ICH HÖRTE SAGEN
Ich hörte sagen, es sei
im Wasser ein Stein und ein Kreis
und über dem Wasser ein Wort,
das den Kreis um den Stein legt.
Ich sah meine Pappel hinabgehn zum Wasser,
ich sah, wie ihr Arm hinuntergriff in die Tiefe,
ich sah ihre Wurzeln gen Himmel um Nacht flehn.
Ich eilt ihr nicht nach,
ich las nur vom Boden auf jene Krume,
die deines Auges Gestalt hat und Adel,
ich nahm dir die Kette der Sprüche vom Hals
und säumte mit ihr den Tisch, wo die Krume nun lag.
Und sah meine Pappel nicht mehr.
In der gebotenen Kürze etwas Allgemeines über die Dichtung Paul Celans zu sagen, scheint mir kaum möglich. Dazu fehlt es an einer einschlägigen literaturkritischen Terminologie, deren die Verallgemeinerung sich bedienen könnte. Ich benutze deshalb im folgenden als Leitfaden ein bestimmtes Gedicht Celans, eines der wenigen aus dem bisher vorliegenden Gesamtwerk, die sich im Sinn einer unmittelbaren poetologisch-programmatischen Selbstanweisung auffassen lassen. Es ist das Gedicht „Sprich auch du“ aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle, der im Jahr 1955 erschienen ist.
Sprich auch du,
sprich als letzter,
sag deinen Spruch.
Sprich −
Doch scheide das Nein nicht vom Ja.
Gib deinem Spruch auch den Sinn:
gib ihm den Schatten.
Gib ihm Schatten genug,
gib ihm so viel,
als du um dich verteilt weißt zwischen
Mittnacht und Mittag und Mittnacht.
Blicke umher:
sieh, wie’s lebendig wird rings −
Beim Tode! Lebendig!
Wahr spricht, wer Schatten spricht.
Nun aber schrumpft der Ort, wo du stehst:
Wohin jetzt, Schattenentblößter, wohin?
Steige. Taste empor.
Dünner wirst du, unkenntlicher, feiner!
Feiner: ein Faden,
an dem er herabwill, der Stern:
um unten zu schwimmen, unten,
wo er sich schimmern sieht: in der Dünung
wandernder Worte.
In der zweiten Strophe dieses Gedichtes wird ein Sprechen ins Auge gefaßt, das vor der Scheidung in Affirmation und Negation halt macht, das nicht auf den glatten Aussagesatz hinauswill, sondern sich das volle Spektrum der Unentschiedenheit vor den Gegensätzen zu bewahren sucht. Da eine solche Art der Unentschiedenheit nicht mit einem einfachen Zögern oder gar mit der Scheu vor dem klaren Aussprechen des Gegensatzes verwechselt werden darf, drängt sich ein präziserer Ausdruck auf. Könnte man die vom Dichter geforderte Sprechweise als die einer Noch-nicht-Entschiedenheit bezeichnen? Die Celansche Dichtung ist reich an Gegensätzen im ganz handgreiflichen Sinn von Umschlägen ins Gegenteil und paradoxen Wendungen. Sie setzt sich ihnen bewußt aus. Sie geht in ihrem konkreten sprachlichen Vollzug durch sie hindurch. Dieser Durchgang durch die Widersprüche und durch nicht mehr nachvollziehbare „Bilder“ ist eine den Gedichten Celans besonders eigentümliche Bewegungsweise.
Deshalb muß der Sachverhalt einer spezifischen Unentschiedenheit, den ich hier zu umschreiben suche, auch von der anderen Seite gesehen werden. Der Noch-nicht-Entschiedenheit, die vor der Grundentscheidung zwischen Ja und Nein innehält, entspricht eine Nicht-mehr-Entschiedenheit, die jeden denkbaren Gegensatz hinter sich hat, ohne ihn zu verleugnen. So kann sich das Celansche Gedicht den Paradoxien des in ihm Gesagten ganz ohne Vorbehalt öffnen. Es scheitert an ihnen nicht, denn es kennt mitten durch seine Unentschiedenheit im Hinblick auf eindeutige (affirmative oder negierende) „Aussagen“ hindurch seine eigene Form der rein poetischen Entschiedenheit. Sie behauptet sich zwischen dem Noch-nicht und dem Nicht-mehr als jenes „Immer-noch“ des Gedichts, von dem Celan in der Büchner-Preis-Rede spricht. Die Weite der Unentschiedenheit zwischen Nein und Ja enthält offensichtlich den Ort einer im Mitgehen erfahrbaren Prägnanz und Entschiedenheit des dichterischen Sprechens. So jedenfalls lehrt es uns die einfache Tatsache der Existenz dieser Gedichte und der Faszination, die sie auf den genauen Leser ausüben.
Ein anderes ist es, das Zustandekommen einer solchen eigentümlichen Sprach-Prägnanz außerhalb der Eindeutigkeiten des ohne weiteres Verständlichen zu erklären. In einer wenig bekannt gewordenen Äußerung hielt Celan vor zehn Jahren fest:
Dieser Sprache geht es, bei aller unabdingbaren Vielstelligkeit des Ausdrucks, um Präzision. Sie verklärt nicht, ,poetisiert‘ nicht, sie nennt und setzt, sie versucht, den Bereich des Gegebenen und des Möglichen auszumessen. (Almanach 1958, Librairie Flinker, Paris, S. 45)
Das ist ein schon fast rigoroses Bekenntnis zur arabeskenfreien Bestandsaufnahme, zur lyrischen Landesvermessung, in der Celan damals mit Recht einen Grundzug nicht nur seiner, sondern der zeitgenössischen deutschen Lyrik im ganzen wahrnahm. Er fügte allerdings auch bei, und traf damit die spezielle Komplikation, die sich für ihn aus einem solchen Programm ergab:
Wirklichkeit ist nicht, Wirklichkeit will gesucht und gewonnen sein.
Der Vorsatz, mit Präzision zu nennen und zu setzen, erhält von dieser Einsicht her seine zusätzliche Schwierigkeit. Er wird in den Dienst der Wirklichkeitssuche und des Wirklichkeitsgewinns gestellt, was etwas anderes ist als Wiedergabe der Wirklichkeit im Gedicht.
Die Präzision des Setzens und Nennens läßt sich stilkritisch nachweisen. Man darf auf den strengen, zuweilen pochenden Rhythmus Celanscher Gedichte vor allem aus der frühen Phase aufmerksam machen. Dieser sprachrhythmische Gestus bewirkt eine Insistenz des Sagens, die sich als ungewöhnlicher Nachdruck im Gesagten niederschlägt. Selbst ein langzeiliges Gedicht wie „Das Gastmahl“ (S. 10) verfließt an keiner Stelle ins Parlando, der Daktylus als sein metrisches Grundmuster ergibt hier nicht, wie es bei diesem Versfuß sonst fast unausweichlich ist, eine tänzerische dahingleitende Bewegung. Die rhythmischen Akzente, zumal am Versschluß, sind so kräftig gesetzt und vorzugsweise auf sinnschwere Substantive gesetzt, daß die Bewegung des Sprachflusses sich staut und in dieser Stauung als gezügelte Bewegung um so deutlicher zum Vorschein kommt. Die Abweichungen vom metrischen Grundmuster sind gezielt und stehen im Dienst derselben Wirkung.
Im frühesten Gedichtband Celans (Der Sand aus den Urnen, Wien 1948), dessen Bestand später teilweise in Mohn und Gedächtnis übernommen wurde (Stuttgart 1952), findet sich denn auch bereits die Tendenz zur Verknappung der Verszeile. Ein besonders klares Beispiel dafür bietet das Gedicht „Corona“ (S. 17), dessen Strophenanfänge die metrisch-rhythmische Struktur des Gastmahl-Gedichts aufweisen. Gegen sein Ende aber zieht es sich immer mehr zur lapidaren Fügung zusammen bis zur Schlußzeile „Es ist Zeit.“
An diesem Beispiel läßt sich im weitern auch die Rolle der Wortwiederholung, speziell der Anapher, studieren. Auch sie gehört in den Zusammenhang des insistierenden Sprachgestus, der sich nicht auf rhythmische Erscheinungen im engern Sinn beschränkt. Er bestimmt schließlich auch den Satzbau und damit in letzter Konsequenz die „Aussage“ des Gedichts („Es ist Zeit, daß es Zeit wird.“). Die bekannte Todesfuge (S. 18f.) zeigt die strukturierende Kraft des Prinzips der Wiederholung beim frühen Celan im hellsten Licht. Das Prinzip differenziert sich auf dem Weg über die Engführung (S. 67ff.) und tritt allmählich, ohne ganz zu verschwinden, hinter den komplizierteren syntaktischen Verhältnissen der späteren Gedichte zurück. Aber auch da, wo es sparsamer wörtlich eingesetzt wird, bleibt das erhalten, worauf das Prinzip der Wiederholung hinarbeitete. Es bleibt, abstrakter geworden, der Gestus des Insistierens erhalten, der allen Celanschen Gedichten die eigentümliche Grundbewegung des Insich-Kreisens mitteilt, auch in den Fällen, wo keine ausdrückliche thematische Rückwendung innerhalb des Wortbestands erfolgt.
Damit ist der Horizont wenigstens angedeutet, in den der scheinbar einfache programmatische Entschluß zum lyrischen Setzen und Nennen bei Celan sogleich hineinführt. Da dem Gegebenen von vornherein das Mögliche als poetischer Vermessungsbereich zugeordnet ist und die Wirklichkeit als Ziel einer Suche, nicht einer bloßen Vergewisserung erkannt und angesetzt wird, scheiden alle lyrischen Verfahrensweisen aus, die die Wortsetzung im Gedicht als einen einfachen Ausdrucks-Vorgang behandeln. Unbeschadet der angestrebten und erreichten Präzision kann auf die „Vielstelligkeit des Ausdrucks“ nicht verzichtet werden. Die Präzision muß sich gerade in dieser Vielstelligkeit behaupten, wenn sie nicht zur Schein-Präzision absinken soll, die zwar unbefangen mit Ja und Nein zu hantieren wüßte, aber unter den hier herrschenden Bedingungen nur um den Preis einer nicht wiedergutzumachenden Voreiligkeit.
Die Aufforderung zum Sprechen aus der zweiten Strophe des Gedichts „Sprich auch du“ will den Sprechenden und seinen Spruch vor solcher Voreiligkeit bewahren, bürdet ihm dafür aber die volle Paradoxie eines vielstelligen, unentschiedenentschiedenen Sprechens auf. Sie belastet den, der dieses Sprechen vernimmt, mit einer radikalen Verständnisschwierigkeit. Paradoxien, auch im modernen Gedicht, sind unbequem, sobald man sie wirklich verstehen will – vorausgesetzt, daß Verstehen auch heißt, dem Gesagten (in diesem Fall paradox Gesagten) mit nochmals anderen Worten in den Rücken zu gelangen. Paradoxes Sprechen ist eine Art von ultima ratio: es schöpft die Möglichkeiten und Spannweiten des überhaupt Sagbaren bis an die letzte Grenze aus. Ist es eine mögliche Aufgabe, „dahinter“ zu kommen, was im vielstellig-paradoxen Sprechen gesagt wird? Eine mögliche Aufgabe scheint es mir immerhin zu sein, die Bedingungen und Intentionen solchen Sprechens abzuklären.
Es ist gewiß nicht nur ein Zufall, daß in der ersten Phase der Auseinandersetzung mit der Dichtung Celans in der literarischen Öffentlichkeit sich unversehens die Frage nach den historischen Abhängigkeiten in den Vordergrund schob, in denen eine lyrisch-paradoxe Sprechweise steht. Es schien die natürliche Ratlosigkeit ihr gegenüber zu mildern, wenn man auf ähnliche Erscheinungen aus dem Bereich der schwerverständlichen Metaphern in der Tradition des Manierismus verweisen konnte oder auf den vermeintlich damit eng verwandten Bilderschatz des modernen Surrealismus. Als Folge dieser Tendenz, zu einer Erklärung auf dem Weg über die historische Einordnung zu gelangen, muß allerdings in dem Fall, wo eine Dichtung von starker individueller Eigenart vorliegt, auch das Bedürfnis sich wieder steigern, eben dieser Eigenart auf die Spur zu kommen. Von einem Punkt aus, wo sich gut zwei Jahrzehnte kontinuierlicher lyrischer Produktion Celans überblicken lassen, ist ein solches Vorhaben nicht mehr utopisch.
Wer sich darauf einläßt, muß sich darüber im klaren sein, daß diese Dichtung und die ihr eigentümliche Entschiedenheit letztlich nicht aus den formalen Mitteln zu erklären ist, deren sie sich bedient. Ihre Eigenart wird nur voll sichtbar, wo das Gedicht als Vorstoß und Versuch, eine noch nicht begriffene Wirklichkeit zu gewinnen, verstanden wird. Man darf sich angesichts der Celanschen Gedichte ohne weiteres an das Diktum Kafkas erinnern, wonach die Dichtung eine Expedition nach der Wahrheit ist. Nur in diesem vorausgreifenden Sinn läßt ihre paradoxale Sprechweise sich begründen. Zu dieser Art von Expedition nach der Wahrheit gehört auch das Bewußtsein, daß „die“ Wahrheit sich niemals in einen Satz bannen lassen wird. Damit ist nichts gegen die kaum zu widerlegende Überzeugung gesagt, daß die Wahrheit etwas Einfaches sein muß. Vermutlich ist es eben ihre alles Sagen übertreffende Einfachheit, die die Vielstelligkeit der Sprechweise fordert. Wer die Wahrheit zu besitzen wähnt, kann sich zu Ja und Nein entscheiden. Wer sie als Ziel einer unablässigen Suche begreift, muß Ja und Nein mischen, und dies auf die Gefahr hin, daß sein Sprechen dem an den Aussagesatz und den schlichten lyrischen Ausdruck gewöhnten Ohr wie Trug klingt. Wir stoßen auf die alte, von Nietzsche pointiert formulierte Frage, ob die Dichter nicht zuviel lügen. Wie kann eine Dichtung vor dieser Frage bestehen, wenn sie sich selbst so offen zur paradoxalen Sprechweise bekennt? Sie kann es tatsächlich nur, indem sie sich mitten durch die Nicht-Scheidung von Ja und Nein ihre eigene Entschiedenheit aufbaut. Von dieser conditio sine qua non her muß die zweite Hälfte der Strophe gesehen werden:
Gib deinem Spruch auch den Sinn:
gib ihm den Schatten.
Aus dem Sprachgebrauch Celans läßt es sich belegen, daß das vieldeutige Wort „Sinn“ vorzugsweise in der konkreten Bedeutung von „Richtung, die etwas einhält“, also geradezu als „Richtungssinn“ zu verstehen ist. So wird in den Gedichten vom „Lichtsinn“ der Seele gesprochen (S. 60) oder von der Bewegung „im Herzsinn“ („Die Niemandsrose“, S. 75). Die Bremer wie die Büchner-Preis-Rede verweisen an zentralen Stellen auf den Richtungssinn des Gedichts. Er bewirkt, daß Dichtung vorauseilt (S. 140) und auf das „Andere“ zuhält (S. 143).
Aus diesen Zusammenhängen gesehen, besagt die Verszeile mit der Aufforderung, dem Spruch den Sinn zu geben: ihn auf die Expeditionsreise zu schicken. Wir dürfen von einer Gedichtstrophe Celans freilich nicht erwarten, selbst wenn es sich um eine vergleichsweise „programmatische“ Strophe handelt, daß sie eine solche Anweisung nach Art einer theoretischen Darlegung ausbuchstabiert. Sie präzisiert die Aufforderung zur Sinngebung durch die weitere Verszeile:
gib ihm den Schatten.
Auch das ist Präzisierung durch das Paradoxon. Die Nennung des Schattens läßt an die Dunkelheit der hier vorliegenden Sprechweise denken. Das Gedicht scheint sich damit seiner eigenen Dunkelheit förmlich zu versichern. Die Forderung nach dem Schatten widerspräche dann zunächst der Forderung nach klar erkennbarem Sinn. Eben dadurch wird aber auch sichtbar, in welcher Weise die Entschiedenheit des Richtungssinnes durch die Unentschiedenheit zwischen Ja und Nein hindurch gewonnen sein will. Der Sinn des Spruches und damit seine Lebendigkeit kann sich unter den Bedingungen der paradoxen Sprechweise nur manifestieren, indem er auf das „ganz Andere“ und den „Schatten“ zuhält – im Celanschen Sprachgebrauch stehen beide Namen in enger Berührung mit der Sphäre des Todes. Die volle Verschränkung des Gegensatzes. tritt an der späteren Stelle des Gedichtes hervor:
Beim Tode! Lebendig!
Wahr spricht, wer Schatten spricht.
Die Symbiose von Leben und Tod bleibt eine der großen Voraussetzungen der Dichtung Celans. Wer Schatten spricht, gibt sie ans Gedicht weg. Die Schatten erscheinen hier als die nächstliegende Substanz, über die der Dichter verfügt, um das Gedicht zu nähren. Das sich selbst ansprechende lyrische Du erkennt sich deshalb in der folgenden und letzten Strophe als ein „Schattenentblößter“, der mit noch gesteigerter Dringlichkeit nach dem Wohin, dem Richtungssinn seiner dichterischen Bewegung zu fragen hat. Diese Bewegung treibt den, der spricht, immer weiter über sich hinaus. Sein eigener Standort schrumpft im Vollzug des Gedichts. Er wird zum geometrischen Ort, der nur noch durch die Beziehungen definiert ist, die sich in ihm vermitteln.
Dem entspricht es, daß in dieser letzten Strophe eine jener rapiden Transformationen durchgeführt wird, die der Anschauung den Atem verschlagen. Das lyrische Du selbst wandelt sich zum „Faden“. Als Vorstellungsinhalt genommen, wirkt das grotesk oder traumhaft. Jenseits solcher Hilfsvorstellungen zielt es ganz offensichtlich auf den Gewinn eines Gegenübers, nämlich des bis zur viertletzten Verszeile verschwiegenen „Sterns“. Das lyrische Du als Sprecher des Spruchs verschwindet aus dem Gedicht. Es ist aufgegangen in der Funktion, die weitgespannte Beziehung zwischen dem „Stern“ und der „Dünung / wandernder Worte“ herzustellen.
Auch auf der Seite des „Spruchs“ hat sich damit eine weniger auffallende, aber nicht weniger radikale Verwandlung vollzogen. An die Stelle des einzelnen, vom Du gesprochenen Spruches ist die Weite der als Dünung gesehenen Wortbewegung getreten. Aber nicht nur um Ausweitung geht es dabei, sondern um eine wirkliche Umsetzung, wie sie mir für die Celansche Lyrik im Laufe der Jahre immer charakteristischer zu werden scheint. Der Wortbestand des im Gedicht Gesprochenen wird sozusagen unmittelbar verdinglicht, das heißt die Worte werden nicht mehr nur als Bezeichnungen der Dinge aufgefaßt, sondern erscheinen als selbständige Wesen gleichrangig und ohne kategoriale Differenz neben und zwischen den Erscheinungen der im Gedicht ausgesprochenen Welt.
Die „Dünung / wandernder Worte“ ist keine Metapher im hergebrachten Sinn mehr. Die Wendung will wörtlich genommen werden, als es einer Metapher zukäme. In dieser Dünung kann sich wirklich ein Stern spiegeln. Wenn man die Metapher traditionellerweise als verkürzten Vergleich definiert, so könnte man hier von einer verkürzten Metapher sprechen. Die Verkürzung beseitigt den üblichen Abstand zwischen den Worten und den mit Worten bezeichneten Sachen.
Was sich an diesem frühen Beispiel ablesen läßt, verdeutlicht. sich an einer Passage aus dem zuletzt erschienenen Gedichtband Atemwende:
Das Geschriebene höhlt sich, das
Gesprochene, meergrün,
brennt in den Buchten,
in den
verflüssigten Namen
schnellen die Tümmler,…
Die Atemwende-Gedichte bieten insgesamt eine Fülle von Beispielen dieser Verschränkung zwischen „verdinglichter“ Sprache und sprachlich evozierten Dingen. Aber auch schon die „Engführung“, von andern Gedichten des Sprachgitter-Bandes abgesehen, enthält an exponierter Stelle eine demselben Prinzip gehorchende Wendung wie „Gras, auseinandergeschrieben“. Es geht dabei nicht um eine naive Gleichsetzung von Bezeichnung und Bezeichnetem. Der Vorgang der Verkürzung und seine Kühnheit bleiben jederzeit sichtbar. Um so mehr Gewicht kommt ihm innerhalb der Struktur der hier vorliegenden Sprechweise zu. Es ist eine Sprechweise, die sich ihrer eigenen Sprachlichkeit bewußt ist, die ihr Gesprochensein immer wieder thematisiert, nicht um sich in einen selbstgeschaffenen Sprachkosmos zurückzuziehen, sondern vielmehr in der Absicht, den sprachlichen mit dem natürlichen Kosmos ausdrücklich zu verschwistern.
Auf dem Hintergrund dieses Verfahrens muß die Ausweitung des „Spruchs“ in die „Dünung / wandernder Worte“ gesehen werden. Die Anweisung vom Beginn des Gedichts:
Sprich auch du,
sprich als letzter,
sag deinen Spruch…
führt zuletzt mit Folgerichtigkeit auf die Nennung einer großen Wort-Dünung, in die auch noch der Stern als das fernste wahrnehmbare Gegenüber des dichterischen Spruchs eintauchen kann.
Das Herstellen dieser weitesten Verbindung erfolgt indes nicht in der Weise einer einfachen Entgrenzung. Die Transformationen der letzten Strophe sind gegenstrebig. Die Expansion ins Kosmische gründet in einer Kontraktion des Standorts. Die Schrumpfung ist es, die ihn zu einem Ort der Entschiedenheit macht. Diese. Reduktion gilt es noch genauer zu beschreiben, um ein geläufiges Mißverständnis auszuschließen. Vom Prinzip des einfachen lyrischen Ausdrucks her betrachtet, erscheint die Schrumpfung als Verlust von Welt. Der sich selbst ansprechende Sprecher des Gedichts wird „unkenntlicher“. Er verflüchtigt sich – jedenfalls für ein Bewußtsein, das mit. dem Begriff des dichterischen Standorts die Vorstellung einer festgefügten Plattform verbindet; von der herab gesprochen wird. Da es in der Dichtung Celans diese Plattform nicht gibt, kennt sie auch nicht ein feststehendes Welt-Panorama. Das ist aber noch nicht gleichbedeutend mit Weltverlust. Es bedeutet vielmehr den unausweichlichen Auftrag zum Weltgewinn. Die von jedem einzelnen Gedicht gesuchte, zu gewinnende Welt ist esoterischer Natur, das wird auch der mit dem Celanschen Werk vertraute Betrachter zugeben. Aber es gibt keinen Anlass, diese Esoterik mit purer Irrealität zu verwechseln. Wer einer solchen Verwechslung verfiele, würde sich den Zugang von vornherein abschneiden. Der „Faden“, auf den der dichterische Ort sich reduziert, steht für das Strukturprinzip des unablässigen Aufspürens von Beziehungen, durch das die Gedichte sich Welt heranholen. Die Reduktion, das „ferner“-Werden der Bezugsbasis, wie es sich in der Setzung des „Fadens“ ausspricht, verleiht der dichterischen Wahrnehmung das höhere Auflösungsvermögen, die Verfeinerung im Sinn der Präzisierung.
Der lyrische Begriff des „Fadens“ steht keineswegs isoliert im Werke Celans. Er kehrt wieder und gehört zu einem wichtigen Komplex verwandter Nennungen wie „Garn“, „Spur“, „Strahl“, „Netz“, „Gespinst“, „Schleier“, „Schliere“ (die welt-vermittelnde Funktion ist besonders deutlich ablesbar an dem Gedicht „Schliere“, S. 57). Die ernsthafte Celan-Kritik hat die Bedeutung solcher Wortfelder schon früh erkannt. Sie ergeben ihrerseits eine Art von Beziehungsgeflecht, das sich über das Gesamtwerk erstreckt. Das beschränkt sich keineswegs auf den hier angesprochenen Namen-Komplex. Auffallender noch treten Leitworte wie Auge, Hand, Stein, Baum, Wolke, Wasser, Wind, Träne aus dem Gesamtzusammenhang hervor. Aus dieser Tatsache ergibt sich zweifellos eine wichtige Verständnishilfe. Allerdings muß beigefügt werden, daß man sich von der Analyse dieser Beziehungen wiederum kein panoramisches Weltbild der Celanschen Dichtung versprechen darf. Die Beziehungen sind zu beweglich, um sich mit Hilfe einer einfachen Wortstatistik katalogisieren zu lassen. Worauf es ankommt, ist der Beziehungs-Charakter als solcher, der diese Dichtung bestimmt.
Auf ihn verweist auch der Titel, den Celan seiner umfangreichsten und wichtigsten poetologischen Äußerung gegeben hat: Der Meridian. Er versteht darunter „etwas – wie die Sprache – Immaterielles, aber Irdisches, Terrestrisches, etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich selbst Zurückkehrendes…“ (S. 148). Der solchermaßen als Gleichnis der Sprache aufgefaßte Meridian ist im selben Sinn ein geometrischer Ort wie der „Faden“ des „Sprich auch du“-Gedichts. In ihm trifft sich das Auseinanderliegende. Er ist kein Standort im üblichen Sinn, wohl aber das bewegliche Ordnungsprinzip einer poetischen Erfahrung. Im gliedert sich ausdrücklich auch noch des Dichters eigene Herkunft ein.
Es ist nicht müßig, zum Schluß auf den im weitesten Sinn autobiographischen Aspekt der Dichtung Celans hinzuweisen. Ihre spezifische Form der Wirklichkeitssuche, die aus dem Gewohnten und der vertrauten Formulierung aufbricht, den plausiblen Vergleich und das geschlossene Bild hinter sich läßt, um in einer paradoxalen Sprache neue, fundamentalere Beziehungen zu setzen und Welt zu gewinnen – sie wird verständlicher auf dem Hintergrund eines Weges, der vom Sprachverlust bedroht war. Die Bremer Rede gibt einige Hinweise auf diesen Vorgang. Die Sprache „blieb unverloren“, heißt es dort (S. 127). Zugleich wird deutlich, daß sie nur mit Hilfe von Transformationen zu bewahren war, wie wir sie am Modell eines einzelnen Gedichts zu skizzieren versuchten. Dieselbe Rede macht auf die frühe Vertrautheit mit der mystischen Tradition der Chassidim aufmerksam. Hier liegt die stichhaltigste historische Erklärung für die surrealistisch anmutenden Züge der Celanschen Lyrik. Aber eben diese Tradition konnte, wenn sie von neuem in einer Dichtung produktiv werden sollte, nicht ohne Verwandlung aus dem Untergang gerettet werden. Die innere Spannweite einer Dichtung ist identisch mit dem von ihr zurückgelegten Weg. Wie bewußt diese Spannung durch Celan aufrechterhalten wird, läßt sich an seinen Übersetzungen russischer, englischer, französischer Lyrik ablesen, die Übertragungen ins eigene Idiom sind. Auch in ihnen manifestiert sich der den Osten und Westen umgreifende Beziehungscharakter einer Lyrik, die der Sprache und dem, der sie spricht, unentwegt zumutet, sich selbst zu übersteigen. Es läßt sich heute schon erkennen, welche Dimensionen dem Gedicht in deutscher Sprache durch diesen Vorstoß hinzugewonnen worden sind.
Beda Allemann, Nachwort
Man hat immer ein beklemmendes Gefühl, wenn man über ein Buch schreiben soll, von dem man weiß: Der Leser, an den man sich wendet, kann nicht einfach in eine Buchhandlung gehen, um es sich zu kaufen, oder zu bestellen. Im vorliegenden Fall kann man zwar sagen: Trotz solcher „Versorgungsschwierigkeiten“ hat Celan bei uns ein gutes und zahlreiches Leserpublikum – soweit natürlich Celan überhaupt ein zahlreiches Leserpublikum haben kann!
In diesem Zusammenhang fällt mir eine Anekdote ein, die ich erzählen will, um die eingangs erwähnte Befangenheit ganz loszuwerden. Vor einigen Jahren ließ Hans Liebhardt in der Kulturbeilage des Neuen Weg das Gedicht „Sprachgitter“ abdrucken und zwei Interpretationen dazu; bald kamen Leserbriefe. Einen davon haben wir uns gemerkt. Er lautete:
Wir wollen Genuss, nicht Celan.
Wenn aber Beda Allemann in dem Nachwort der Ausgabe, die hier zur Diskussion steht, sagt: „Die von jedem einzelnen Gedicht gesuchte, zu gewinnende Wahl ist esoterischer Natur, das wird auch der mit dem Celanschen Werk vertraute Betrachter zugeben“, so sind damit nicht nur ganz bequeme Leute, wie unser Briefschreiber, als Außenstehende bezeichnet. Man trifft auch gute, geübte, genaue Leser, die von den frühen Gedichten Celans begeistert sind, seiner späteren Produktion aber reservierter gegenüberstehen und man hört und liest schließlich immer wieder, dass Lyrik heute dringendere Aufgaben habe als so komplizierten und beschwerlichen Weltgewinn.
Ein Werk wie dieses aber – der Auswahlband vereinigt das Wichtigste aus zwei Jahrzehnten und lässt uns eine folgerichtige und trotz der Pracht des Ausdrucks strenge Entwicklung überblicken – rechtfertigt sich dadurch, dass es sich, allem Anschein entgegen, eben doch nachvollziehen lässt und dadurch, dass es jene starke und eigenartige Faszination ausübt, die Lyrik heute anscheinend nur noch dann auszuüben vermag, wenn sich im Gedicht selbst ein Prozess der Transformation, der Expansion des menschlichen Erlebens in Grenz- und Zwischenbereichen vollzieht.
Wir wissen es seit Rimbaud und Baudelaire, wie es begann mit diesem neuen Aufbruch der Dichtung und wie es weiterging über Mallarmé einerseits und den späten Rilke andererseits, wie es – Grenzen beginnen hier die Sicht zu verstellen – parallel mit dem Wirken der Landvermesser in anderen Künsten verlief und wie die Ufer, auf denen Kunst sich heute ereignet, schon ganz anders verlaufen.
Und wenn einen der Abstraktionsprozess befremdet, der sich in Celans Lyrik von Mohn und Gedächtnis und Von Schwelle zu Schwelle an, über Sprachgitter und Die Niemandsrose bis zu Atemwende hin vollzieht, dann sollte man versuchen, es in Betracht zu ziehen, dass das Alluvionsland heute rasch wächst und dass, parallel mit dem Bedeutungszuwachs in medianen Existenzbereichen, sich wohl auch das künstlerische Verstehen und Hervorbringen wandeln muss.
Man wird in diesem Lichte zugeben, dass eine Dichtung, die sich darum bemüht, solchem Geschehen zu entsprechen, nicht weltfremd ist und jedenfalls nicht willkürlich in einem selbstgeschaffenen Sprachkosmos waltet.
… die
Welt setzt ihr Innerstes ein
im Spiel mit den neuen Stunden
Auch das Gedicht tut es.
Dass es sich dabei, wie Paul Celan in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises (1960) sagt, am Rande seiner selbst behauptet – „es ruft und holt sich, um bestehen zu können, unausgesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein: Immer-noch zurück“ –, das ist, wenn man aufrichtig sein will, wohl nicht zu verschweigen und entspricht der Stellung des Menschen, der sich „überflogen von Sternen, die Menschenwerk sind… zeltlos auch in diesem bisher ungeahnten Sinne und damit auf das unheimlichste im Freien“ befindet.
Diese Einsicht ermächtigt uns zu keinen Prognosen bezüglich der weiteren Produktion von Dichtung auf solchen Wegen; bezüglich der Rezeption kann sie uns aber zu positiven Annahmen führen. Die Fähigkeit, deutend zu lesen und dem Wirklichen immer ein Mögliches hinzuzudenken, sollte sich doch in einem Zeitalter verallgemeinern, in dem neue mathematische und metatheoretische Visionen entstehen. Wenn – ich zitiere wieder aus der erwähnten Darmstädter Rede – wenn „nichts dazwischenkäme“.
Das Suhrkamp-Bändchen enthält 81 Gedichte, zwei Reden Paul Celans, das erwähnte Nachwort Beda Allemanns und einen bibliographischen Anhang. Die Vorzüge einer solchen engeren Auswahl, die das Wichtigste aus mehreren Gedichtbänden vereinigt, verstehen sich eigentlich von selbst. Man liest ausschließlich Wertvolles, fast möchte man sagen, Gleichwertiges, und hat darüber hinaus die Möglichkeit, das Ganze oder eben immer längere Strecken fortlaufend zu lesen, die einzelnen Gedichte so als Teillösungen betrachtend, durch deren Kombination man sich einer allgemeinen Lösung nähert – die von der Aufgabe allerdings nicht zugelassen wird.
Dennoch, was ist an Einzelnem aus dem Inhalt dieser gepflegten Auswahl hervorzuheben? Die vielen Papierstreifen, die ich beim Lesen ins Bändchen legen musste – einige stehen oben über den Rand heraus, sie bezeichnen allgemein Bedeutsames, andere unten, die sind vielleicht vor allem für Leser wichtig, die an der Heimat und Herkunft des Dichters ein besonderes Interesse haben (so genaues Entsprechen ist immer auch autobiographisch – im weitesten Sinn natürlich), diese Papierstreifen also können hier leider nicht alle berücksichtigt werden.
Da wäre also die Rede nach Empfang des Büchner-Preises. Ihr Titel „Der Meridian“ will „etwas – wie die Sprache – Immaterielles aber Irdisches, Terrestrisches, etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich selbst Zurückkehrendes“ als Gleichnis für den eigenen Weg setzen. (Beda Allemann: „kein Standort im üblichen Sinn, wohl aber das bewegliche Ordnungsprinzip einer poetischen Erfahrung“.) In dieser Rede steht unter anderem auch der oft zitierte Satz „Die Dichtung… diese Unendlichsprechung von lauter Sterblichkeit und Umsonst“. Es spricht daraus der stolze und illusionslose Wille zur Utopie, den auch eines der bekanntesten und schönsten Gedichte Celans verkündet, der „Psalm“ aus dem Band Die Niemandsrose:
Ein Nichts
waren wir, sind wir, werden
wir bleiben, blühend:
die Nichts-, die Niemandsrose.
Mit
dem Griffel seelenhell.
dem Staubfaden himmelswüst,
der Krone rot;
vom Purpurwort, das wir sangen,
über, o über
dem Dorn.
Es ist sonderbar: Obwohl dieses Gedicht einen Grundgedanken des Autors gestaltet – schon durch den Rhythmus, der schwer, fast einhämmernd fällt und doch melodiös zugleich ist und der natürlich, fast volkstümlich scheint, auch dort, wo er in Wirklichkeit höchst dramatisch steigt („der Krone rot“) – trotzdem also dieses Gedicht zum Kunstvollsten und dabei auch Zugänglichsten der ganzen Sammlung gehört, kann ich nicht sagen, dass ich hier Celan am unverwechselbarsten gefunden habe, in dem, was heute noch sein Anliegen ist.
Vieles ist in diesem Band, so wie das eben zum Teil zitierte Gedicht, perfekt gemacht: „Todesfuge“, „Engführung“, „Soviel Gestirne“ („… Es ist, / ich weiß es, nicht wahr, / dass wir lebten, es ging / blind nur ein Atem zwischen / Dort und Nicht-da und Zuweilen, / kometenhaft schwirrte ein Aug / auf Erloschenes zu…“), Späteres kann dazu gezählt werden („Wortaufschüttung, vulkanisch“) ebenso wie Frühes („Corona“ oder das bedeutende „Spät und tief“: „Sie rufen: Ihr lästert! / Wir wissen es längst. / Wir wissen es längst, doch was tuts? / Ihr mahlt in den Mühlen des Todes das weiße Mehl oder Verheißung, / ihr setzt es vor unsern Brüdern und Schwestern – / Wir schwenken das Weißhaar der Zeit. / … es komme die Schuld über uns“).
Und doch: perfekt, bedeutend erschütternd – das scheint noch nicht das Allereigenste zu sein. Was ist es doch?
Sieht man sich die Gedichte an, die die übrig bleiben, wenn man sich zwingt, die Auswahl in immer engere Kreise zu treiben, die Stücke, auf die man gar nicht verzichten könnte, wenn man zu belegen hätte, wo die Celansche Lyrik hingelangen will, so wird man finden: Das Wichtigste an diesem Sprechen scheint die Genauigkeit zu sein, mit der das Gedicht jener Expansion von Erfahrung und Erfindung in Richtung Welt und Umwelt entsprechen kann, die uns heute zum Teil noch Abenteuer sein mag, zum Teil aber gewiss auch schon als Lebensvoraussetzung für den (wie gearteten?) Menschen von morgen am Werk ist.
Es blieben, als immer mehr Papierstreifen entfernt worden waren, die Zeichen stehen bei „Aufs Auge gepfropft“, „Schliere“, und „Fadensonnen“:
Fadensonnen
über der grauschwarzen Ödnis.
Ein baumhoher Gedanke
greift sich den Lichtton: es sind
noch Lieder zu singen jenseits
der Menschen.
Das muss vielleicht nicht wegführen vom Menschen überhaupt. Vom Vertrauten aber auf jeden Fall.
Elisabeth Axmann, Neue Literatur, Heft 5, 1970
Eberhard Haufe: (Zu: Ausgewählte Gedichte)
Germanistik, 12. 1971
Alfred Hoelzel: The suicidal rhetoric of silence
The Jerusalem Post Magazine. Lit. Page, 2. 6. 1972
Karl Krolow: Sprachzwang
Badische Zeitung, 16.12.1970
Uwe Rosenbaum: (Zu: Ausgewählte Gedichte)
Sendung im Westdeutschen Rundfunk 2 (Bücherboutique), 23.11.1970
Alvin H. Rosenfeld: The Poetry of Paul Celan: Speech-Grille and Selected Poems by Paul Celan. Transl. by Joachim Neugroschel. New York: Midstream November 1971
H. D. Tiesema: (Zu: Ausgewählte Gedichte)
Hel Duitse Boek, 1971. Heft 1
Die Lehre vom Zerfall, mein erstes Buch in französischer Sprache, erschien 1949 bei den Éditions Gallimard. Ich hatte bereits fünf Bücher in rumänisch publiziert. Als Stipendiat des französischen Instituts in Bukarest war ich 1937 nach Paris gekommen und bin seither hier ansässig. Die Idee, aus meiner Muttersprache auszubrechen, überkam mich erst 1947. Es war ein ganz plötzlicher Entschluß. Mit 37 Jahren die Sprache zu wechseln ist kein leichtes Unterfangen. Im Grunde ist es eine Qual, aber eine fruchtbare Qual, ein Abenteuer, das dem Dasein (das hat es weiß Gott nötig!) einen Sinn verleiht. Jedem, der eine Depressionskrise durchmacht, empfehle ich das Erlernen einer Fremdsprache; durch das Wort kräftigt man sich wieder, erneuert sich. Hätte ich nicht verbissen um die französische Sprache gerungen, so hätte ich vermutlich Selbstmord begangen. Jede Sprache ist ein Kontinent, ein Universum, wer sie sich aneignet, ist ein Eroberer. Aber kommen wir zum Thema…
Die Übersetzung der Lehre vom Zerfall erwies sich als schwierig. Der Rowohlt-Verlag hatte eine inkompetente Dame damit beauftragt. Das Ergebnis war katastrophal, ein Ersatz mußte gefunden werden. Ein rumänischer Autor, Virgil Ierunca, der nach dem Krieg in Rumänien eine literarische Zeitschrift herausgab und darin die ersten Gedichte von Paul Celan veröffentlicht hatte, empfahl mir diesen aufs wärmste. Ich kannte ihn nur dem Namen nach, er wohnte wie ich im Quartier Latin. Celan ging auf mein Angebot ein, setzte sich an die Arbeit und kam überraschend schnell damit zu Rande. Wir sahen uns oft. Er bat mich, die einzelnen Kapitel gleich nach Fertigstellung anzuschauen, um ihm mögliche Vorschläge zu machen. Die Probleme des Übersetzens waren mir damals völlig fremd, und ich war weit davon entfernt, ihre Tragweite zu ermessen. Allein der Gedanke, man könne sich ernsthaft dafür interessieren, schien mir abwegig. Später habe ich meine Meinung dazu vollständig geändert und betrachtete das Übersetzen als eine außergewöhnliche Leistung, als eine Heldentat, der des Schaffens beinahe ebenbürtig. Heute steht für mich fest, daß nur derjenige ein Buch wirklich erfaßt hat, der sich der Mühe einer Übersetzung unterzogen hat. In den meisten Fällen ist der gute Übersetzer hellsichtiger als der Autor, der in dem Maße, wie er von seinem eigenen Werk eingenommen ist, dessen „Geheimnisse“, d.h. dessen Fehler und Grenzen übersieht oder verkennt. Diesen Standpunkt über die Kunst des Übersetzens hätte Celan gewiß mit mir geteilt, er, der derart an die Worte glaubte, daß er daran zugrunde ging.
Als 1978 die Lehre vom Zerfall bei Klett-Cotta neu aufgelegt wurde, bat man mich, eventuelle Irrtümer zu berichtigen. Da ich außerstande war, es selber zu tun, habe ich mich geweigert, einen anderen darum zu bitten. Celan kann man nicht verbessern. Einige Monate vor seinem Tod sagte er mir, er würde gerne den gesamten Text noch einmal durchsehen. Zweifelsohne hätte er eine Anzahl von Veränderungen vorgenommen, denn die Übertragung der Lehre vom Zerfall lag zu Beginn seiner Übersetzerlaufbahn. Es ist ein wahres Wunder, daß ein in Philosophie Unkundiger so bemerkenswert den Schwierigkeiten Trotz geboten hat, die auf den übermäßigen Gebrauch des Paradoxon, sogar der Provokation zurückzuführen sind, die mein Buch kennzeichnet.
Der Umgang mit diesem aufs äußerste geschundenen Menschen war nicht einfach. Er klammerte sich an das Vorurteil, das er gegen diesen oder jenen hegte, hielt an seinem Argwohn fest, und dies um so starrer, als er eine krankhafte Angst davor hatte, verletzt zu werden. Alles verletzte ihn. Die geringste Taktlosigkeit, und war sie auch ungewollt, betrübte ihn unwiderruflich. Da er Überaufmerksam, extrem entgegenkommend war, erwartete er Ähnliches vom Gegenüber und verabscheute die Ungeniertheit, die bei den Parisern, Schriftstellern oder nicht, zum Umgang gehört. Einmal traf ich ihn ganz außer sich auf der Straße, fast verzweifelt, weil X., bei ihm zum Abendessen eingeladen, es nicht für nötig gehalten hatte, zu kommen. „Beruhigen Sie sich“, sagte ich ihm, „X. ist oft so, er ist wegen seiner Wurstigkeit bekannt. Welch’ ein Irrtum, daß Sie mit ihm gerechnet haben!“
Celan lebte damals sehr bescheiden und ohne Aussichten auf eine bessere Anstellung. Man kann sich ihn schlecht in einem Büro vorstellen. Wegen seiner Überempfindlichkeit hat er fast einmal eine seltene Gelegenheit verpaßt. Als ich ihn eines Tages besuchte, teilte ich ihm mit, die Stelle eines Deutschlektors an der Ecole Normale Supérieure sei frei und die Neuberufung stehe unmittelbar bevor. Ich versuchte Celan davon zu überzeugen, er müsse um jeden Preis bei jenem Germanisten vorsprechen, von dem alles abhing. Er antwortete, er würde nichts unternehmen, der besagte Professor ließe ihn links liegen, und er selber wolle sich keineswegs einer Absage aussetzen, die seine Meinung nach gewiß war. Jedes Insistieren war umsonst. Als ich wieder zu Hause war, schickte ich ihm einen Eilbrief, in dem ich ihn darauf hinwies, wie wahnwitzig es doch sei, eine solche Gelegenheit nicht zu ergreifen. Schließlich rief er doch den Professor an und die Geschichte war in einigen Minuten geregelt. „Ich habe mich bei ihm geirrt“, gestand er später.
Ich möchte nicht behaupten, daß er in jedem Menschen einen potentiellen Feind sah, aber es trifft zu, daß er in einer panischen Angst vor Enttäuschung und Betrug lebte. Seine Unfähigkeit zur inneren Distanzierung oder zum Zynismus hat sein Leben in einen Alptraum verwandelt. Niemals werde ich den Abend vergessen – wir waren bei ihm zu Hause −, als die Witwe eines Dichters, die aus literarischem Neid eine niederträchtige Kampagne gegen ihn in Frankreich und Deutschland angezettelt hatte, ihn beschuldigte, ihren Mann plagiiert zu haben. „Es gibt auf der ganzen Welt keinen unglücklicheren Menschen als mich!“ wiederholte Celan mehrmals. Der Stolz lindert nicht die Wut und noch weniger die Verzweiflung.
Etwas in ihm muß sehr früh gebrochen sein, schon lange bevor die Schrecknisse über ihn und die Seinigen gekommen sind. Ich erinnere mich an jenen Nachmittag in dem schönen Landhaus seiner Frau, 40 Kilometer von Paris entfernt. Es war ein herrlicher Tag. Alles lud zur Entspannung, zum Vergessen, zur Illusion ein. Celan, auf einem Liegestuhl, bemühte sich, fröhlich zu sein, es gelang ihm aber nicht. Er schaute betreten drein, wie ein Eindringling, als ob diese prachtvolle Gelassenheit nicht für ihn bestimmt sei. „Was suche ich eigentlich hier?“, dachte er vermutlich. Was suchte er tatsächlich in der Unberührtheit dieses Gartens, er, der schuldig an seinem Unglück war und irgendwie verdammt, nirgendwo seinen Platz zu finden? Es wäre gelogen, würde ich behaupten, daß ich ein wirkliches Unbehagen gespürt hätte, aber dennoch, alles bei meinem Gastgeber, sogar sein Lächeln, war geprägt von einer bestechenden Trauer und wie von der Vorahnung einer Nicht-Zukunft.
Von der Unvermeidbarkeit gezeichnet zu sein – ist das Auserwähltsein oder Fluch? Beides zugleich. Dieser Doppelaspekt bestimmt die Tragödie. Celan war eine tragische Gestalt, ein tragisches Wesen. Darum ist er für uns etwas mehr als ein Dichter.
E.M. Cioran, in: Akzente. Zeitschrift für Literatur, Heft 4, August 1989
– Wie ich Paul Celan lese. –
Ich habe nie über Paul Celan gesprochen. Aus Schamgefühl? Weil ich ihn nicht in seiner eigenen Sprache lesen kann? Und dennoch bin ich ihm in allem nahe.
Ich liebe den Menschen, der mein Freund war. Und unsere Bücher treffen sich gerade in dem, was sie voneinander scheidet.
Ein gleiches Fragen verbindet uns, ein gleiches verwundetes Wort.
Ich habe nie über Paul Celan geschrieben. Jetzt gehe ich das Wagnis ein; eine Entscheidung, die ich nicht alleine traf.
Das erste Mal über Paul Celan zu schreiben – für deutsche Leser – war verlockend.
Das erste Mal über Paul Celan zu schreiben und meinem Text den Bestimmungsort zu geben den seine Sprache, sein eigenes Wort erschloß, das hat mich „Ja“ sagen lassen; wie man zu sich selbst „Ja“ sagt, im Schweigen oder in der Einsamkeit. Aber auch des verlorenen Freundes gedenkend. So, als hätte ich ihn das erste Mal ruhig dorthin begleitet, wo wir nie gemeinsam eingedrungen waren, ins Innerste jener Sprache, mit der er so gerungen hat und die nicht die Sprache war, in der wir miteinander redeten.
Wen soll ich ansprechen, da der andere nicht mehr ist?
Die Stelle ist leer, wenn die Leere sie ausfüllt.
Die Stimme Paul Celans, der mir zu Hauses einige seiner Gedichte vorlas, ist nie verstummt. Noch jetzt kann ich sie hören, da ich, die Schreibfeder in der Hand, meinen Worten nachhorche, wie sie auf die seinen zugehen. Ich höre seine Worte in den meinen, wie man das Herzklopfen eines Menschen hört, den man nicht verlassen hat und der nunmehr im Schatten steht.
Diese Stimme steht im Zentrum meiner Gedichtlektüre; denn ich kann Paul Celan nur in Übersetzungen lesen. Aber die Hilfsmittel, derer ich mich dabei bediene – unterstützt von der unvergeßlichen Stimme des Dichters –, geben mir selten das Gefühl, ihn zu verraten.
Paul Celan war ein wunderbarer Übersetzer.
Einmal sagte ich ihm, es falle mir schwer, in den französischen Übersetzungen, die ich vor Augen hatte – im Jahr 1968 waren sie nicht sehr zahlreich –, die Gedichte wiederzuerkennen, die er mir vorlas. Er erwiderte, er sei mit diesen Übersetzungen insgesamt zufrieden.
„Die Übersetzung“, schreibt Philippe Soupault im Vorwort zum Prince Igor, „ist Verrat nur dann, wenn sie – wie die Fotografie – vorgibt, die Realität nachzustellen. Damit nimmt man dem Text schon im voraus jegliche Kontur, die Nebentöne, die Farben und vor allem den Rhythmus.“
Das ist wahr; was geschieht aber dann mit dem Originaltext?
Paul Celans Zufriedenheit mit den bereits veröffentlichten oder im Druck befindlichen Übersetzungen verwirrte mich. „Es läßt sich eben nicht besser machen“, präzisierte er. Redete er so, weil er im Grunde tiefer als jeder andere Schriftsteller um seine Unübersetzbarkeit wußte?
Hinter der Sprache von Paul Celan kann man den Widerhall einer anderen Sprache vernehmen.
Gleich uns Menschen – an der Grenze zwischen Licht und Schatten entlanggehend, um sie zu einer bestimmten Stunde des Tages zu überschreiten – bewegt und behauptet sich das Wort Celans an den Rändern zweier Sprachen von gleicher Statur: an der Sprache des Verzichts und an der Sprache der Hoffnung.
Sprach der Armut und Sprache der Fülle. Auf der einen Seite das Licht, auf der anderen die Finsternis. Wer aber könnte da unterscheiden, bei dem Ausmaß ihres wechselseitigen Durchdrungenseins?
Herrlicher Morgen oder trauriger Abend? Kein Morgen, kein Abend. Vielmehr – unausprechlicher Schmerz – das weite, öde, nebelverhangene Feld des beinahe Unsagbaren, außerhalb und innerhalb der Zeit. Kein Tag, keine Nacht. Vielmehr, im Gleichklang beider Stimmen, der unbegrenzte Raum, leer vom Zurückweichen der enteigneten Sprache, im Schoß der wiedergefundenen Sprache.
Als lasse sich das eine Wort nur auf den Trümmern des anderen errichten – in dessen Anwesenheit und Abwesenheit zugleich.
Staub. Staub.
Das Schweigen erlaubt ein Abhorchen des Wortes. Jeder Schriftsteller weiß das. Das Schweigen kann aber derart wachsen, daß die Worte nichts als dieses selbst ausdrücken.
Hat das Schweigen, das die Sprache zu erschüttern vermag, seine eigene Sprache, eine Sprache ohne Ursprung und Namen?
Unhörbare Sprache des Geheimnisses?
Diejenigen, die zum Schweigen verdammt worden sind, kennen diese Sprache am besten, wissen aber, daß es der Worte der gesprochenen Sprache bedarf, um sie zu verstehen.
Ununterbrochener Übergang: vom Schweigen zum Schweigen und vom Wort zum Schweigen.
Aber die Frage bleibt: Gründet die Sprache des Schweigens in der Absage an die Sprache oder in der Erinnerung an das erste Wort?
Wußten wir es nicht? Das aus Buchstaben und Lauten bestehende Wort bewahrt die Erinnerung an jenes Schulbuch – oder an irgendein anderes Buch –, das uns das Wort einst offenbart hat, indem sich das Wort dem Worte offenbarte. Es bewahrt auch die Erinnerung an all die Stimmen, die es im Laufe der Jahre – und der Jahrhunderte – ausgesprochen und verbreitet haben.
Wörter: entdeckt, weitergegeben, von fremden und vertrauten Händen, von fernen und nahen Stimmen; von Stimmen der Vergangenheit, sanften, grausamen, schrecklichen.
Ich weiß jetzt, daß es keine Geschichte des Wortes gibt. Aber es gibt eine Geschichte des Schweigens: Jedes einzelne Wort erzählt von ihr.
Die Worte sagen nichts als dieses Schweigen. Das ihre und das unsere.
Einen Schriftsteller befragen heißt die Worte in seinem Gedächtnis befragen, die Worte seines Schweigens; heißt, sich in ihre Vergangenheit als Wörter zu versenken – die Wörter sind älter als wir, und der Text ist alterslos.
Für Paul Celan war das Deutsche die Sprache, mit der er verschmolz; es war aber auch die Sprache, die ihm einst untersagt wurde von denen, die sich als ihre Beschützer aufspielten.
Die Sprache seines Stolzes und die seiner Demütigung. Hat man nicht mit den Worten seiner Untertänigkeit versucht, ihn von sich selbst wegzureißen und in die Einsamkeit und Fremde auszusetzen, wenn man ihn schon nicht sofort dem Tode übergeben konnte?
Es liegt etwas Paradoxes darin, sich plötzlich als ein Fremder in der Welt wiederzufinden und sich der Sprache des Landes, aus dem man verstoßen wurde, völlig anzuvertrauen, um sie für sich allein zurückzugewinnen.
Als gehörte die Sprache letztlich nur denen, die sie über alles lieben und sich für immer an sie gebunden wissen.
Befremdliche Leidenschaft, die ihre Kraft und Hartnäckigkeit aus sich selbst zieht.
Stéphane Mosès schreibt in seiner Analyse von Celans „Gespräch im Gebirg“, daß der Gebrauch jiddischer Ausdrücke in diesem Text als eine Herausforderung an den Henker zu lesen sei.
Ich glaube das nicht.
Die Herausforderung an den Henker liegt anderswo. Sie liegt in der Sprache seiner Dichtung, in einer Sprache, die Celan zu ihrem Gipfelpunkt geführt hat.
Den ständigen Kampf eines jeden Schriftstellers mit den Wörtern, denen das Persönlichste abgezwungen werden soll, hat wohl niemand so verzweifelt durchlebt wie Paul Celan, der ihn zweifach durchlebte.
Das Wort, das uns tötet, zu verherrlichen wissen. Das Wort, das uns rettet und uns verherrlicht, töten.
Diese Haßliebe zur deutschen Sprache hat ihn am Ende seines Lebens Gedichte schreiben lassen, an denen einzig der Riß lesbar bleibt.
Daher die Schwierigkeiten beim ersten Lesen dieser Texte.
In seiner frühen Lyrik läßt sich Celan von den Worten der Sprache seines Denkens und seines Atems tragen: von der Sprache seiner Seele.
Er braucht diese Sprache, um zu leben. Es ist ein geschriebenes Leben, geschrieben in der Sprache seines Stils, mit den Worten seines eigenen Lebens und des Todes – eines Wortes mehr.
In seiner späten Lyrik ist das Ringen mit dem Tod erbitterter als je zuvor. Inmitten seiner Liebe sterben.
Was zur Sprache drängt, zerstören, bevor es Sprache wird; als hätte nur das Schweigen Bürgerrecht erworben: das Schweigen vor und nach den Wörtern, zwischen den Wörtern, zwischen zwei Sprachen, gegeneinander aufgehetzt – und dennoch demselben Schicksal zugedacht.
Seine Dichtung war stets auf der Suche nach einer Wirklichkeit. Die Wirklichkeit einer Sprache? Das Wirkliche ist das Absolute.
Seinen Henkern im Namen der Sprache, die sie mit ihm teilen, trotzen und sie auf die Knie zwingen.
Darum ging es vor allem.
Wenn übersetzen immer verraten heißt, wie kann ich dann gestehen, daß ich um eines besseren Verständnisses willen den Weg des Verrats einschlug?
Aber ist nicht jede persönliche Lektüre an sich schon Verrat?
Unfähig, ihn auf deutsch zu lesen, lese ich Paul Celan in Übersetzungen: französischen, englischen oder italienischen. Alle sind annehmbar. Alle sind unzulänglich, ermöglichen jedoch ein besseres Verständnis des Originaltextes. Was der einen fehlt, hilft die andere genauer zu umreißen.
Ich lese diese Übersetzungen, ohne den deutschen Text je aus dem Auge zu verlieren. Ich versuche den Rhythmus, die Bewegung, die Musik, die Zäsur zu entdecken. Geleitet von der sicheren Stimme Paul Celans. War nicht er es, der mich mit dieser Art von Lektüre vertraut machte?
Alle mir bekannten Sprachen helfen mir, in seine mir unbekannte Sprache einzudringen. Über solch ungewöhnlichen Umweg gelange ich in die größte Nähe dieser Dichtung.
Habe ich Paul Celan jemals gelesen? Ich habe ihm lange zugehört. Ich höre ihm immer noch zu. Seine Bücher erneuern jedesmal unser Gespräch, an dessen Anfang ich mich nicht mehr erinnere, das aber seither durch nichts unterbrochen wurde.
Lautloses Gespräch, durch die Wörter hindurch, die leicht wie kühne, freie Vögel sind; im Himmel ist alles Gewicht der Welt.
Wörter: Steine, von schwermütigen Geistern auf den Marmor nichtexistenter Gräber gelegt; auf Erden ist aller Schmerz der Welt.
Wörter: sterbliche Überreste eines endlosen Schreckenstages, von dem nichts blieb als das unerträgliche Bild einer Rauchwolke, die sich, rosenfarben, über Millionen verbrannter Leichen erhebt.
Ein Nichts
waren wir, sind wir, werden
wir bleiben, blühend:
die Nichts-, die Niemandsrose.
Edmond Jabès, aus Edmond Jabès: Die Schrift der Wüste, Merve Verlag, 1989
Aus dem Französischen übersetzt von Elias Torra
Es muss Ende 1954 oder vielleicht auch Anfang 1955 gewesen sein. Ich hatte damals ein Zimmer in Paris auf der Île Saint-Louis, direkt bei der Pont Marie, der ältesten romanischen Brücke in Paris. Es war ein wunderbares Zimmer, eine Art Studio mit Kochnische im sechsten Stock. Es ist mir sehr schwergefallen, es aufzugeben, als ich im Dezember 1957 nach Berlin übersiedelte. Das Haus lag direkt auf dem Quai d’Anjou Nr. 29 und hieß Hotel de la Paix, obwohl es natürlich zum Glück nichts mit dem bekannten Luxushotel in der Nähe der Place de l’Opera zu tun hatte. (Die Besitzer hatten es billig direkt nach dem Zweiten Weltkrieg erstanden. Heute ist es wieder ein Privathaus.) Es gab dort Zimmer mit Aussicht zur Seine hin, und natürlich auch kleinere mit Blick auf den Innenhof. Ich wollte da wohnen und natürlich ein Zimmer mit Aussicht auf die Seine haben. Nach sechs Monaten ständiger Nachfrage wurde tatsächlich ein Zimmer frei. Die Aussicht war schön, man konnte an die sieben Brücken von dem kleinen Fenster aus sehen, und auch die schmalen, flachen Frachtschiffe, die mit Kohlen beladen die Seine hinauffuhren. Immer, wenn ich so ein tuckerndes Geräusch hörte, eilte ich zu dem kleinen Fenster, um sie vorbeifahren zu sehen.
In jener Zeit sah ich Paul Celan zum ersten Mal. Ich bot dem Saarländischen Rundfunk sowie dem Südwestfunk in Baden-Baden Sendungen über Lateinamerika an. In Baden-Baden empfing mich Walter Rosengarten. Irgendwie hatte er Paul Celan über meine Anwesenheit in Paris informiert. Eines Tages rief Celan mich im Hotel an, als ich gerade Zahnweh hatte. Ich muss erwähnt haben, dass ich einen „artifiziellen Zahn“ brauchte und zum Zahnarzt musste. Sofort hat er mich korrigiert und mir erklärt, im Deutschen sage man „falscher Zahn“. Ich traf ihn dann im elsässischen Restaurant L’Oasis auf der Île Saint-Louis, gegenüber der Passarelle, das heute nicht mehr existiert. Ich war erstaunt, einen eher dunkelhaarigen Herrn zu sehen, der so aussah wie meine Freunde vom Mittelmeer oder aus Lateinamerika. Und die Herkunft des Namens Celan konnte ich mir auch nicht erklären. So erfuhr ich dann, dass sein Name Antschel oder Ancel war und Celan ein Anagramm. Er sagte:
Manchmal möchte ich den Namen ,begradigen‘.
Dieses Wort hat er gebraucht, „begradigen“. Als wir dann aufbrachen, kamen wir an einem Café vorbei, wo angeschrieben war, dass man hier „Tabac“ kaufen kann. Er bemerkte, dass man in seinem Land Tabak mit „k“ schreibe, und machte mir ein Kompliment über die schöne Gegend, die ich mir zum Wohnen ausgesucht hatte. Er benutzte das Wort „exquisit“:
Sie suchen sich die exquisitesten Teile der Stadt aus.
Dann lud er mich zu sich nach Hause ein, und ich lernte Gisèle kennen. Es war eine Zweizimmerwohnung, wahrscheinlich in der Rue Lota.
Die nächste Wohnung, in der ich war, lag in der Rue Longchamp 78. Eric war bereits auf der Welt. Es muss um 1957 gewesen sein. Ich weiß noch, dass ich einmal so eine kleine Glaskugel für Eric mitbrachte, in der es schneite, wenn man sie schüttelte. Den Celans gefiel das Mitbringsel. Nach jedem Besuch gab er mir etwas zum Lesen mit, denn er erhielt ja ständig Bücher aus Deutschland. Zum Beispiel erinnere ich mich an diese Fischer-Doppelpunkt-Ausgaben von 1961: Ein Buch, die Ungewöhnliche Geschichte von Michel Butor, habe ich noch. Einmal war es eine englische Ausgabe in feinem dunkelgrünen Leder von vielleicht 1850. Vorn auf dem Buchdeckel war eine kleine goldene Eule zu sehen. Eigenartigerweise war es ein Buch von Carlyle, das er bei den Bouquinisten gekauft hatte. Es gefiel mir so gut, dass er es mir spontan schenkte. Er war übrigens sehr spontan. Ein weiteres Buch, das er mir gab, war Vom ABC zum Sprachkunstwerk von W.E. Süskind, eine deutsche Sprachlehre für Erwachsene, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1955.
Auch Ausgaben von Von Schwelle zu Schwelle, Mohn und Gedächtnis und die Übersetzung von Rimbauds Bateau ivre. Ich erinnere mich auch an die Zeit, als er Mandelstamm übersetzte. (Leider sind all meine Sachen, die ich in Paris in einem Depot hatte, trotz pünktlicher monatlicher Bezahlung verschwunden, als ich 1964 von einem Tag auf den anderen nach Argentinien musste und erst 1970 wieder nach Europa zurückkam.) Das einzige Buch, das ich noch mit Widmung habe, ist Die Niemandsrose.
Manchmal las er auch seine letzten Gedichte vor, wenn ich bei ihnen zum Mittagessen war. Zum Beispiel erinnere ich mich an „Tenebrae“ und „Schibboleth“. Alle paar Wochen war ich zum Mittagessen eingeladen. Gisèle arbeitete auch viel zu jener Zeit, wurde immer schöner und blühte mehr und mehr auf. Sie sagte einmal, sie habe das Malen mit Farben, Pinsel und Leinwand aus Platzmangel aufgegeben und sich daher auf Radierungen beschränkt.
Einmal, als ich wieder dort zum Essen war, erschien unerwartet Beda Allemann. Es war ein sehr schöner Tag, und man entschloss sich zu einer Fahrt auf einem Bateau Mouche. Ich erinnere mich, dass Celan James Dean erwähnte, den er anscheinend schätzte und der um jene Zeit tödlich verunglückt war. Ein anderes Mal traf ich bei den Celans Hermann Kesten, der damals in Rom wohnte. Einmal, an einem warmen Sommerabend, saß ich mit südamerikanischen Freunden in einem Terrassencafé auf dem Boulevard Saint-Germain, neben dem Madison-Hotel. Ein paar Meter weiter saßen Paul Celan, Karl Krolow und ein weiterer Deutscher, ziemlich groß an Wuchs. Ich meine, es war Holthusen, aber ich bin nicht ganz sicher.
Einmal hielt Enzensberger einen Vortrag in Paris. Ich weiß nicht mehr, wo und über welches Thema er gesprochen hat. Celan war indigniert und ging, bevor der Vortrag zu Ende war, aus dem Saal.
Über Celan habe ich Eduard Roditi und Alexander Koval kennengelernt. Koval wohnte bei Roditi in einer kleinen, engen Straße Rue Grégoire de Tours. Er übersetzte gerade The Adventures of Augie March von Saul Bellow. Ich arbeitete eine Zeitlang dort und tippte die deutsche Übersetzung in die Maschine. […]1
Zu einem anderen Zeitpunkt suchte ich Arbeit in Genf bei der NATO oder dem BIT (Bureau International du Travail). Man stellte mich einer Dame vor, die Lydia Kerr hieß und äußerst sympathisch war. Sie war irgendwie russischer Abstammung, doch mit einem Engländer verheiratet gewesen. Damals war sie schon Witwe. Sie hatte selbst einen Band mit Gedichten drucken lassen. Zurück in Paris, habe ich Celan von Lydia Kerr erzählt, und sie hat dann Celan Arbeit besorgt, da er ja auch russisch sprach.
Im Oktober/November 1957 entschloss ich mich, von Paris nach Berlin überzusiedeln. Ich wollte ein spätes Studium an der Freien Universität beginnen. Kaum war ich in Berlin angekommen, erhielt ich einen Brief vom Arzt meines Vaters, dass er sehr krank und seine Lebenserwartung begrenzt sei. So fuhr ich dann zurück nach Sarreguemines, um ihm ein bisschen beizustehen und zu helfen, da ich außerdem das Gefühl hatte, nie richtig mit meinem Vater zusammengewesen zu sein. (Diese Zeit habe ich in der Erzählung Die Zeit in den Koffern festgehalten.) Nach seinem Tod im April 1958 ging ich wieder nach Berlin zurück. Zuvor war ich noch einmal kurz in Paris. Ich hatte ein bisschen Geld geerbt und besaß jetzt einen kleinen Renault. In Paris habe ich die Celans besucht, und beim Verabschieden unten auf der Straße – vielleicht kamen sie mit herunter, weil ich ihnen das Auto zeigen wollte – sagte Celan:
Ça lui va à Edith, un peu d’argent.
Er nannte mich auch „le petit centre“, weil ich so viele Leute in verschiedenen Ländern kannte.
Ich sollte erwähnen, dass ich Paul Celan eine Kritik von Günter Blöcker geschickt hatte. Ich habe damals in Berlin gelebt und den Artikel im Berliner Tagesspiegel gesehen, aber nicht gelesen. Da ich annahm, dass das etwas sei, was Celan interessieren würde, habe ich den Artikel nach Paris geschickt. Ich wusste nicht, was darinstand, und hätte ihm gerne diese Aufregung erspart. Als ich wieder zurück in Paris und bei den Celans war, kam das natürlich sofort zur Sprache. Ich sagte Celan, dass ich den Artikel nicht gelesen hatte, und er glaubte es mir, wie auch Gisèle. Er sagte nur:
Il faut lire, Edith.
Später, in Buenos Aires, erhielt ich ein Buchgeschenk. Es war 1966, im Oktober. Im April hatte ich meine Mutter verloren und das anscheinend den Celans mitgeteilt. Es waren die Dichtungen, Schriften von Henri Michaux, herausgegeben und mit eigenen Übertragungen von Paul Celan (S. Fischer Verlag, 1966). Eine Visitenkarte mit herzlichen Grüßen von Paul Celan lag bei.
1970 kam ich nach England und traf per Zufall Lydia Kerr wieder, die hier Familie hatte. Über sie erfuhr ich dann direkt vom Tod Paul Celans.
Ich schrieb einen Beileidsbrief an Gisèle. Ich wusste nicht, dass sie inzwischen getrennt lebten. Nach vielen Monaten antwortete sie mir, und wir nahmen dann wieder Kontakt auf. Ich sah sie in Paris, und sie sagte mir damals, das einzige, was ihr ein wenig Freude bereiten würde, wäre, wenn sie ihre Arbeiten ausstellen könnte. Sie war auch einmal in London. Hier besuchten wir die National Gallery: Sie wollte das „Pferd“ von Géricault sehen oder noch einmal wiedersehen.
In London wurde ich damals auf die Galerie von Patrick Seale aufmerksam, da Günter Grass dort einmal eine Ausstellung hatte. Ich schlug Seale eine Ausstellung mit Gisèle Celan-Lestrange vor, und er akzeptierte; ich erinnere mich, dass er sagte:
Ça, c’est elle.
Die Londoner Ausstellung begann am 23. September 1975. Gleichzeitig eröffnete er eine weitere Galerie in Paris und bot Gisèle auch dort eine Ausstellung an. Das fiel mit ihrem fünfzigsten Geburtstag zusammen, und sie freute sich darüber. […]
Die Begegnung mit Paul Celan und Gisèle Celan-Lestrange gehört zu meinen wertvollsten Erinnerungen.
Edith Aron, London, im Dezember 2001, in Celan-Jahrbuch 8 (2001/2002), hrsg von Hans-Michael Speier, Universitätsverlag Winter, 2003
[…]2
Meine Pariser Jahre waren, mitten in einer Großstadt, splendid isolation, so ging es vielen Ausländern. Der Kontakt mit Franzosen war nicht sehr groß; man traf sich vor allem mit Ausländern, die auch in Paris lebten und eine ähnliche Erfahrung machten. Den stärksten Kontakt hatte ich mit Paul Celan, wobei wir beide so unterschiedlich waren, wie Menschen nur unterschiedlich sein können, und dennoch ging es; es ging auf eine manchmal anstrengende, aber doch wunderbare Weise. […] Er hatte anfangs eine Art, die auf einige Autoren vielleicht einschüchternd wirkte, so etwas Stefan-George-haftes. Er sprach dennoch wohlwollend mit den jüngeren Kollegen, und ich war damals viel frecher als heute. Ich habe ihm gleich zu Anfang gesagt, ich bin nicht die Wand, zu der Du sprichst. Und dann hatten wir richtige Streitgespräche. Ich habe allerdings auch deutlich gemacht, dass ich von ihm viel lernen konnte, viel gelernt habe, und ihm dafür sehr dankbar war. Ich war wild belesen, mit großen Löchern dazwischen, während dieser Mann ein Wissen ungeheuerlicher Art hatte. Der hat mich zum Beispiel nicht nur auf Rabelais aufmerksam gemacht, sondern auch auf die Regissche Übersetzung. Es war wirklich alles mit Kennerschaft gepaart. Durch ihn habe ich französische Symbolisten und „Là-bas“ gelesen, natürlich in deutscher Übersetzung. Das war für mich eine wichtige Einführung in Dinge, die es im 19. Jahrhundert gegeben hat und die verstellt waren, weil wir immer davon ausgehen, das 19. Jahrhundert, besonders die zweite Hälfte, ist der Beginn der realistischen Literatur. […] Er hat mit großem Vergnügen und Interesse und mit offen zugegebenem Neid gesehen, wie ich da Kapitel nach Kapitel [der Blechtrommel] schrieb. Er hatte den Wunsch und regelrecht das Bedürfnis – neben seiner wahnsinnigen, existentiellen Anstrengung des Gedichteschreibens –, auch Prosa schreiben zu können, sich quasi zu entlasten, leichtfertiger – im doppelten Sinn des Wortes – zu werden. Und es gibt von ihm auch einige kurze, wunderbare Prosapassagen, die sind aber, glaube ich, nicht mehr als fünf Seiten lang. Darüber ist es bei ihm nicht hinausgegangen. Und deswegen hat er mir, ermunternd und stützend, ähnlich wie Höllerer, mit anderen Worten, aus einer ganz anderen Ecke heraus, bei meinem ersten Roman geholfen. Und diese Art von Hilfe, auch wenn ich sie bei späteren Büchern nicht mehr so präsent hatte, ist mir immer erinnerlich geblieben.
[…]
Günter Grass im Gespräch mit Claus-Ulrich Bielefeld und Dieter Stolz, in Sprache im technischen Zeitalter 139, September 1996
[…]3
Gedichte wurden für mich erst wichtig, als ich in Paris Paul Celan kennenlernte. Wir besuchten ihn in seiner Pariser Wohnung. Eine Frau, malend, ein Kind. Er war schwermütig, verzweifelt, dumpf, glaubte sich verfolgt, irgendeine deutsche Zeitung hatte ihn kritisiert oder falsch zitiert, doch als er uns dann eines Tages in Neuchâtel mit seiner Frau besuchte und einige Tage bei uns blieb, lernten wir ihn von einer anderen Seite kennen. Wir hatten das Ehepaar in einem Hotel auf dem Chaumont einlogiert, zuerst war er traurig, so wie wir ihn von Paris her kannten, wir waren bedrückt, wie wir in Paris bedrückt gewesen waren, versuchten, ihn aufzurichten, wir wussten nur nicht wie, wie wir es in Paris auch nicht gewusst hatten. Am letzten Tag hatte sich seine Schwermut auf einmal verzogen, wie ein dunkles Gewölk sich auf einmal verzieht. Der Tag war heiß, schwül, kein Wind, lastendes Blei. Wir spielten stundenlang Tischtennis, er war von einer ungeheuren, bärenstarken Vitalität, er spielte meine Frau, meinen Sohn und mich in Grund und Boden. Dann trank er zu einer Hammelkeule eine Flasche Mirabelle, einen starken Schnaps, seine Frau und wir tranken Bordeaux, er trank eine zweite Flasche Mirabelle, Bordeaux dazwischen, in der Pergola vor der Küche, am Himmel die Sommersterne. Er dichtete in das bauchige Glas hinein, dunkle, improvisierte Strophen, er begann zu tanzen, sang rumänische Volkslieder, kommunistische Gesänge, ein wilder, gesunder, übermütiger Bursche. Noch als ich ihn und seine Frau zum Chaumont hinauffuhr, durch den nächtlichen Jurawald, als schon der Orion heraufstieg, dann immer mächtiger der Morgen, und wie die Venus aufflammte, sang, grölte er, wie ein ausgelassener Faun. Später hörten wir wenig mehr von ihm. Einmal schickte er einen Zeitungsausschnitt, flehte, ich solle einschreiten, er vermutete einen geheimen Angriff, ich las den Artikel immer wieder, konnte nichts finden, begriff seine Vermutung nicht, antwortete nicht, weil ich nicht begriff und nicht wusste, wie ich ihn beruhigen könnte, ohne sein Feind zu werden, sah er doch nun überall Feinde, witterte überall Intrigen. Dann kam er noch einmal, aus Paris oder aus Deutschland, wie auf der Flucht, saß in meinem Atelier zwischen meinen Bildern, schwieg, ein Gespräch schien sich doch noch anzubahnen, versiegte, meine Frau bereitete das Gastzimmer vor, ich ging in den Weinkeller, unglücklich, ich wusste, dass ich ihn unglücklich gemacht hatte, dass er Hilfe gesucht hatte, ohne sie gefunden zu haben, kam mit einigen Flaschen zurück, das Atelier war leer. Erst jetzt höre ich Celans Stimme wieder. Mehr als zwanzig Jahre später. Der Suhrkamp Verlag hat zwei Platten herausgegeben. Ich höre der Stimme zu. Celan liest seine Gedichte eindringlich und exakt, das Tempo gleichmäßig, manchmal beschleunigt. Wortschöpfungen, Assoziationen, ich sehe Bilder, indem ich ihm zuhöre. Bilder von Hieronymus Bosch, „Das Jüngste Gericht“, „Der Garten der Lüste“. Sind diese Gedichte noch sprechbar, nicht zu esoterisch, um unmittelbar zu wirken, Hieroglyphen, die sich erst nach langem Betrachten enthüllen, Gedichte der vollkommenen Einsamkeit, hinter schalldichten Glasscheiben gesprochen, Gedichte ohne Zeit und Ton, schwarze Sprachlöcher, Wortalchemie? Die gleiche Hilflosigkeit überfällt mich, die ich Celan gegenüber empfunden habe, die Traurigkeit, die er zu verbreiten wusste.
[…]
Friedrich Dürrenmatt, in Friedrich Dürrenmatt: Turmbau. Stoffe IV–IX. Begegnungen. Querfahrt. Die Brücke. Das Haus. Vinter. Das Hirn, Diogenes 1990
Am Abend des 7. Februar las Paul Celan im Goldenen Saal der Böttcherstraße vor einem überwiegend jüngeren Publikum aus seinen Gedichten. In der anschließenden Diskussion wurde plötzlich die Frage nach Claire Golls Plagiatsbehauptung gestellt. Ich hatte den Eindruck, der fragende Student erhoffte, Celan möge die ungeheuerliche Unterstellung auch hier noch einmal zurückweisen.
Celan wurde bleich. Er sprang auf, schrie, er verbäte sich derartige Unverschämtheiten, die nichts anderes seien als blanker Antisemitismus, und rannte aus dem Saal. Ich folgte ihm auf die Böttcherstraße und versuchte, ihn zu beruhigen. Ich sagte, dass mir ein sich offen bekennender Antisemitismus kaum begegnet sei (was nach meinen Erfahrungen für die fünfziger Jahre auch weitgehend zutraf), wenn ich auch nicht ausschließen könne, dass sich hinter dem zur Schau getragenen Philosemitismus gelegentlich ein verkappter Antisemitismus verberge, das gelte dann aber eher für die ältere Generation. Nein, schrie er, da gebe es nichts zu erklären, das sei eine gezielte Provokation gewesen, er bedaure, sich auf die Lesung eingelassen zu haben, und begann zu weinen. Ich gewann den Eindruck, dass er nur auf eine solche Gelegenheit gewartet hatte, um seine Wut und Verzweiflung zu artikulieren. Alle meine Argumente reizten ihn nur um so mehr. Da passierte es: „Lieber Herr Celan, Sie sollten Claire Goll…“, hatte ich sagen wollen, ich sagte aber: „Lieber Herr Goll, Sie sollten…“ Celan verstummte, sah mich wild an, drehte sich um, rannte zum Bahnhof und nahm den nächsten Zug nach Paris. Ich schrieb an Ingeborg Bachmann. Wenige Tage später kam ihre Antwort:
Ich war recht traurig mit Deinem Brief – versteh mich recht!, denn ich hätte Dir gerne diese Szene erspart, und ebenso gern hätte ich Celan diese Missverständnisse erspart. Er dürfte wohl ein sehr schwieriger Mensch sein, aber ich konnte nicht wissen, dass Schwierigkeiten solcher Art auch bestehen. Lassen wir es aber, da doch nichts zu ändern ist.
[…]
Oswald Döpke, in Paul Celan – Die Goll-Affäre. Dokumente zu einer „Infamie“, zusammengestellt, herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann, Suhrkamp, 2000
Walter Fabian Schmid: Das Scheitern des zersungenen Orpheus. Lied und Gesang bei Paul Celan
EPITAPH FÜR CELAN
Wetterbrösel, Blutwolken
Widerhaken im Sterbebaum
damals: Gasverbundröhren
heute: die Tropen der Tropen
heute: niemandes Nadelöhr.
Armin Ayren
SILBENSPRUNG
Angstüberholender
Blick in die Zukunft.
Silbensprung
von Wort zu Wort
bis ins Verstummen
von Celan
Wolfgang Eschker
KLAGE UM PAUL CELAN
(Zum Tod meines Freundes in Paris)
aaaSetz deine Fahne auf Halbmast
aaaErinnerung
aaaAuf Halbmast
aaaFür jetzt und immer
aaaP. C.
Tage aus Sisal Tage aus Nylon
Einer aber spann Seide spann Seide
Dünn war der Faden lang war der Faden
Stark war der Faden schwach war der Faden
Daran hing ein schwarzes Gewicht.
Tonnen aus Rauch Rauch aus Blut
Lichterne Lohe lohend Gelichter
Überall Lager überall Treppen
überall Raupen überall Seide
Israel überall
Einer wickelte ab den Faden
War ein Cocon aus Schmerzen aus Schmerzen
Wundes Innen wehes Außen
Abgeschnitten
Abgeschnitten
Arno Reinfrank
PAUL CELAN
Vom Muster-Rotkäppchen ein Extrakt
Pfeifen Husten Tapsen Gammeln Stampfen Schnalzen
Rümpfen Knicken Bündeln Hetzen Kriechen Hocken
Drücken Röcheln Klopfen Klöppeln Stupsen Stöckeln
Blödeln Japsen Kreischen Blubbern Grabschen
Wimmern Heulen Boxen Suchen Finden
Hasten Haschen Häschen huschen
Peter Wawerzinek
Paul Celan: Dichter ist, wer menschlich spricht. Ein Film von Ulrich H. Kasten und Hans-Dieter Schütt mit Eric Celan und Bertrand Badiou.
Gerhart Baumann hielt seinen Vortrag Paul Celan: Um-Wege zu sich und die offene Frage des Gedichts auf der Tagung Vom Sinn moderner Lyrik am 23. Januar 1971 im Haus der Katholischen Akademie in Freiburg.
Niemand zeugt für den Zeugen. 100 Jahre Paul Celan. Literarische Soirée am 30.9.2020 im Haus am Dom Limburg.
Paul Celan, Czernowitz & die „Todesfuge“. Helmut Böttiger berichtet.
„Ästhetik und politische Dimension der Dichtung Paul Celans“. Mit Helmut Böttiger, Thomas Sparr und Monika Rinck; Moderation: Dieter Stolz am 23.11.2020 im Literaturforum im Brecht Haus.
Serhij Zhadan und Oleksandr Bojtschenko: Paul Celan – zwischen Biographie und Poetik
Paul Celan in Europa – Videogespräch am 22.9.2020 im Rahmen der trilateralen Forschungskonferenzen 2020–2023 in der Villa Vigoni.
Paul Celan übersetzen – Gabriel Horatiu Decuble im Gespräch mit Ton Naaijkens und Alexandru Bulucz, Moderation Ernest Wichner am 6.11.2021 im Literaturhaus Halle im Rahmen der Tagung „Was setzt über, wenn Gedichte übersetzt werden“.
Clément Fradin, Julia Maas und Michael Woll stellen Paul Celans Bibliothek im Deutschen Literaturarchiv Marbach vor.
„Die Todesfuge. Zur Biographie eines Gedichts im Archiv“ – Thomas Sparr im Gespräch mit Jan Bürger, Kai Uwe Peter und Michael Woll
Michael Woll stellt Paul Celans Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach vor. Im Mittelpunkt stehen dabei die Hölderlin-Bezüge in Celans Texten.
Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Kehraus mit Celan
Zwischen „Grabschändern“ und „Linksnibelungen“. Wolfgang Emmerich im Gespräch mit Michael Braun über Paul Celans Verhältnis zu Deutschland und seinen deutschen Kritikern.
Carolin Callies, Ann Cotten, Daniela Danz, Aris Fioretos, Norbert Hummelt und Rainer René Mueller kommentieren Paul Celans Gedicht „Was es an Sternen bedarf“.
Paul Celan liest Gedichte in Jerusalem am 9.10.1969
Daniel Jurjew / Klaus Reichert: Paul Celan: Ich sehe seine Hellsichtigkeit, bei anderem denke ich einfach: er übertreibt
Frankfurter Rundschau, 19.4.2020
Gregor Dotzauer: Das Eigene und das Andere
Der Tagesspiegel, 19.4.2020
Susanne Ayoub: Es ist Zeit, dass es Zeit ist
Der Standart, 19.4.2020
Sandro Zanetti: Akute Dichtung: Celans Zumutungen
Geschichte der Gegenwart, 19.4.2020
Friederike Invernizzi: Sprechen zwischen Wunde und Narbe
Forschung & Lehre, 19.4.2020
Frank Trende: Die bewegende Geschichte der Todesfuge
shz.de, 19.4.2020
Dunja Welke: Paul Celan – Ein zerrissener Dichter
RBB, 18.4.2020
Stefan Lüddemann: Paul Celan, Dichter des Holocaust, starb vor 50 Jahren
Neue Osnabrücker Zeitung, 19.4.2020
Shmuel Thomas Huppert: Erinnerungen an Paul Celan
SR 2, 26.2.2020
Christoph Bartmann: Ein Riss, der nicht zu heilen war
Süddeutsche Zeitung, 20.4.2020
Christine Richard: Ein Leben, immer nahe am Untergang
Tages-Anzeiger, 20.4.2020
Anton Thuswaldner: „Die Welt ist gegen mich losgezogen“
Salzburger Nachrichten, 19.4.2020
Klaus Reichert im Gespräch mit Niels Beintker: Erinnerungen an Begegnungen und Gespräche mit Paul Celan
BR24, 20.4.2020
Rüdiger Görner: Asche atmen: Zu Paul Celan
Die Presse, 23.4.2020
Marko Martin: Paul Celan und die „Linksnibelungen“
Welt, 27.4.2020
Evelyne Polt-Heinzl: Paul Celan Ein Migrant in Wien
Die Furche, 8.4.2020
Andreas Wirthensohn: Todesklage für die Überlebenden
Wiener Zeitung, 21.11.2020
Klaus Demus: „Eine sehr große Freundschaft“
literaturoutdoors.com, 22.11.2020
Claus Löser: Fünf Filme für Paul Celan
Berliner Zeitung, 21.11.2020
Krisha Kops: Paul Celan: Dichter, Überlebender, Heimatloser
Deutsche Welle, 22.11.2020
Ulf Heise: Lyrik als Flaschenpost
Freie Presse, 22.11.2020
Susanne Ayoub: Paul Celan: Verlust der Heimat, Trauer um die Eltern
Der Standart, 22.11.2020
Wolf Scheller: Was nicht gesagt, nur angedeutet werden kann
Der Standart, 23.11.2020
Andreas Montag: Dichter Paul Celan – Der Schleier des Herbstes
Mitteldeutsche Zeitung, 23.11.2020
Andreas Müller: Paul Celan – zum 100. Geburtstag
Wiesbadener Kurier, 23.11.2020
Stefan Kister: Unter die Deutschen gefallen
Stuttgarter Zeitung, 22.11.2020
Paul Jandl: Vielleicht war Paul Celan einmal ganz er selbst. Da spielte er die Dürrenmatts beim Tischtennis in Grund und Boden
Neue Zürcher Zeitung, 23.11.2020
Sabine Glaubitz: Er schrieb das Unsagbare auf: Nachkriegsdichter Paul Celan wäre heute 100 Jahre alt geworden
stern, 23.11.2020
Volker Weidermann: Ein Grab in den Lüften
Der Spiegel, 20.11.2020
Jochen Hieber: Im Höhenrausch mit Ingeborg Bachmann
Der Spiegel, 23.11.2020
Stefan Brams: Interview mit Thomas Sparr – Paul Celan stiftet zur Erinnerung an
Neue Westfälische, 23.11.2020
Helmut Böttiger: Die graue Sprache
Süddeutsche Zeitung, 22.11.2020
Helmut Böttiger: Auf der Suche nach einer graueren Sprache
Jüdische Allgemeine, 21.11.2020
Albrecht Dümling: Die Todesfuge in Tönen
Deutschlandfunk Kultur, 20.11.2020
Nikolaus Halmer im Gespräch mit Barbara Wiedemann: Paul Celan: „Es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen“
Die Furche, 11.11.2020
Harald Seubert: Lieder jenseits der Menschen und kodierte Zeit: Paul Celan (1920–1970). Zum Gedenken
youtube.com, 15.6.2020
Celebrating Paul Celan: An Evening with Pierre Joris and Paul Auster
youtube.com, 21.11.2020
Stadtführung „Auf den Spuren von Paul Celan“
youtube.com, 10.9.2020
Paul-Celan-Literaturtage 2020. Videopräsentation vom Paul Celan Literaturzentrum Czernowitz
Ausstellung Paul Celan 100 – Unter den Wörtern
Online-Begleitprogramm zur Ausstellung Paul Celan – Meine Gedichte sind meine Vita
West-östliche Konstellationen. Internationale Tagung als hybride Veranstaltung im Lyrik Kabinett, München, sowie online.
Tagungskonzeption und -organisation: Prof. Markus May und PD Dr. Erik Schilling (Institut für deutsche Philologie der LMU München)
8.–9.10.2020
Eröffnung
Ambivalente Topographien. Rilkes Dritte Duineser Elegie und Celans „Walliser Elegie“
„West-östliche“ Lesarten im Jahrhundert nach Celan
Das Schweigen über Brücken. Orte Celans bei Robert Schindel
Abendvortrag: Todesfuge. Biographie eines Gedichts
„Wortaufschüttung“. Materialität als Indexikalität bei Paul Celan
Betreten. Zum Anfang von Engführung
Celans Draußen. Über reale und sprachliche Räume in seiner Dichtung
„Stimmen vom Galgenbaum“. Celans west-östliches Rotwelsch
Paul Celans Todesfuge interpretiert von Diamanda Galas im Teatro Albeniz, Madrid, 15.10.2008.
How dare you?
(remember Paul Celan)
du bitterböse unabsicht
machst schwindelnd schwankend schwer
wie wächst
ein leben mit so dunklen schleiern
wie so ein kampf zu dritt bei der
eins will eins trauert eines lauert
was ist in mir so mächtig vorgelegt
dass wege gern nach unten gehn
welch blitz
hat greller in mir platz gefunden als andre
mein aug verlor so mit den zeiten
blicke für grellbuntes
und riss ichs mir auch aus
das außen blieb bestehn und wuchert braun
mein kopf will drücken herzen hämmern
braunes will nur schmerzen mich und jagen
ich gleite so ins leben
nur nicht hierhin zu dir und mir ins innerste
was treibt
die wunden aller menschen an mein magnetisch herz
die lebenslast
die allen aus den händen gleitet
sie läuft ins herz
zu mir und dringt ins tiefste tief und bleibt
sie zieht mich blind auf eine seite
seitem geh ich so seltsam und verlassen schwer
die tausend jahre
stachen mir zu spitze salven in das herz
es reicht
für alle ewigkeit und weiter weitest weit
sie ziehn mich
an des wassers rand und wollen von mir
und singen – stürze
sie stürzten auch mit mir
nun werde ich so leicht
dabei hätt ich so gerne
so leicht gelebt geliebt gesungen
doch gibt es schlingen
die noch weicher sind als hart