das Schicksal die Gestalt der Geschichte an. (…) Nie zuvor hatte sich das Schicksal der Menschen, die Tatsache, daß wir sterblich sind, daß wir sterben werden, daß wir fähig sind zu lieben, daß wir geboren werden, daß wir arbeiten, daß wir überhaupt etwas tun, als historischer Konflikt dargestellt. Und dieser liegt im Wesen der Stadt des 20. Jahrhunderts. Das war es, was ich in der Dichtung meiner Lehrer nicht gefunden habe und was ich schreiben wollte.
Ab der fünften Ausgabe von Taller wurde Octavio Paz zum Herausgeber der Zeitschrift ernannt, und mehrere junge spanische Exilanten, die er aus Valencia kannte, traten in die Redaktion ein: Juan Gil-Albert, Ramón Gaya, Antonio Sánchez Barbudo, Lorenzo Varela, José Herrera Petere. Man brachte noch weitere sieben Ausgaben heraus, dann wurde die Zeitschrift eingestellt. Paz’ Auseinandersetzungen mit den „engagierten“ Schriftstellern wurden immer heftiger. Trotzki wurde in jenen Tagen ermordet, der Hitler-Stalin-Pakt veranlaßte ihn, sich von seinen kommunistischen Freunden zu distanzieren. Er lernte Victor Serge kennen, Jean Malaquais, Benjamin Péret, allesamt links von der Linken angesiedelt, alles Dissidenten des offiziellen Kommunismus und des stalinistischen Rußland, und sie gaben seiner Vorstellung von politischer Kritik eine neue Richtung.
Mitte des Jahres 1942 veröffentlichte Paz seinen dritten Gedichtband, A la orilla del mundo (Am Ufer der Welt), worin er den neuen Gedichten auch ein paar ältere hinzufügte. Nach einem Motto Quevedos: „Nichts öffnet mir die Augen, die Welt hat mich verhext“, erkundet er die subtilen Grenzen zwischen dem Wachen und dem besonderen Träumen der Sinne, das er in diesem Band mit der dichterischen Erfahrung gleichsetzt.
Wir schlafen auf Schutt,
allein zwischen Trümmern und Träumen.
Nah bei mir dein Körper,
die dichte Gewißheit deiner Beine,
deine Haut und dein Geheimnis,
der glaszarte Puls des Lebens,
der des Nachts nicht anhält,
die biegsamen Sprosse der Träume.
(…)
Bis in mein Blut kommst du; in meinen Augen
erblickst du dich und berührst du dich; du bleibst in mir,
bist Ruhe und Wort, stetes Staunen,
angehalten mitten in dir selbst.
Du erkennst dich in mir und in mir erdenkst du dich,
und ich erinnre mich in deinem schlafenden Sein,
Pulsschlag nur, blinde Blüte, Strauch,
Erde, die verschmilzt in Erde.
Der Poesie, die ebenso wie die Wörter eine wiederkehrende Figur in seinem Werk ist, widmet er das letzte Gedicht des Bandes, in dem er bezeichnenderweise zu ihr sagt:
Du schleichst dich an, lautlos, bewaffnet,
wie Krieger vor der Stadt im Schlaf;
versengst mit deinen Lippen meine Zunge, Krake,
und entfachst den Wahn, die Wonnen,
und diese Angst, unendlich,
die entflammt, was sie berührt,
und in jedem Ding
dunkle Begier erzeugt.
(…)
Du bist nur Traum,
doch in dir träumt die Welt,
und ihr Schweigen spricht mit deinen Wörtern.
In diesem Gedicht erkennt Paz die eigenen Grenzen angesichts einer übermächtigen Berufung an und entwirft zugleich seine Poetik.
Im April 1943 wirkte er bei der Gründung der von Octavio G. Barreda herausgegebenen Zeitschrift EI Hijo Pródigo mit. Im August desselben Jahres veröffentlicht er dort einen neuen Essay, den man als Manifest bezeichnen kann, „Poesía de soledad y poesía de comunión“ (Dichtung der Einsamkeit und Dichtung als Kommunion), worin er unter anderem davon spricht, daß der moderne Dichter die Verpflichtung habe, nicht weiter außerhalb der Gesellschaft zu schreiben – die ihn nicht toleriert –, sondern in ihr und gegen sie. Der Dichter ist gefordert, kompromißlos Glaubwürdigkeit zu erlangen, „Bewußtsein und Unschuld zu vereinen, Erfahrung und Ausdruck, die Tat und das Wort, das sie offenbart.“ Eine Sehnsucht, die den unerbittlich einsamen Menschen in der Masse der Stadt beschwört, die ihn mit ihrem Schweigen in Frage stellt. Aber auch eine Sehnsucht, in der sich bereits ein zukünftiger Berührungspunkt zwischen Paz und dem Surrealismus andeutet: eine vitale Kraft, die man beschreiben könnte als die geheimnisvolle Vereinigung des Bewußten mit der Unschuld, oder auch als das Wort, das zur Tat wird.
Gegen Ende des Jahres 1943 verließ Octavio Paz Mexiko, um erst zehn Jahre später zurückzukehren. Er erhielt ein Stipendium der Guggenheim-Stiftung, und zwei Jahre darauf trat er in den diplomatischen Dienst ein. Vor dem Stipendium verdiente er sich seinen Lebensunterhalt auf verschiedenste Weise, einmal auch mit einer Arbeit für den mexikanischen Film. Das Ergebnis war kurios: 1943 schrieb Octavio Paz ein Lied für den mexikanischen Volkssänger Jorge Negrete. Sein Freund Jean Malaquais arbeitete an der Adaptation eines Themas von Puschkin für eine mexikanische Produktion unter der Regie von Jaime Salvador, mit Jorge Negrete und Maria Elena Marques in den Hauptrollen. Der neunundzwanzigjährige Dichter, der die spanischen Dialoge des Franzosen Malaquais korrigieren sollte, schrieb am Ende ein Lied. Darin finden sich Anklänge an seine im Jahr zuvor veröffentlichte Sammlung A la orilla del mundo.
Ich schau dich an mit meinen Augen,
wenn ich sie schließe, seh ich dich,
ich halt dich fest in meiner Brust,
von meinen Seufzern eng umschlossen.
Niemals nennen meine Lippen dich,
der Schlag des Pulses ist dein Name,
und seine Silben sind das Blut,
wenn es aus meinem Herzen bricht.
In der Nacht schläft alles tief,
nur ich allein lieg schlafend wach,
denn um dich zu spüren
neben mir für alle Zeit,
schließe ich die Augen nicht.
Meine Hände streicheln dich,
und meine Lippen, ach, die küssen,
doch immer, immerzu,
bei Tage und des Nachts,
bleiben die Gedanken wach.
Gestern sang ich Wörter noch,
doch Wörter, die sind Wolken,
hinfortgeweht vom Wind,
heut ist es mein Herz, das singt
Der Film hieß El rebelde oder Romance de antaño. Obwohl als Entstehungsjahr 1943 angegeben ist, wurde er erst im Februar des folgenden Jahres fertig gedreht und aufgeführt. Octavio Paz bekam ihn nie zu sehen, denn zu diesem Zeitpunkt hielt er sich bereits in den USA auf. Vielleicht gäbe es, wenn er geblieben wäre, im mexikanischen Film mehr Beiträge von ihm. Seine Freunde Efrain Huerta und José Revueltas arbeiteten, wie zahlreiche andere mexikanische Schriftsteller auch, häufig für die heimische Filmindustrie, die damals ihre goldenen Jahre erlebte.
Als Octavio Paz das Land verläßt, ist ein Abschnitt seines Lebens beendet, der erste Kreis seines Schicksals schließt sich: ohne Zweifel ist der Dichter hervorgetreten. Aber er ist auch bereits ein bedeutender Essayist, was eine Auswahl seiner frühen Prosatexte, Primeras Letras (1931–1943), 1988 von Enrico Mario Santí zusammengestellt, eindeutig beweist. Der Band, der durch thematische Vielfalt und eine leidenschaftliche Prosa besticht, enthält literarische und philosophische Essays, poetische Prosatexte, Buchbesprechungen und Schilderungen von Lebenssituationen; es ist ein Buch voller eigenwilliger Tiefe. Genau so ließe sich auch sein schöpferischer Impuls in jenen Jahren beschreiben. Es ist geradezu das Buch eines Philosophen, der mit der Sprache die ehrfurchtgebietenden Waffen der Schöpfung in Händen hält. Und diese frühen Schriften, ein halbes Jahrhundert alt, zeigen auch, daß in dem jungen Mann ein Dichter-Denker steckt, der beharrlich seinen Weg sucht in seinen Büchern, seinen Wörtern, seinen Ideen, seinen Traum- und Wachzuständen, seinen Kämpfen und Erfolgen. Seine Reise in die Welt wird ihm Gelegenheit zu einem neuen Anfang geben.
Alberto Ruy Sánchez, aus Alberto Ray Sánchez: Octavio Paz. Leben und Werk, Suhrkamp Verlag, 1991
Adolf Endler: Eine Reihe internationaler Lyrik, Sinn und Form, Heft 4, 1973
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Octavio Paz
Der Magistrat der Stadt Frankfurt a.M. und der Suhrkamp Verlag ehren den Dichter Octavio Paz am 27.9.1992 im Kaisersaal des Römers.
Lesungen und Reden: Octavio Paz, Ulla Berkéwicz, Elisabeth Borchers, Eva Demski, Friederike Roth, Ralf Rothmann, Andreas von Schoeler, Siegfried Unseld, Rudolf Wittkopf
Bernhard Widder: Belesenheit und Fantasie
Wiener Zeitung, 28.3.2014
Peter Mohr: Romantiker in diplomatischen Diensten
titel-kulturmagazin.net, 31.3.2014
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