UND MIT DEM BUCH AUS TARUSSA
Все позmы жиды
Marina Zwetajewa
Vom
Sternbild des Hundes, vom
Hellstem darin und der Zwerg-
leuchte, die mitwebt
an erdwärts gespiegelten Wegen,
von
Pilgerstäben, auch dort, von Südlichem, fremd
und nachtfasernah
wie unbestattete Worte,
streunend
im Bannkreis erreichter
Ziele und Stelen und Wiegen.
Von
Wahr- und Voraus- und Vorüber-zu-dir-,
von
Hinauf gesagtem,
das dort bereitliegt, einem
der eigenen Herzsteine gleich, die man ausspie
mitsamt ihrem un-
verwüstlichen Uhrwerk, hinaus
in Unland und Unzeit. Von solchem
Ticken und Ticken inmitten
der Kies-Kuben mit
der auf Hyänenspur rückwärts,
aufwärts verfolgbaren
Ahnen-
reihe Derer-
vom-Namen-und-Seiner-
Rundschlucht.
Von
einem Baum, von einem.
Ja, auch von ihm. Und vom Wald um ihn her. Vom Wald
Unbetreten, vom
Gedanken, dem er entwuchs, als Laut
und Halblaut und Ablaut und Auslaut, skythisch
zusammengereimt
im Takt
der Verschlagenen-Schläfe,
mit
geatmeten Steppen-
halmen geschrieben ins Herz
der Stundenzäsur – in das Reich,
in der Reiche
weitestes, in
den Großbinnenreim
jenseits
der Stummvölker-Zone, in dich
Sprachwaage, Wortwaage, Heimat-
waage Exil.
Von diesem Baum, diesem Wald.
Von der Brücken-
quader, von der
er ins Leben hinüber-
prallte, flügge
von Wunden, – vom
Pont Mirabeau.
Wo die Oka nicht mitfließt. Et quels
amours! (Kyrillisches, Freunde, auch das
ritt ich über die Seine,
ritts übern Rhein.)
Von einem Brief, von ihm.
Vom Ein-Brief, vom Ost-Brief. Vom harten,
winzigen Worthaufen, vom
unbewaffneten Auge, das er
den drei
Gürtelsternen Orions – Jakobs-
stab, du,
abermals kommst du gegangen! –
zuführt auf der
Himmelskarte, die sich ihm aufschlug.
Vom Tisch, wo das geschah.
Von einem Wort, aus dem Haufen,
an dem er, der Tisch,
zur Ruderbank wurde, vom Oka-Fluß her
und den Wassern.
Vom Nebenwort, das
ein Ruderknecht nachknirscht, ins Spätsommerohr
seiner hell-
hörigen Dolle:
Kolchis.
Zu den Gesammelten Werken
Die hier vorgelegte Ausgabe der Werke Paul Celans vereinigt in fünf Bänden das lyrische Œuvre (Bde. 1–3), Prosa und Reden (Bd. 3) sowie die Übertragungen aus sieben Sprachen mit den zugrundeliegenden Originaltexten (Bde. 4 und 5). Es werden damit die bisher einzeln erschienenen Teile des Gesamtwerks versammelt, die Celan selbst für die Veröffentlichung bestimmt und deren Publikation er erlebt oder doch wenigstens noch vorbereitet hat. Eingeschlossen sind einige nachgelassene Werke – in den entsprechenden Bänden ist jeweils besonders auf sie verwiesen –, die eine bestimmte Publikationsreife erkennen lassen und daher im Einverständnis mit den Erben Celans nach seinem Tod veröffentlicht wurden.
Die Ausgabe soll den Zweck erfüllen, die bisher weit verstreut publizierten Werke Celans, darunter nicht mehr oder nur schwer Erreichbares, zusammenzuführen und damit allen Interessierten leichter zugänglich zu machen. Eine solche Wiedergabe der Werke im Zusammenhang dient nicht zuletzt der Möglichkeit, Beziehungen zwischen den einzelnen Werkkomplexen, vor allem zwischen der Lyrik und den Übertragungen, genauer zu erkennen oder überhaupt erst zu entdecken. Die Gesammelten Werke wollen und können keine Edition mit textkritischem Anspruch im engeren Sinn sein und stellen daher keinen Vorgriff auf die historisch-kritische Celan-Ausgabe dar, die ihre anderen und weitergespannten Ziele besitzt. Der Wortlaut der hier erscheinenden Texte folgt (bis auf einige jeweils im Nachwort angezeigte Ausnahmen) den Druckfassungen der Einzelpublikationen, die für die vorliegende Ausgabe mit dem Bemühen überprüft wurden, einen von Druckfehlern gereinigten Text vorzulegen.
Zu Band 1
Die Bände 1 und 2 der Gesammelten Werke enthalten die acht Gedichtbücher, die von Celan selbst autorisiert wurden oder, wie im Falle der erst nach seinem Tod erschienenen Bände Lichtzwang und Schneepart, als autorisiert gelten dürfen. Sie umfassen damit den Kernbestand des Celanschen Gedichtwerks, wie er bereits seit 1975 in einer zweibändigen Sammelausgabe der Bibliothek Suhrkamp vereinigt ist.
Der vorliegende Band 1 setzt mit Celans erstem in der Bundesrepublik veröffentlichten Gedichtband Mohn und Gedächtnis (1952) ein und reicht bis zu den 1963 unter dem Titel Die Niemandsrose publizierten Gedichten. Er enthält somit jene vier Gedichtsammlungen – je zwei erschienen in der Deutschen Verlags-Anstalt, Stuttgart, und im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main –, die wegen der Individualität und Neuartigkeit ihres dichterischen Tons die literarisch interessierte Öffentlichkeit der fünfziger und frühen sechziger Jahre aufhorchen ließen und Celans Ruhm als eines der größten Lyriker deutscher Sprache der Nachkriegszeit, vielleicht des Jahrhunderts, begründeten und befestigten.
Celans erster Gedichtband, Der Sand aus den Urnen, 1948 in Wien im Verlag A. Sexl erschienen und vom Autor wegen der zum Teil sinnstörenden und nicht immer als solche erkennbaren Druckfehler zurückgezogen, ist im vorliegenden ersten Band der Gesammelte Werke nur insofern enthalten, als rund die Hälfte der Gedichte, mit gewissen Textveränderungen, von Celan in den Band Mohn und Gedächtnis übernommen wurde, darunter das Gedicht, das ihn berühmt machte, die „Todesfuge“. Der gesamte Wiener Band, den Celan auch später nie wieder hat auflegen lassen, findet sich nun im dritten Band dieser Ausgabe, in den außerdem, neben den nachgelassenen späten Gedichten (Zeitgehöft) und ehedem verstreut erschienenen Gedichten, der schmale, aber gewichtige Bestand an Prosaarbeiten und Reden aufgenommen ist.
Der Textgestaltung des vorliegenden Bandes wurde jeweils die erste Auflage der hier versammelten Einzelbände zugrunde gelegt, deren zyklische Gliederung und von Celan festgelegte typographische Präsentation unverändert beizubehalten war. Druckfehlerkorrekturen in den späteren Auflagen sind berücksichtigt. Ergänzend wurden die Handexemplare Celans und die Druckvorlagen beigezogen, die sich im Pariser Nachlaß befinden. Die Konstitution eines nach philologischen Grundsätzen zu edierenden Textes der Gedichte muß, wie schon gesagt, der historisch-kritischen Ausgabe vorbehalten bleiben.
Eine Übersicht über sämtliche in den Bänden 1–3 der Gesammelten Werke enthaltenen Gedichte gibt das alphabetische Verzeichnis der Gedichttitel bzw. -anfänge im Anhang zu diesem Band; dort findet sich in einem weiteren Verzeichnis auch Näheres zu den Abbildungen des vorliegenden Bandes.
Der Deutschen Verlags-Anstalt und dem S. Fischer Verlag danken Herausgeber und Verlag für die Überlassung der Rechte.
Beda Allemann Stefan Reichert, Januar 1983, Nachwort
– Eine schöne Edition, mit Mängeln: die erste Gesamtausgabe der Werke des Dichters Paul Celan. –
Dreizehn Jahre nach Paul Celans Tod fällt es nicht leicht, das Erscheinen seiner Gesammelten Werke nur mit Genugtuung zu begrüßen. Diese fünfbändige Ausgabe kommt zu spät und zu früh, wird aber ein paar Jahre lang unentbehrlich bleiben. Den Herausgebern ist zu danken – Beda Allemann, Stefan Reichert, assistiert von Rolf Bücher –, und auch dem Suhrkamp Verlag, der bei der Wahl seiner Editoren für Gesamtausgaben nicht immer eine so glückliche Hand bewies. (Auf die Revision des ersten Bandes der Günter-Eich-Ausgabe wartet man nach einem Jahrzehnt noch immer.)
Zu spät kommen diese Gesammelten Werke in fünf Bänden, weil sie bereits vor einigen Jahren möglich, erwünscht und nötig wären. 1975 erschien eine Sammelausgabe der Celanschen Lyrik in zwei Bänden der Bibliothek Suhrkamp. Sie war so gewissenhaft redigiert, daß sie jetzt völlig text- und seitengleich übernommen werden konnte (= Band 1 und 2).
Gewiß wäre es möglich gewesen, die Bände 3–5 ebenfalls so zu präsentieren; für Celans Übersetzungen war dies sogar angekündigt worden. Statt dessen muß man jetzt zum höheren Preis noch einmal kaufen, was man schon hat, und gewiß nicht zum letztenmal. Denn wer sich für Celans Werk ernsthaft interessiert, wartet längst auf eine andere, auf die Historisch-Kritische-Ausgabe (HKA). An ihr wird unter Beda Allemanns Leitung seit 1972 an der Universität Bonn gearbeitet; die Deutsche Forschungsgemeinschaft subventioniert sie, und auf ihrer Grundlage werden später noch einmal „Gesammelte Werke“ erscheinen müssen. Die heutige Ausgabe will „kein Vorgriff“ sein, doch kommt ihr die Identität der Herausgeber sehr zugute.
Übrigens waren die ersten Bände der HKA bereits für Ende der siebziger Jahre in Aussicht gestellt. Die jetzige Ausgabe enthält keinen modifizierenden Hinweis. Durch Nachfrage war zu erfahren, daß die Bonner Editoren die Druckvorlage eines Doppelbandes (Text und Apparat) im Frühjahr 1984 beim Verlag abliefern werden, so daß mit seiner Veröffentlichung vielleicht für Anfang 1985 zu rechnen ist. Dieser Doppelband soll die spätere Hälfte der Celanschen Dichtung enthalten, von Atemwende bis Schneepart. Der Textteil kann nur ein Reprint des Reprints der „Gesammelten Werke“ sein, der Apparat-Band aber wird die Entstehungsprozesse der späten Gedichte dokumentieren, er wird zeit-, lebens- und bildungsgeschichtliche Kommentierungen enthalten und Einblicke, in Celans Schaffensweise vermitteln – er dürfte das Bild des Dichters wesentlich verändern. Darauf ist man seit langem gefaßt, und deshalb – in Erwartung dir HKA – tritt auch die Celan-Forschung seit Jahren mit einiger Ungeduld auf der Stelle. Peter Szondi hatte, noch kurz vor seinem Ende das Gedicht „Eden“ mit einem Kommentar versehen und buchstäblich jede Wendung dieses besonders widerständigen Textes auf zeit- und lebensgeschichtliche Daten durchsichtig gemacht; es war der Kommentar eines Mitwissenden. Und 1972 durfte Rudolf Bücher – Privileg eines Bonner Celan-Editors – zehn stark differierende Fassungen des „Blume“-Gedichtes mitteilen, aus denen sich erkennen läßt, auf welch schwankendem Boden jede textinterne Auslegung bei Celan steht: Abbau der „Verständlichkeit“ durch Überlagerungen, Verdichtung, Verrätselung, so stellt sich der Entstehungsvorgang dieses Gedichtes dar. Seine biographische Inschrift ist lesbar geworden: das Wort „Blume“ im Spracherwerb des Sohnes Eric. Durch solche Einblicke sieht sich das Verstehenwollen auf den Nachvollzug der einzelnen Komprimierungsphasen verwiesen.
Es scheint, als müßten wir die Botschaft eines Celanschen Gedichtes nicht nur in seiner Endgestalt, sondern zugleich im Gesamtvorgang seiner Genese suchen: im Resultat die poetische Arbeit bedenken. Dann stünden die vielleicht wichtigsten Einblicke in das Wesen dieser Poesie erst noch bevor. Der Begriff des „Gedichtes“ wäre für Paul Celan zu erweitern – er müßte, auf Wirkung und Entstehung der Texte bezogen, entschieden prozessual gedacht werden. Der hermetische Charakter der Endgestalt bliebe zwar bestehen, der Affront ihrer Esoterik wäre unvermindert gegen die auf Denaturierung programmierte geschichtliche Welt gerichtet, aber dem Leser wäre die Tür geöffnet: Er könnte nun als ein Wissender an die Seite des Dichters in die Front seines Widerstandes treten.
Schon 1975 hatte Beda Allemann warnend darauf hingewiesen, daß man jene Kriterien erst noch werde entwickeln müssen, „die eine reflektierte Aufnahme der zweiten und, wenn eine Steigerung möglich war, bedeutenderen Hälfte von Celans lyrischem Lebenswerk erst möglich machen…“ Das Erscheinungsbild Paul Celans wird also nächstens noch an Schärfe gewinnen.
Diese Veränderung ist schon im Gange, und sie betrifft auch das Frühwerk, das nun allmählich aus der Verschwiegenheit auftaucht, in die es Celan versenkt hatte. So weiß man aus Israel Chalfens Biographie von einer handschriftlichen Gedicht-Sammlung aus dem Besitz von Ruth Lackner. Etliche Texte – Verse, aber auch Prosatexte in deutscher und rumänischer Sprache – wurden inzwischen teils durch Zitationen, teils durch unautorisierte Drucke post mortem bekannt. Von ihrer vollständigen Veröffentlichung ist mehr als nur eine Ergänzung des Gesamtwerks zu erwarten: sie werden die Konsequenz zu erkennen geben, mit der sich dieses einzigartige jüdische Lebenswerk – geschrieben in der Sprache der Mutter und der Muttermörder – entwickelte.
Leider steht keiner dieser frühen Texte in der jetzigen Gesamtausgabe. Man könnte es vielleicht verstehen, denn sie sind ja nicht „autorisiert“. Aber gilt nicht das gleiche auch für die Gedichte der Sammlung Der Sand aus den Urnen, die Celan 1948, sofort nach dem Druck, zurückzog? Sie wurden nach Celans Handexemplar redigiert und stehen nun, dankenswerterweise, im 3. Band. Ebenso die Nachlaß-Veröffentlichung Zeitgehöft, Celans späteste Verse. Leider teilen uns die Herausgeber nichts über den Charakter der Handschrift mit. Aus der Faksimile-Ausgabe der gleichfalls postum veröffentlichten „Schneepart“-Gedichte kennt man die Entstehungsdaten für jeden Text. Beim Druck pflegte Celan solche Datierungen zwar zu streichen, wenn dies nun aber statt seiner die Herausgeber besorgen, so ist dies doch wohl ein nicht autorisierter Eingriff in ein nicht autorisiertes Manuskript.
Zu früh erscheint diese späte Gesamtausgabe deshalb, weil sie als Lese-Ausgabe zur HKA eben doch nicht in Betracht kommt. Die Herausgeber betonen dies, aber es rechtfertigt sicher nicht das Weglassen einiger Texte. So schrieb Celan für Roben Neumanns Anthologie 34 x Erste Liebe (1966) einen launig-ironischen Beitrag, der ein interessantes Unikum in seinem Œuvre darstellt: „Die Wahrheit, die Laubfrösche, die Schriftsteller und die Klapperstörche“. Schon aus der Neuauflage als Goldmann-Taschenbuch war dieser Text kommentarlos verschwunden. In der Gesamtausgabe wird nicht einmal seine Existenz erwähnt.
Ob die von Hugo Huppert (in: Sinnen und Trachten, Halle/Saale, 1973) wiedergegebenen Äußerungen Celans zu seinem Dichtungsverständnis nicht ebenfalls in diesen dritten Band gehört hätten, darüber kann man vielleicht geteilter Meinung sein. Ein anderer einzelner Satz („la poesie“, 1970), freilich ein „autorisierter“, wird uns mitgeteilt… Weshalb fehlt dann aber jene interessante Bemerkung, er, Celan, habe in seinem ersten Gedichtband „noch verklärt“, und das werde er „nie wieder“ tun? Sie stand am 27. Januar 1958 in der Tageszeitung Die Welt.
Damit kein falscher Eindruck entsteht: dieser dritte Band ist für jede Auseinandersetzung mit Celan unersetzlich. Er enthält unter anderem die Büchnerpreis-Rede und das „Gespäch im Gebirg“ – zwei Grundtexte. Vor allem aber sind nun jene frühen Prosagedichte auf Bilder von Edgar Jene leichter zugänglich: „Edgar Jene und der Traum vom Traume“. Nicht nur dieser Titel erinnert sehr an Jean Paul. Auch in den lyrischen Aphorismen „Gegenlicht“ (1949) – eine kleine Entdeckung – klingt der Ton Jean Paulscher „Streckverse“ nach. („Vergrabe die Blume und lege den Menschen auf dieses Grab.“) – Apropos: Bei den Gedichten Band 3, Seite 21 und 53, hat jemand die Widmungen an Margul Sperber und Jene vertauscht – vermutlich der Setz-Roboter.
In den Bänden 4 und 5 stehen alle druckreifen „Übertragungen poetischen Charakters ins Deutsche“. Nicht nur Gedichte, aus sieben Sprachen, auch Picassos Drama Wie man Wünsche beim Schwanz packt (geschrieben 1945, übersetzt 1954) und Jean Cayrols Kommentar zu dem KZ-Film Nacht und Nebel (1956) von Alain Resnais – ein Text, den man im Deutschunterricht lesen sollte.
Celans Prosa-Übersetzungen wurden weggelassen, sie hätten mehrere Bände gefüllt: etwa Lermontovs Ein Held unserer Zeit, zwei Krimis von Simenon, Essays oder E.M. Ciorans Lehre vom Zerfall (neuaufgelegt bei Klett-Cotta, 1979).
Eine Bibliographie belegt eindrucksvoll Celans Übersetzer-Fleiß. Dank den Herausgebern! Vor allem auch dafür, daß sie jedem übersetzten Text das fremdsprachige Original beigegeben haben. Welche Schwierigkeiten dabei zu überwinden waren, nicht nur urheberrechtliche, deutet ihr Nachwort an.
Band 4 enthält alle Übertragungen aus dem Französischen, Gedichte von Gérard de Neval (gestorben 1855) bis zu Jean Daive (geboren 1941) – mehr als hundertsechzig Gedichte – Einzelstücke wie Paul Valéry „Die junge Parze“, aber auch Zyklen von André du Boucnet, Jules Supervielle oder Jacques Dupin. Hier werden Wahlverwandtschaften erkennbar – aber das gilt ebenso für Celans Nachdichtungen russischer Lyriker, mit denen Band 5 beginnt: Alexander Block, Mandelstam (dessen Gedächtnis Celan die Niemandsrose widmete), Jessenin und Jewtuschenko („Babij Jar“). Ferner einundzwanzig Sonette von Shakespeare, zehn Gedichte der seltener übersetzten Emily Dickinson (1830-86), einzelne Texte von Robert Frost, Marianne Moore und anderen Angelsachsen. Die italienische Poesie ist durch Giuseppe Ungaretti vertreten: einundsechzig Gedichte, darunter drei, die auch Ingeborg Bachmann übersetzte. An den portugiesischen Versen von Fernando Pessoa (1888–1935) hat E. Roditi mitgearbeitet.
Aus dem Hebräischen hat Celan nur fünf Gedichte von Davis Rokeah nachgedichtet; sie beruhen, wie fast alle bei uns bekannten Übertragungen Rokeahs auf dessen eigener Rohübersetzung – sehr eindrückliche Texte, schade, daß es nur fünf sind. Man hätte glauben wollen, daß sich Celan dem Hebräischen stärker verpflichtete. (Erst wenige Monate vor seinem Tod besuchte er Israel, 1969.)
Die Sammlung des Übertragungswerkes, zweisprachig, dürfte der Hauptgewinn dieser Ausgabe sein. Celan selbst fand seine Übersetzungsleistung unterbewertet – zu Recht. Noch heute ist kaum geklärt, in welchem Verhältnis hier Dichten und Nachdichten stehen. Fast immer hat Celan das fremde Gedicht seiner eigenen poetischen Sprechweise anverwandelt – der eigenen „heißerrungenen Manier“ (um es mit Georg Trakl zu benennen). Das schließt Übersetzer-Treue nicht aus, bewahrt aber den Text vor einer medialen Gleichgültigkeit der ihm zugewiesenen fremden Sprache. Erst durch das selbstbewußte Mitsprechen der Übersetzersprache werden die übertragenen Texte noch einmal Gedichte.
Wie man künftig (durch die HKA) die subjektive Folgerichtigkeit der Celanschen Schreibart aus der Genese seiner Gedichte wird besser verstehen lernen, so wird die Verfügbarkeit seiner „Manier“ erst beim Vergleich der Übersetzungen mit den fremdsprachigen Originalen erkennbar. Beides gehört zusammen. Erst dann wird auch nach dem Grenzverlauf zwischen „heißerrungener Manier“ und Manierismus gefragt werden können.
Celans Lebenswerk – diese epochale Trauerarbeit eines europäischen Juden im Medium des deutschen Gedichtes – hat seinen vollen Beunruhigungswert, seine volle Kenntlichkeit noch längst nicht erreicht. Wenn die Universität Haifa gerade ein Symposium über Paul Celan vorbereitet und wenn die israelischen Initiatoren auch an die Gründung einer Internationalen Gesellschaft denken, so sind solche Absichten sehr zu begrüßen – nicht um irgendeiner Betriebsamkeit willen, sondern der „Wahrheitszwänge, der Selbstevidenz und der weltoffenen Einmaligkeit großer Poesie“ wegen (Band III, Seite 203).
Hermann Burger: Paul Celans Bilder wissen mehr: Seine Gesammelten Werke in fünf Bänden
Frankfurter Allgemeine Zeitung. 10.12.1983
Peter Horst Neumann: Fünf Bände, zu spät und zu früh: Die erste Gesamtausgabe der Werke des Dichters Paul Celan
Die Zeit, Nr. 10. 2.3.1984
Jürgen P. Wallmann: Gedichte sind wie eine Flaschenpost. Paul Celans gesammelte Werke bei Suhrkamp
Rheinische Post, 22.2.1984
Das lyrische Œuvre Paul Celans, soweit es bis dahin der Öffentlichkeit zugänglich war, ist nach dem Tode des Dichters im Frühjahr 1970 durch die maßgebende Literaturkritik einhellig als eines der bedeutendsten der deutschen Nachkriegsliteratur bezeichnet worden. Schon früh hat auch die wissenschaftliche Germanistik der Lyrik Celans ihr besonderes Interesse zugewandt. Bereits 1959 ist die erste ausschließlich Celan gewidmete Dissertation entstanden. Neben dem unbestrittenen Rang des Werkes hat offenbar die im Sinne der Tradition des europäischen Symbolismus ,hermetische‘ Struktur der Celanschen Lyrik die Kritik und Wissenschaft zu besonders intensiver Auseinandersetzung angespornt. Zugleich ist sichtbar, daß diese Auseinandersetzung noch lange nicht abgeschlossen sein wird. Wichtige methodologische Gesichtspunkte sind exponiert, aber aus verständlichen Gründen noch nicht mit der letzten Konsequenz und Vollständigkeit durchgeführt worden.
Seit der Publikation von Schneepart im Frühjahr 1971 liegt das lyrische Œuvre Celans, soweit es vom Autor selbst veröffentlicht oder zur Veröffentlichung vorbereitet wurde, in insgesamt acht (resp. mit dem vom Autor zurückgezogenen Gedichtband von 1948, Der Sand aus den Urnen, neun) Einzelbänden der Öffentlichkeit vor. Späteste Gedichte sind versammelt im Band Zeitgehöft (1976), einer eigentlichen Nachlaßpublikation.1 Hinzu kommen die zahlreichen Übertragungen Celans aus dem Russischen, Englischen, Italienischen, Französischen, Hebräischen, Portugiesischen und Rumänischen, die teils in Periodica und Anthologien, teils auch in selbständigen Einzelbänden erschienen sind. Celan hat ausdrücklich gewünscht, daß diese Übertragungen, die nicht immer die ihnen gebührende Beachtung gefunden haben, in einem Sammelband zusammengefaßt würden. Vorbereitungen dazu waren zum Zeitpunkt seines Todes bereits in die Wege geleitet.2
Im Gegensatz zu den Übertragungen haben Celans wenige Prosatexte, meist poetologisch-theoretischer Natur, breitere Aufmerksamkeit bei Kritik und Forschung gefunden und sich dabei als höchst wertvolle Hilfen für das Verständnis der Lyrik erwiesen.
Indes läßt sich nicht sagen, Celans Werk liege nun abschließend vor. Mit einer vollständigen, von Überlieferungsfehlern (gesetzt, diese seien einfach zu registrieren) gereinigten Präsentation des von Celan selbst unmittelbar zur Veröffentlichung bestimmten Teiles seines Werks, evtl. auch von Teilen seines Nachlasses, die eine bestimmte Publikationsreife aufzuweisen scheinen – mit einer solchen ,Werkausgabe‘ wäre doch nur ein erster Schritt in Richtung auf die Erschließung seines Gesamtwerks getan.
Der Zustand des literarischen Nachlasses in Paris läßt vermuten, daß Celan viel daran gelegen war, die künftige philologische Analyse der Genesis seiner Gedichte zu erleichtern. Tatsächlich wird durch den hermetischen Charakter der Celanschen Dichtung die Einsicht in die Entstehung der einzelnen Gedichte zum absoluten Desiderat. Bereits die publizierten Endfassungen dieser Gedichte lassen erkennen, daß ihnen ein komplexer und poetologisch noch über das Werk Celans hinaus für die Analyse moderner Lyrik signifikanter Transformationsprozeß vorausgegangen sein muß. Ihn anhand der im Nachlaß vorliegenden und vom Autor mit großer Sorgfalt aufbewahrten Vor- und Zwischenstufen konkret faßbar zu machen, muß ein ganz vordringliches Interesse der Celan-Forschung sein. Wenn in irgendeinem, so hat in diesem Fall das Prinzip einer historisch-kritischen Gesamtausgabe von den Erfordernissen der Forschung her seine unbedingte Legitimation. Daß unmittelbar nach dem Tode des Dichters eine solche Ausgabe in Angriff genommen wurde, bedarf angesichts des skizzierten Sachverhalts keiner speziellen Begründung mehr.
In einer Niederschrift vom 15. Dezember 1967, die den Charakter einer letztwilligen Verfügung hat, sagt Celan abschließend:
Je souhaite qu’une édition de mes poèmes et de mes traductions de poésie anglaise, russe, française paraisse aux Editions Suhrkamp et je prie Beda Allemann d’y apporter son aide et son savoir.
Es war dem verständnisvollen Entgegenkommen der Erben wie des Verlegers zu verdanken, daß ein Einverständnis über den Plan einer historisch-kritischen Celan-Ausgabe erreicht werden konnte. Seit 1972 wird diese mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft vorbereitet.3
Bei den editorischen Vorarbeiten war besonders dafür Sorge zu tragen, den literarischen Nachlaß in dem von Celan hinterlassenen geschlossenen Zustand zu erfassen, wie er – von den Jugendgedichten abgesehen – gegenwärtig verfügbar ist. Die Ausgabe soll grundsätzlich alle vom Autor selbst veröffentlichten oder zur Veröffentlichung bestimmten bzw. von der Veröffentlichung nicht ausdrücklich ausgeschlossenen Texte umfassen, dazu, soweit eruierbar, sämtliche Vorstufen zu diesen Texten.
Vorbild für die textkritische Edition ist das Verfahren Hans Zellers, wie es in den von ihm besorgten Bänden der historisch-kritischen C.F. Meyer-Ausgabe verwirklicht ist. In Auseinandersetzung mit anderen Ausgaben, vor allem der Großen Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe und der historisch-kritischen Trakl-Ausgabe, war für die Celan-Ausgabe ein den besonderen Verhältnissen des Nachlasses angepaßtes Verfahren zu entwickeln.
Der Kommentar der Ausgabe soll in Form von knapp formulierten Einzelbemerkungen Worterklärungen, Zitatnachweise und Literaturverweise enthalten.
Eine besondere Problematik ist mit den vom Autor ausdrücklich von jeder Veröffentlichung ausgeschlossenen Texten (vor allem Gedichten aus späterer Zeit) verbunden, die im Nachlaß überliefert sind. Sie werden vorderhand in die philologische Aufbereitungsarbeit einbezogen, ohne daß damit über ihre Veröffentlichung entschieden wäre.
Die Einbeziehung sämtlicher Briefe Celans in die Ausgabe erscheint wegen des oft sehr privaten und lebende Personen betreffenden Inhalts vorerst nicht möglich. Direkt auf das Werk bezügliche Stellen können jedoch im Rahmen des Kommentars verwertet und auszugsweise publiziert werden.
Ähnliches gilt für die tagebuchartigen Aufzeichnungen, die im Nachlaß enthalten sind. Sie sind nach dem Willen der Erben nur dem Hauptherausgeber zugänglich, der zuhanden seiner Mitarbeiter Auszüge erstellt, die ausschließlich für die Edition relevante Fakten (Datierungen, unmittelbar auf das Werk bezügliche Reflexionen etc.) umfassen.
Nach dem derzeitigen Stand der Planung gliedert sich die Celan-Ausgabe in zwei Abteilungen, deren erste die Gedichte und Prosatexte samt Apparatbänden, und deren zweite Abteilung die Übertragungen samt Apparatbänden umfassen wird.
Für die erste Abteilung ist folgende Bandeinteilung vorgesehen:
– Band 1: Die acht Gedichtsammlungen von Mohn und Gedächtnis bis Schneepart in der Anordnung der Einzeldrucke.
– Band 2: Der Sand aus den Urnen. Verstreut gedruckte und nachgelassene Gedichte. Prosatexte und Reden.
– Band 3: Bericht des Herausgebers. Apparat zu Band 1 (Mohn und Gedächtnis bis Fadensonnen).
– Band 4: Apparat zu Band 1 (Lichtzwang und Schneepart); Apparat zu Band 2.
Der Apparat der Celan-Ausgabe soll als fotomechanisch reproduziertes Typoskript hergestellt werden. Mit diesem Verfahren können der schwierige Satz, kostspielige Druckverfahren, zeitraubende Korrekturarbeiten und daraus resultierende Fehlerquellen bisheriger Ausgaben vermieden werden.
Nachtrag 1984
Bald nach Erscheinen der vorstehenden Bemerkungen haben sich die personellen Voraussetzungen der kritischen Celan-Ausgabe durch den Fortfall der zweiten Mitarbeiterstelle nicht unerheblich verändert.
Die vorgesehene Bandeinteilung wurde inzwischen wie folgt modifiziert:
– Band 1,1 Gedichte I: Mohn und Gedächtnis bis Die Niemandsrose, Text
– Band 1,2 Apparat
– Band 2,1 Gedichte II: Atemwende bis Schneepart, Text
– Band 2,2 Apparat
– Band 3,1 Der Sand aus den Urnen; Eingedunkelt; Zeitgehöft; verstreut gedruckte und nachgelassene Gedichte in chronologischer Folge; Prosa; Reden; Text
– Band 3,2 Apparat
Aus technischen Gründen, besonders im Hinblick auf Schwierigkeiten bei der Beschaffung im Ausland befindlicher Nachlaßmaterialien im Bereich der frühen Gedichte, wurde die Publikationsvorbereitung für den 2. Doppelband (Gedichte von Atemwende bis Schneepart) vorweggenommen. Die Herstellung der Druckvorlage für diesen Doppelband steht vor ihrem Abschluß.
Inzwischen ist Ende 1983 bei Suhrkamp die fünfbändige Leseausgabe von Celans Gesammelten Werken erschienen, die außer den Gedichten und den von Celan selbst autorisierten Prosatexten auch erstmals die Gesamtheit der von ihm in sehr verschiedenen Zusammenhängen und an heute z.T. schwer zugänglichen Stellen veröffentlichten Übertragungen von Gedichten und poetischer Prosa aus fremden Sprachen enthält (Bde 4 und 5). Damit ist ein noch vom Autor selbst stammendes Desiderat eingelöst.
Nachdem seit 1977 von den zuständigen Gremien der Deutschen Forschungsgemeinschaft keine Mittel für einen speziellen Mitarbeiter zur Weiterführung der bereits in die Wege geleiteten Vorbereitungen zu einem Materialienband, der die unerläßliche Kommentierung der kritischen Ausgabe aufnehmen soll, mehr bewilligt worden sind und die entsprechenden Arbeiten dementsprechend ins Stocken geraten mußten – wie übrigens auch die textkritische Tätigkeit des mit der Ausarbeitung des genetischen Apparates betrauten Mitarbeiters dadurch beeinträchtigt wurde –, hat sich in einem Kreis beratender Editions- und Celan-Spezialisten nun die Einsicht durchgesetzt, daß ohne energische Förderung auch dieser Seite der kritischen Ausgabe die mit Recht in sie gesetzten Erwartungen der Celan-Forschung nicht erfüllt werden können. Dieses Expertengremium soll sich künftig als Beirat der Ausgabe konstituieren, und ein für die Kommentierung verantwortlicher Mitherausgeber soll gewonnen werden.
Es ergeht in diesem Zusammenhang erneut die dringende Bitte an alle Besitzer von Celan-Dokumenten und Detailinformationen, die der Kommentierung dienlich sein können, der Celan-Arbeitsstelle beim Germanistischen Seminar der Universität Bonn (Am Hof 1d, 5300 Bonn 1) davon Mitteilung zu machen.
Man wird bei alledem von der historisch-kritischen Ausgabe nicht erwarten dürfen, daß sie alle Schwierigkeiten des Celan-Verständnisses mit einem Schlag behebt. Das gilt sowohl für den genetischen Apparat, der seinerseits eine neue Interpretationsanstrengung vom Benutzer verlangen wird, wie auch für die vorgesehene Kommentierung. Weder die Entstehungsvarianten eines Gedichts oder Prosa-Textes, die der textkritische Apparat zur Darstellung bringt, soweit sie im Nachlaß erhalten sind, noch die kommentierende Sacherläuterung der faktenmäßigen Voraussetzungen, die einer Dichtung zugrunde liegen, können als solche und gleichsam automatisch den Schlüssel für das Verständnis liefern. Die Literaturwissenschaft und die Celan-Forschung im speziellen werden mit dem Erscheinen der historisch-kritischen Ausgabe neue Problemstellungen zugewiesen erhalten. Man wird von der immer noch anzutreffenden Auffassung abzurücken haben, Celan lesen und verstehen bedeute vor allem bloße Decodierung eines als schwierig bekannten poetischen Wortlauts, den manche als „hermetisch“ zu bezeichnen nicht müde werden. Celan selbst war bekanntlich anderer Ansicht. Es bedarf im Zusammenhang mit seinem Werk nicht so sehr der Entschlüsselung und der Rückübersetzung in eine konventionellere und deshalb scheinbar verständlichere, sondern vielmehr der Einarbeitung in eine andere Sprache.
Vorderhand besteht nun begründete Hoffnung auf einen zügigen Fortgang der Vorbereitungsarbeiten, wie er beim bisherigen Personalbestand der Bonner Arbeitsstelle nicht zu leisten war.
Beda Allemann und Rolf Bücher, in TEXT+KRITIK, Paul Celan – Heft 53/54, Zweite, erweiterte Auflage, edition text + kritik, 1984
– Über Paul Celan. –
Die Trennung in der hermetischen Sprache
Die Sprache spricht in keiner Weise in Celans Gedichten, weder als eine übernommene und weiter tradierte noch als eine beschädigte, wie immer es der Auffassung und den prosaischen oder poetischen oder funktionellen Interessen der Interpreten entsprechen mag. Die Sprache ist grundsätzlich und ursprünglich gebrochen und zersplittert. Gefiltert wäre noch ein zu schwacher Ausdruck. Zerschlagen. Selbst der Ursprung ist gebrochen. Die Sprache ist der „Gegenstand“ der Gedichte, sie wird thematisiert, ständig befragt, und zwar mehr und mehr; nicht nur die Sprache, auch die Spekulation über sie und die lyrische Tradition. Je weiter man in der Lektüre des Werks kommt, um so deutlicher wird, daß es kein Verstehen geben kann, solange man die Texte liest, ohne sie als etwas „Gesagtes“ zu begreifen – solange man nicht erkennt, daß die Mechanismen der lyrischen Produktion innerhalb einer systematischen Refektion aller Formen des Sprachgebrauchs Gegenstand einer kontinuierlichen und konstitutiven Überprüfung sind. Stets bleibt die Möglichkeit, vom ersten Schwung und vom Anströmen der Worte in der sich weitenden Inventio bis zu den Kontraktionen der Compositio, daß sich der Weg als ein unmöglicher und versperrter erweist. Das einzig affirmative Moment in der Affirmation besteht darin, daß sie gegen eine andere sich behauptet, die sie an der Entfaltung hindert. Es ist ein Aufstand der Wörter.
So stehen die unterscheidende Trennung und die Absage am Anfang. Der Abstand ist der potentiell größte, er kann zum offenen Widerspruch gesteigert werden und so eine neue Sprache begründen eine neue poetische Hermetik.
Wenn die dem gewöhnlichen Sprachgebrauch eigene Evokationskraft der Wörter gemieden und außer acht gelassen wird, so steht die sprachliche Materie in ihrer ganzen Fülle frei und unangetastet zur Verfügung, mit all ihren semantischen Inhalten, den wirklichen wie den möglichen. Sie erschließt sich einem Prozeß der Umformung. Die Namenschöpfung, der onomaturgische Akt, ist mit der dichterischen Gestaltung untrennbar verbunden. Zwischen den beiden Aspekten ist nicht zu unterscheiden. Die Bezugnahmen auf die tausendfältigen Gebräuche sind dem Werk eingeschrieben; an ihnen richtet sich, durch die unermeßliche Weite und Fülle der überkommenen Sprachen hindurch, ein vielgestaltiger Prozeß der Berichtigung aus. Er ist ein prinzipiell neologischer, bis hin zu dem besonderen Fall der lexikalischen Neuschöpfungen.
Warum läßt sich das, was man in der anderen, der verschiedenen Sprache sagt, nicht anders sagen, in einer Sprache, die keine andere wäre? Die Wörter einer Sprache geben sich nicht her, man gibt sich den Wörtern hin. Vielmehr: sie geben sich nur halb her. Es läßt sich nicht vermeiden, daß die Sprache etwas anderes sagt als man sagen wollte. Dazu kommt die Macht der Neuschöpfung: sie behauptet sich, als eine negierende und innovierende, dank der freigesetzten Bestandteile der Sprache, die zuerst abgeschafft und dann wieder rekonstruiert werden.
Die Sinnpotenzen der Wörter einer neuen Sprache, die dem Leser noch nicht durch seine Vertrautheit mit den bereits existierenden poetischen Sprachen, welche diese voraussetzt und umformt, bekannt ist, erwachsen aus dem Gegensatz zu den geläufigen, mit den lexikalischen Einheiten gemeinhin verknüpften Vorstellungen. Die neuen semantischen Fixierungen beruhen auf einem radikalen Bruch mit dem etablierten Gebrauch, gleich welcher Art. Die Wörter sind aus der anfänglichen Trennung hervorgegangen; sie beziehen aus ihr ihre verneinende Kraft und ihre Freiheit. Feste Bedeutungen bilden sich aus, aufgrund der negierten Valenzen, mit ihnen und gegen sie.
Das Gedicht wäre „absolut“ zu nennen, wenn man darin eine Losgelöstheit versteht, eine von ihm selbst geschaffene Distanz, der es unverbrüchlich die Treue hält, und die aus der Fähigkeit hervorgeht, sich von dem zu entfernen, was es in sich aufnimmt.
Der Begriff des Hermetischen muß von den Konnotationen einer initiatorischen Abgeschlossenheit befreit werden, zugunsten einer Autonomie (ohne Selbstgenügsamkeit), im Sinne eines, wenn nicht geschlossenen, so doch abgetrennten Raums, in dem alle Sprachen, nicht nur die deutsche, per viam negationis Aufnahme finden. Verworfen und aufgenommen, frei gesprochen und frei widersprochen, gegründet auf eine Enthaltsamkeit: des Schweigens, in dem sich das Gedicht sammelt und auf das es zustrebt; von ihm wird es angezogen.
Es WAR ERDE IN IHNEN, und
sie gruben.
[…]
Sie gruben und hörten nichts mehr;
sie wurden nicht weise, erfanden kein Lied,
erdachten sich keinerlei Sprache.
Sie gruben.
Es kam eine Stille, es kam auch ein Sturm,
es kamen die Meere alle.
Ich grabe, du gräbst und es gräbt auch der Wurm,
und das Singende dort sagt: Sie graben.
Die Änigmatisierung der neuen Sprache steht in naher Verbindung zum Absturz in die Nacht, zur Tiefe des Abgrunds als obligatem Durchgang; die Trennung ist die Voraussetzung der Abwärtsbewegung und geht ihr voraus, sie öffnet den Abgrund; umgekehrt jedoch kann der Abgrund als eine schon bereitstehende Kluft aufgefaßt werden, als der klaffende Urgrund aller Absonderungen.
Die wirkenden Kräfte der Kosmogonien, die Luft, der Wind, der Sturm, verlieren in der Abstraktion nichts von ihrer elementaren Gewalt. Sie wurden in die Differenz hinübergetragen. Die Abstraktion sagt sie aufs neue und ordnet ihnen damit eine neue Bedeutung zu. Ein Sturm? Wovon? Von Sprachpartikeln.
*
Der Kontext erlaubt es, die den Sinn fixierende Negationsbewegung zu erfassen, die sich auf etwas bezieht, um sich ihm zu verweigern, die das von ihr Eingesetzte entthront. Es ist dies eine einzige Bewegung. Ein Augenblick erfüllten Sprechens schließt an den andern an, kraft der kontinuierlichen Überwindung. Die Rückbezüge, die Verkettung des notwendig diskontinuierlichen Gewebes, bewirken, daß die Gedichte so eigenständig und doch so unauflöslich miteinander verklammert sind. Die internen Bezüge sind ein Zeichen davon. Die Selbstzitate aus früheren Gedichten erläutern die Wiederaufnahme des Themas.
BEI TAG
Hasenfell-Himmel. Noch immer
schreibt eine deutliche Schwinge.
Auch ich, erinnere dich,
Staub-
farbene, kam
als ein Kranich.
Das Gedicht steht im Dialog mit Geschriebenem. Was einmal geschrieben wurde, taucht wieder auf, präsentiert sich von neuem. Was jetzt geschrieben wird, der Text dieser Stunde, ist zu entziffern, weil es ein erkennbarer Text ist. Das erscheinende Zeichen, das Muster der Wolken, zeichnet – „noch immer“ – den aus den Lagern aufsteigenden Rauch nach. Das angesprochene „Du“, die staubfarbene Wolke, die Frau bei ihm, so etwas wie eine der noch vorstellbaren Musen, nimmt in dieser Begegnung „bei Tage“, im Licht des Tages, die Rolle des Dichters ein.
Das Ich bringt eine Materie ein, die umgeformt wird. Die Sprache ist sein ureigenster Besitz, wenn es so ist, daß die Sache in den Wörtern derer gesagt werden muß, die sie geschaffen haben. „Erinnere dich“ – das Ich, die Person des Dichters spricht zu seiner „Dichtung“, er tritt ins Gespräch mit dem, was sie, die andere, ihm zu sagen auferlegt hat; „auch ich kam als ein Kranich“, ein kriegerischer wie die Vögel, die in der Ilias sich auf die Pygmäen stürzen. Das hart klingende deutsche Maskulinum „Kranich“ nimmt in der Endung „ich“ das Pronomen wieder auf, und stellt in den Anfangslauten die kriegerische Assonanz her (cf. Ein Krieger). Das historische Subjekt gibt sich zu erkennen, es weist sich aus, stellt jene Eigenschaften unter Beweis, die einem Gegenstand entsprechen, den die Wolke ihm zugewiesen hat.
Die Begegnung ist eine Konfrontation, sie findet in weiter Ferne vom nächtlichen Raum und dem saturnisch geförderten Schaffensprozeß statt. Im Rahmen einer Entzweiung, die in den späteren Bänden noch an Bedeutung gewinnt, erscheint die Alterität selbst, in Gestalt einer der Musen, um sich, sichtbar werdend, in Erinnerung zu rufen. Unüberbrückbar ist die Distanz zwischen dem taghellen Zeichen, das sich zu erkennen und zu entziffern gibt, und jenem abgelösten Bereich. Die Herausforderung dieses Kontrasts veranlaßt die Person des Dichters, die nicht dichtet, zu einer Klarstellung: Auch ich bin dieses Abenteuer eingegangen, auch ich habe mein Maß an Schrecklichem zu tragen bekommen.
Fast alle Gedichte haben etwas – meistens viel – mit der Errichtung einer Gegensprache zu tun; die Bewegung einer Neuergründung findet niemals, und nirgends, ein Ende. Wenn ein Gedicht die Gegensprache voraussetzt, so bleibt doch die Art und Weise, wie sich die Innovation in die präexistente Sprache einschreibt, der weiterwirkenden Kraft des Transfers verpflichtet. Eine jeweils beliebige Wendung wird in ihre kleinsten Bestandteile zerlegt, die Partikel werden im leeren Raum verteilt, aufgeteilt, mit dem unterschiedlichen Glanz, der ihnen zu eigen ist. Das mit der Sprache geführte Gespräch wird in sie selbst überführt. Zuweilen entschließt sich der Autor, es in den anderen Raum aufzunehmen, in das Reich der konternden Sprache, wobei das Kontern darum kein Ende nimmt. Anderswo vermag aber auch ein Satz ein Stück des früheren, des verlorenen Territoriums in der neuen Sprache zu behaupten.
Es eröffnet sich ein neuer Binnenraum, der um so reiner ist, als die Trennung radikal war. Die Spuren entstehen dort, im Einklang mit den Brüchen und der Verweigerung aller kulturellen Bindungen. Aus ihnen entstehen die mit ihren Schatten versehenen Wörter.
An dem einen, dem
einzigen
Faden, an ihm
spinnst du – von ihm
Umsponnener, ins
Freie, dahin,
ins Gebundne.
(„Hawdalah“)
Es gibt noch ein anderes „Draußen“ als das der Trennung, es ist das wahre, ein Raum uneingeschränkter Freiheit noch jenseits des onomaturgischen Akts, außerhalb der sprachlichen Gebilde. Er lockt aus der Ferne, weit von jenem ersten, kreativen Draußen, wo die Wörter ihre Bedeutungsrelationen eingehen, auf dem Grund des Schweigens. Diese Anziehungskraft der fernen Leere ist von der Bewegung des Resemantisierungsprozesses zu unterscheiden.
Die Welten der sinnlichen Wahrnehmung könnten außerhalb alles Sprachlichen durchkreuzt werden, so wie die Sprache durchquert wird, in der sie zum Ausdruck kommen.
Die Identität der Person
In der traditionellen und romantischen Auffassung sondern sich die Dichter ab, um umso mehr die Identität der anderen zu realisieren, um in der Einsamkeit umso stärker das Schicksal eines Volkes zum Ausdruck zu bringen, und die gemeinsame Wahrheit, die in dieser „Stimme“ Form annimmt. Celans Einsamkeit unterscheidet sich nicht von der Absonderung, die die Dichter in der größten Distanz von den anderen Menschen erfahren haben; jedoch führt sie ihn dazu, anders zu sein als jene; dazu, daß ein jeder er selbst sei.
„Er selbst“. Die durch den Namen Archilochus gekennzeichnete Lyrik, die Nietzsche in einen Gegensatz zu Homer und zum Epos bringt, findet in der Geburt der Tragödie (Kapitel V) ihre wahre „Ichheit“ auf dem Grunde eines Heraustretens des Bewußtseins aus sich selbst, in der Identifizierung mit dem „Grund der Dinge“, zu dem der apollinisch „wache, empirisch-reale Mensch“, keinen Zugang hat. Das Ich wird das bewegliche Zentrum eines Reichs der Tiefe, dem im Gegenzug zur philosophischen Tradition – das Attribut des Unveränderlichen zugeschrieben wird. Der Dualismus des platonischen Weltbilds wird auf seine Umkehrung übertragen. Die apollinischen Ideen prägen sich nun jener ursprünglichen Wahrheit ein, die das „lyrische Genie“, im Zustand seiner trunkenen Inspiration, ans Licht zu heben weiß. Das Subjekt, das darin untergeht, verwandelt sich dabei in jenes absolute „Ich“, die „einzige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im Grunde der Dinge ruhende Ichheit“ – dieses Ich, und nicht der Philosoph, projiziert die Reproduktionen seiner im Ursprung wurzelnden Ipseität, um über die Vermittlung dieser Projektionen bis zur Betrachtung des „Grundes der Dinge“ zu gelangen. Platon wird widersprochen, im Verlust eines Bewußtseins, das nicht nächtlich genug war, nach den Strukturen seiner eigenen Doktrin.
Das „Ich“ wandelt sich zu dieser höheren und souveränen Wesenheit. Hier, im Durchgang durch die Nacht, in der Katabasis, ist es „es selbst“, der Vermittlung seiner eigenen, nunmehr universell gefaßten Tiefe wieder anheimgegeben. Die „Objektivationen“ werden aus dieser Hadesfahrt gewonnen: sie gehören dem Ich, sie kommen aus „ihm“. Und selbst die Subjektivität, in der Hegel das Wesen der Lyrik erblickte, die entfesselte Leidenschaft des Archilochus ist nur eine unter vielen Visionen, dem lyrischen Genie entsprungen, das sich selbst wiederfindet. Es reproduziert sich, von einem Ich zum andern, in einem Subjekt, das es nun nicht als Genie darstellt, mit den Leidenschaften, die sich auf die ihm real erscheinenden Dinge richten. Das Ich im Gedicht ist eine der Projektionen. Die vermeintliche Identität, dieses „Ich“, wäre das Genie „selbst“ gemeint, ist eine Illusion. Archilochus, mit seinen Gefühlsregungen und -wallungen, ist nicht „mehr“ der wirklich lebende Mensch, sondern eine Vision, geboren aus jenem Genie, das nur der Dichter und noch vor dem Menschen ist. Es ist nicht einmal notwendig, daß der lyrische Dichter dieses „Phänomen des Menschen“ vor Augen hat – hier, den Menschen „Archilochus“, eher als ein anderes.
Gegen diesen Übergang von einer nächtlichen und einheitlichen Ichheit zur romantischen Universalität ohne Ich, einer Subjektivität ohne Subjekt, stellt sich Celan, indem er das pronominale Rollenspiel anders gestaltet. Der Unterschied besteht nicht (nur) in der Scheidung, so wichtig sie ist, zwischen dem Musikschaffen und den sprachlichen Kunstwerken, wie sie am Ende des sechsten Kapitels der Geburt der Tragödie aufgestellt wird, sondern in der Entscheidung für eine Bindung, die auch in der Musik ihre Bedeutung finden könnte. Das Ich ist nicht jene absolute und überindividuelle Alterität, zu der der Dichter kraft seiner Selbstvergessenheit vorstößt, sich dabei zum Sprachrohr des „Herzens der Natur“ machend und eines ursprünglichen Pulsschlags, in dem die Individuation zurückgenommen wird. Es ist jene gänzlich vorgängige Instanz, die Position, von der aus die Suche nach dem andern ihren Ausgang nehmen kann, und von der aus sie bestimmt wird. Es wird nicht es selbst sein, wenn es sich nicht an diesen Grund verliert und den Durchgang durch das Reich des Nächtlichen vollzieht, vor jeder partikularen lyrischen Erfahrung. Es bleibt dies die Vorbedingung für die Verwandlung der sprachlichen Materie; jetzt aber nur, wenn es sich dem Leben gerade jenes empirischen Ichs unterstellt, des Ichs als eines Menschen, als eben dieser Archilochus, mit allem, was er liebt und haßt, mit seiner tragischen Geschichte vor allem.
Das historische Subjekt ist vorgängig; es steht am Anfang. Das lyrische Subjekt dagegen hat keine konstante Existenz, es kann auch fehlen. Es konstituiert sich in jedem Gedicht aufs neue, unter seinem Namen und vor allem seinem Pronomen, in der Präsenz wie in der Absenz.
Sagen wir lieber: das lyrische Subjekt dieses Gedichts…
„So bin ich“; und so sind die Dinge, bevor ich noch schreibe; solcherart könnte man in der Dichtung sprechen: in das Gedicht hineingehen als ein Ich, das heißt als ein Du, mit all den Voraussetzungen, die ein Ich ihm auferlegt.
Wird das lyrische Ich von der Sprache oder, wie etwa bei Derrida, von den „Zeichen“ getragen und von der Sprache hervorgebracht, so würde die historische Erfahrung durch Kategorien der Signifikanz übermittelt, die dem Zeichen zu eigen sind.
In dieser Sichtweite ist die sprachliche Materie nicht dem Subjekt untergeordnet, sie wird von ihm nicht bemeistert, sondern dieses wird von ihr beherrscht. Gerade weil die Sprache die Fähigkeit besitzt, den Sprecher zu tragen und über seine Vermittlung zu sprechen, hat Celan die „Person“ oder das „Subjekt“ von der Sprache getrennt und ihm eine Existenz außerhalb des Gedichts zugewiesen, eine immer schon vorauszusetzende Existenz. Sonst wäre, was nicht sein darf, die Erfahrung dem Gesang anheimgegeben. Die Erfahrung ist eine allgemeine, doch betrifft sie einen jeden. Deshalb bleibt das lyrische Subjekt so sehr es auch der Situation des realen und historischen Subjekts angepaßt ist, doch immer „lyrisch“, d.h. experimentell, und stets, in jedem Gedicht, ein anderes.
Das Spiel der Sprache wurde bereits gespielt. Wie, das ist bekannt. Wie ist nun ein Sprechen möglich in dieser Sprache, die bereits „gesprochen“ hat; in ihr, d.h. gegen sie?
Der Parteinahme für das Individuum haftet nichts Esoterisches an; so persönlich sie auch ist, sie wird öffentlich bekannt. Sie schafft in einem zweiten Schritt die Bedingungen für eine Erforschung des Psychischen. Der Raum einer neuen, transferierten Innerlichkeit erschließt sich im Wort („Kleide die Worthöhlen aus…“), sie wurde ermöglicht durch die anfängliche Entscheidung, die Analyse der Momente des Seelenlebens der singulären Existenz zu unterwerfen, die mit der Besonderheit in der Geschichte ein festes Bündnis eingegangen ist. In einer jeweils konkreten Situation grenzt sich das Individuum durch die Hinnahme der Trennung ab. Es besitzt einen Beobachtungsturm, noch vor jeder Begegnung im Bereich der Sprache.
Das Ich in Gestalt eines Du im Gedicht, das im Verhältnis zum Ich des historischen Subjekts, zum Autor als Individuum, ein Zweites ist, gibt sich stets neu als solches zu erkennen, als ein linguistisches und thematisches Element. Es läßt sich in seinem Sinn ebenso wie die anderen Wörter bestimmen. Es ist dieses Ich, dieses Du, dieses Wir.
Das Spiel der Pronomina, das den Interpreten so viele Schwierigkeiten macht, gehorcht einer strengen Logik, die sich aus den Gedichten erschließen läßt. „Zu beiden Händen“ ist ein gutes Beispiel, eines unter vielen.
[…]
Du bist,
wo dein Aug ist, du bist
oben, bist
unten, ich
finde hinaus.
O diese wandernde leere
gastliche Mitte. Getrennt,
fall ich dir zu, fällst
du mir zu, einander
entfallen, sehn wir
hindurch:
Das
Selbe
hat uns
verloren, das
Selbe
hat uns
vergessen, das
Selbe
hat uns —
Die Sprache des Mords
Es geht nicht an, daß man, die Gedichte kommentierend, die Sprache wiedereinführt, die in ihnen als unangemessen abgelehnt und zurückgewiesen wird. Der Irrtum hat nicht nur mit dem besonderen Charakter dieser Sprache zu tun, er übergeht zugleich auch ihren satirischen Elan. Der Überdruß, den Celan zuweilen geäußert hat angesichts der Interpretation von Adornos fatalem Satz, nach Auschwitz könnte keine Lyrik mehr geschrieben werden, dieser Überdruß wird erst richtig verständlich, wenn man erkennt, daß seine Dichtung auch die ästhetischen und „poetischen“ Wurzeln der historischen Ereignisse bloßlegt und anprangert.
Die Werke der bedeutendsten Vorgänger werden von ihm, ad se ipsum, auf die Gründe hin befragt, warum er nicht mehr so spricht, wie sie gesprochen haben, warum es nicht mehr möglich ist. Keiner ist mehr in der Lage, in der andere sich befunden haben. Es ist, durch die Wirkung der Geschichte, unmöglich geworden. Jedes Gedicht Celans ist zugleich auch ein Gedicht über die verlorene Legitimität der Dichtersprachen. Anderen konnte wiederum die Kritik Celans als zu dichterisch erscheinen.
In meinem Buch Herzstein findet sich eine eingehende Darstellung einer Kontroverse zwischen Pater Szondi und Hans Egon Holthusen aus dem Jahre 1964. Szondi hatte darauf hingewiesen, daß sich die Wendung „Mühlen des Todes“ in einem Gedicht Celans unmittelbar aus dem Sprachgebrauch der Männer um Eichmann herleitet. Holthusen neutralisierte die unheimlich anmutende Beobachtung des Philosophen mit einer Naivität, die einem stillen Einverständnis gleichkommt: in dem Gedicht „Todesfuge“, das jedermann mit Auschwitz in Zusammenhang bringe und das man auf die Ereignisse beziehen müsse, sei ja schließlich nicht von „Mühlen“ die Rede, während das Gedicht, in dem Szondi diese „Metapher“ gefunden hatte, sich nicht auf Auschwitz bezöge. Er stellte sich nicht unwissend, sondern leugnete in voller Absicht, daß dieser stets gleiche Bezug an jeder Stelle des Werks seine Geltung besitze und daß, wie die anderen Gedichte, auch die „Todesfuge“ von jener befleckten, aus dem Nationalsozialismus ererbten Sprache handelt, die Celan als Ausgangspunkt und Widerpart bei der Ausbildung seiner eigenen Sprache diente. Szondi hatte mit seiner Kritik den Punkt berührt, wo eine Sprache mit dem historischen Ereignis zur Deckung kommt, das zu ermöglichen sie beigetragen hat und das sie in sich aufgenommen hat. Holthusen reagierte entrüstet.
Diese Konstruktion einer ,Koinzidenz‘ zwischen zwei völlig unvereinbaren Verlautbarungen ist für mein Gefühl etwas Absurdes, ja Ungeheuerliches.
Damit bezichtigte er Szondi des Übertreibens und fügte hinzu:
Ich empfinde sie als eine Beleidigung für den Dichter und als eine Zumutung für die Vernunft des Lesers.
TODESFUGE
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne […]
Der Folterknecht ist „ein Mann“, er wohnt in einem „Haus“; als ein Zaubermeister des Todes tritt er im Gedicht wieder heraus, kraft der Magie der Sprache. Den Wörtern ist es nicht allein gegeben, Grauen zu verbreiten; sie lösen sich von den Liedern des Schreckens nur unter der Bedingung ab, daß sie das Schreckliche singen. Dieser „Mann“, „ein“ Mann, bewohnt einen Ort, er schreibt und er liebt als „Mann“, bevor er zum Monstrum wird, mit den Mitteln der Natur und der Kunst.
Das Gedicht bietet ihm eine Wohnstatt; von hier aus, aus diesem Haus schreibt er in sein Land und beteuert mit Mordtaten seine Liebe, als sei dies das allernatürlichste. Ein Haar steht gegen das andere. Der Glanz des Rheingolds und Faustens, gegen die Asche im Osten.
Die hereinbrechende Nacht („es dunkelt“) steht für die Schwärze, den Durchgang durch das Nichts. Die Wörter durchqueren den Abgrund gemeinsam mit der Figur und geben ihm Ausdruck. Die Sterne leuchten auf, sie blitzen über diesem Grund.
Es gelingt dem Gedicht, den Henkersknecht wieder in dieses Land zu locken, den Dompteur zu bezwingen, ihm auf Befehl alle seine Zauberkunststücke vorführen zu lassen, es bringt ihn dazu, seine Meisterschaft noch einmal unter Beweis zu stellen.
Bewirken kann dies die Musik, sie hat bekannterweise diese Macht über ihn, in eben dem Maße, wie er über sie verfügt, um zu töten. Die süße Melodie läßt ihn nun selbst aus seiner Behausung hervorkommen. Haben die vertrauten Weisen, die er pfeift, ihn nicht gelehrt, daß man mit den Ratten, dem Ungeziefer so verfuhr, und mit den Schlangen?
Wer von allen Interpreten der „Todesfuge“ trägt dem wirklich Rechnung, in seiner Lektüre, daß hier der Schritt in den Bereich der Sprache bereits gemacht ist, daß es um die Wiedergabe des Geschehenen und um ein Vom-Tode-Erwecken in den Wörtern geht?
Das historische Ereignis ist nicht als solches, unmittelbar, angesprochen, sondern durch sein Vermögen in der Sprache, die sich von daher bestimmt, und der, will sie es sagen, keine andere Wahl bleibt, als sich davon durchdringen zu lassen. Die Sprache übernehmen heißt, das Ereignis zu akzeptieren, das sie getragen und hervorgebracht hat, bis in seine letzten Konsequenzen. Man nimmt es so auf sich. Die Übertragung des Ereignisses in die Sprache der Lieder wird auf diese Weise zu einem „Bekenntnis“, zu dem der dichterische Gebrauch der Sprache verpflichtet. Auschwitz wird deswegen, wegen der vernichtenden Kraft der Lieder, auf immer deren „obligater“ Inhalt sein. Das Nichtvergessen entspringt nicht der Entscheidung, den Toten die Treue zu halten, es leitet sich unmittelbar vom Akt des Schreibens ab. Wer singt? Ich, und zwar in einer Sprache, die die unverlorene Macht besitzt, solches zu tun, und die es getan hat.
Das „Haus“ im Gedicht ist errichtet worden mit der Energie, die in der Sprache des Verbrechens angelegt ist, durch Zusammenfügung ihrer beschwörenden Bestandteile. Die idiomatische Gegensprache bezieht von daher ihre Kraft. Sie besteht eben darin, daß sie dem Ereignis Ausdruck zu geben vermag, es existieren läßt und dabei überwindet; das Nichtvergessen der in der Sprache beschrittenen Wege ist die einzig mögliche Art der Überwindung. Die Spur der Verbrechen hat sich so tief in die Sprache eingegraben, daß man ihr zu folgen hat, wenn man die Verbrechen nicht wiederholen will, und daß man durch sie hindurchzugehen und sie zu besingen hat; wenn man nicht zum Komplizen werden will durch einen Gesang, der sie nicht besänge.
Die Todeslager in der Dichtung
Die poetische Trennung steht so in enger Verbindung mit den NS-Verbrechen. Beides überlagert sich, ohne daß sich sagen ließe, das eine sei vom andern hervorgerufen worden. Das Ereignis hat darin Aufnahme gefunden, könnte man sagen, der Bruch mit der traditionellen Lyrik, den es erheischt, war bereits vorgezeichnet, in einer Tradition der Absonderung. Die Verbindung mit dem Ereignis ist darum nicht weniger unauflöslich; die Frage der eigentlichen Priorität ist nicht die, ob eine so geartete künstlerische Freiheit schon vorher existiert hat oder nicht.
Es ist nicht legitim, die Todeslager als ein Ereignis zu präsentieren, mit dem der Dichter, durch sein persönliches Schicksal, oder durch das Schicksal anderer, mit denen er sich solidarisch fühlte, unumgänglich konfrontiert gewesen sei, wie immer dies auch gerechtfertigt sein mag. Die von ihm getroffene Entscheidung entspringt einer kämpferischen, polemischen Position, einer Parteinahme für die Geschichte, und gegen die vernichtenden Gewalten in der Geschichte. Dem Ereignis kommt ein bestimmter Ort innerhalb der konstitutiven Struktur dieser Sprache zu. Die Negation hätte wohl auch nicht auf dieser Schwärze beruhen, und auch andere Farben als diejenigen der Asche tragen können. Durch eine Entscheidung wurde allen Negationen das Grau zuteil, die graue Farbe dieser einen Wahrheit, unter Ausschluß aller anderen.
Celans Dichtung ist kritisch und lyrisch zugleich, eine kritische Auseinandersetzung mit der Lyrik. Sie analysiert die überkommenen Sprechweisen, noch vor jedem konkreten Bezug, die eigene nicht minder, noch vor jedem Gebrauch; jede ihrer Kompositionen ist ein Auseinanderlegen, sie scheut vor keiner Brechung zurück.
Das Gedicht „Psalm“ wird erst unter der Voraussetzung verständlich, daß das Gedicht in dem Raum, in dem es sich entfaltet, seine eigene Sprache zum Gegenstand hat. Erst dann, wenn man den „Niemand“ als die Verwandlung des möglichen Subjekts in eine reine und konzentrierte Abwesenheit versteht, die als solche sich zu erkennen gibt dem noch Sagbaren am angemessensten.
Der Widerspruch konzentriert und verdichtet sich zu einer erfüllten Negation, die es erlaubt, von einem gemeinsamen Schicksal, einem „wir“ zu sprechen. Alle Formulierungen sind Wiederaufnahmen; ihr einziger Bezugspunkt ist, daß sie auf nichts sich beziehen, sie wurden ihres eigentlichen oder ursprünglichen Inhalts entleert; sie bestehen weiter als ein übertragbares Material, das auf nichts Übertragen wird als auf das Nichts, das sie hier wirklich aussagen, und das in ihnen spricht. Der Beiklang mystischer Traditionen jeglichen Ursprungs, den man in den wiederaufgenommenen Formeln wahrnimmt, leitet sich von klassischen Spekulationen her. Der Bezug auf das Geschehene ist in ihnen nicht enthalten, er versieht das, was darin ausgesagt ist, mit einer in der Geschichte gereiften, von der Geschichte auferlegten Bedeutung; sie ist gerade das, was von ihnen nicht auch mitgesagt wurde. Die umrissene Begrenzung widerspricht nur, um dem Widerspruch als Bedingung möglichen Sprechens Ausdruck zu verleihen.
Nichts kann also „verwendet“ werden, für welche Tradition des Denkens und Sprechens auch immer, für keinerlei Glaubensinhalte. Die Sätze werden in ein Abseits von allen ihnen anhaftenden Bedeutungen und Wertigkeiten gewendet. Dieser Abkehr verdanken sie ihre wörtliche Bedeutung.
Und doch wird dies selten erkannt. Die Lesegewohnheiten erweisen sich als stärker. Der Widerspruch wird seinerseits abgewendet, und in den vertrauten Kategorien der Negativität aufgefangen; die kompromißlosen Stellungnahmen gehen ihrer Radikalität verlustig.
Es gibt, in der Weite dieses Horizonts, keine Klassiker, keinen Kanon, nichts dieser Art. Nur die Auswahl, die der Dichter für sich aus seiner Sicht zusammengestellt hat: diese Fragmente sind in sein Buch eingegangen, aufgrund von Lektüren, Begegnungen. Im Laufe der Jahre sind sie lesbar geworden, im Gegensinn, als eine lange Reihe von Endlichkeiten im Unendlichen.
Der Standort
Alle Gedichte Celans sind autobiographischer Natur. Er hat sie in den vertrautesten Umgang mit sich selbst einbezogen. Ihre Entstehung verdankt sich je einem Augenblick der Fülle oder der Leere, dem Augenblick eines Schreibprozesses. Er selbst erscheint in dieser einzigen Parusie: er, das heißt, seine Sprache. Die Gedichte nehmen im Fortschreiten des Werks immer mehr diese Form an, die Form biographischer Noten, Notate, die in ein nie abgeschlossenes poetisches Tagebuch eingetragen werden; es wird immer wieder geöffnet, und als ein diskontinuierliches weitergeführt. Die Kontraktionen setzen das ihnen Vorangehende voraus, häufig andere Texte, andere, bereits geschriebene, festgeschriebene Erfahrungen, und beziehen sich darauf in einem zumeist ironischen Zwiegespräch cum se ipso, in der beobachtenden Wahrnehmung seiner selbst und des Dus: „So steht es um mich, jetzt“ und „So steht es um dich“.
Folgendes Gesamturteil stammt aus der Feder von Schalom Ben-Chorin, unter den tausenden dieser Art:
… unter deutschen Juden verstehe ich hier natürlich auch die Juden Österreichs…, aber zum Teil auch die Juden aus der Bukowina, aus der der letzte große jüdische Lyriker deutscher Sprache, Paul Celan, Überlebender des Holocaust, aber wie viele Autoren der Emigration den Freitod suchend, stammte.
War er ein „jüdischer Dichter“? Jude als Dichter, das gewiß. „Ein deutscher Jude“? Zweifellos nicht. „Ein Überlebender“? Eher doch ein Zeuge des Erlebten, seines Überlebens, das sich nicht darauf beschränkt, daß er nicht umgekommen ist. Er ist, was er sein wollte: jemand, der seine Identität aus dem bezieht, was er gesagt hat und beschlossen hatte, zu sagen.
Mit welchem Recht versucht man, den Tod zu erklären, dieses persönlichste Ereignis eines Lebens, als wäre er das fast logische Ergebnis eines einer ganzen Gruppe vom historischen Geschehen aufgezwungenen Schicksals („wie so viele andere…“). Die Verhältnisse werden von der anderen, der „deutschen“ Seite, auf genau dieselbe Weise dargestellt.
Soll man die Emigration als Gegensatz zu einer Immigration nach Israel verstehen, wie eine zusätzliche Strafe, die einen Exilanten trifft?
Celan ist nicht aus Deutschland gekommen, er hat deutlich genug gesagt (es genügt, ihn genau zu lesen), daß er aus dem Osten, aus den slawischen Ländern kam:
Kyrillisches […]
ritt ich über die Seine,
ritts übern Rhein
Er hat weniger in der Emigration denn als ein „Emigrant“, vielmehr als ein Ausgeschlossener, in seiner Sprache gelebt, in einem deutschen Exil. Das Exil ist überall; ein „Überleben“ kann nicht ausgewogen (und getilgt) werden durch ein tragisches Schicksal, das mit der „Emigration“ verbunden wäre. Das erstere betrifft einen jeden im selben Maße wie ihn; Überlebende sind wir alle; das letztere betraf ihn allein.
Die einzige Tradition, die nicht in Frage gestellt wird, ist die des Infragestellens; die Innovation beruht auf diesem befreienden Akt, wie bei Heine. Im Kampf gegen die repressiven Kräfte bildet sich eine akzeptable und akzeptierte Abstammungslinie heraus, eine Genealogie der Revolten, der Aufstände und der unterdrückten Bewegungen in der Geschichte. Die Schrift schafft den Freiraum.
Die Tilgung des Geschehens, das Verschwinden der Erinnerung ist das Natürliche, es sind Werke der Natur. Daß nichts ausgelöscht werde, verlangt einen besonderen Einsatz, es setzt den aktiven Widerstand gegen die Tilgung voraus.
Jean Bollack, Vortrag im Literaturhaus Berlin, 13. Oktober 1993, anläßlich des Erscheinens von Herzstein. Aus dem Französischen von Werner Wögerbauer mit dem Verfasser.
Ich sage: Als ich Paul Celan kennenlernte… Ich empfinde Verwirrung. Als würde ich versuchen, in der Sprache dieser Erde zu Wesen von einem anderen Stern zu sprechen. Die Sprache des Jahres 1981. Die Sprache der Jahre 1946–1947… Ich atmete eine andere Luft. Ich empfand, ich dachte anders. Junge Überlebende des Holocaust. Jeder einzelne von seinem Schicksal gezeichnet. Meine Eltern und Geschwister sind in den Lagern, die für den Tod eingerichtet worden waren, nicht umgekommen. Die von Celan sind es.
Ich erinnere mich an jenen strengen Winter. Auf den Straßen türmten sich riesige Berge von Schnee. Alfred Margul-Sperber, der weise Dichter mit der großen Seele, mit dem ich mich während des Krieges befreundet hatte, sagt mir eines Tages, dass er einen außergewöhnlichen Dichter entdeckt habe:
„Willst du ihn kennenlernen?“
„Selbstverständlich.“
„Ich werde ihn zu dir schicken. Er heißt Paul Antschel.“
Er war einige Jahre jünger als ich. Hatte einen dunklen Teint, feine Züge eines durchgeistigten Romantikers. Zurückhaltend.
Charme, von Rätseln und Melancholie überstrahlt. Wir sprechen nicht davon, was geschehen ist. Kein Wort über die Toten, über die Schrecknisse des Krieges. Worüber sprachen wir?
Dichtung, Rilke, Surrealisten, Jessenin. Und über Kleinigkeiten, Alltag, Anekdoten aus dem Verlagsleben (Paul war Lektor im Verlag Cartea Rusă).
Er bringt mir einen Durchschlag des Typoskripts. Mir offenbart sich ein wirklich außergewöhnlicher Dichter, mit einem besonderen, schwer bestimmbaren Timbre. Er beherrscht seine Kunst, ist authentisch und tiefgreifend; seine Verse sind ausgefeilt, fast manieristisch. Die surrealistische Schule hat er hinter sich gelassen, sie hätte für ihn zum Prokrustesbett werden können. Er begab sich in die höheren Zonen der puren Poesie, wobei er Rilkesche oder surrealistische Elemente, die er aufgenommen hatte, in seine eigene Substanz einschmolz.
Ich teile ihm die Eindrücke meiner Lektüre mit. Er empfängt sie mit beinahe gleichgültiger Ruhe, ein ausgeglichener Mensch, der sich seines Wertes bewusst ist, ohne jedoch übertriebene Eitelkeit hervorzukehren. Nichts in seinem Benehmen weist auf die künftige Krankheit hin, die ihn zum Selbstmord treiben sollte.
Wir treffen uns einige Male in jenen Jahren, 1946, 1947. Dann gibt Paul plötzlich kein Lebenszeichen mehr. Von gemeinsamen Freunden erfahre ich, dass er nach Österreich gegangen ist.
Es folgt der Aufstieg, den wir alle kennen. Wir haben uns in Paris wiedergesehen, das war 1966, glaube ich. Pauls Ruhm hatte seinen Höhepunkt erreicht, kürzlich war ihm ein angesehener Literaturpreis verliehen worden.
Als er mir die Tür zu seinem kleinen Appartement in der Nähe des Trocadero öffnete, empfand ich einen Schock. Vor mir stand ein alter Mann. Als wäre sein Körper zusammengeschrumpft, kleiner geworden. Es stimmt, zwanzig Jahre waren vergangen. Doch es schienen vierzig vergangen zu sein. Er empfing mich mit großer Wärme, leicht nostalgisch. Wir sprachen ein paar Stunden lang. Abendessen im Haus Celan. Trotz der gelockerten, angenehmen Atmosphäre lag etwas Krankes in der Luft. Das Leitmotiv unseres Gesprächs: die Intrigen der Literaturkritik, die es darauf abgesehen habe, ihn als Dichter zu zerstören. Ich zweifelte an seinen Worten. Ich brachte Argumente. Sie regten ihn auf. Er führte Gegenargumente ins Feld, „Beweise“ nannte er sie. Ich war schon in Bukarest gewarnt worden, dass Paul an einer Neurose litt. Jetzt, im Gespräch, wurde es mir nicht klar, wieviel Realität und wieviel pathologische Phantasie hinter der Hartnäckigkeit steckten, mit der er immer wieder auf die gegen ihn gerichteten Angriffe zu sprechen kam.
Ich habe ihn nicht wiedergesehen. Als ich das nächste Mal nach Paris kam, rief ich bei ihm an. Seine Gattin antwortete. Es tut ihr leid, dass wir uns nicht treffen können: „Paul ist für längere Zeit in eine Klinik eingewiesen worden.“
Mehr als einmal habe ich mir beim Wiederlesen seiner Gedichtbände die Frage gestellt, ob die Ursachen der Krankheit, die sein tragisches Ende herbeiführen sollte, erblicher Art waren oder die Folgen des Holocaust, der ihn voll getroffen hatte; lag seinem Leiden eine Schaffenskrise zugrunde, oder wurden sämtliche dieser Faktoren, durch ihre gegenseitige Abstützung verstärkt, wirksam?
Der Höhepunkt seines Schaffens scheint mir in Mohn und Gedächtnis zu liegen, das ihn weltbekannt gemacht hatte, vielleicht auch in der Niemandsrose. Sprachgitter ist in höchstem Maß der Ausdruck eines kräfteaufreibenden Kampfes mit dem Unsagbaren; ein Kerker des Logos, des Wortes. Versuchen die Dichter, das Gitter jenes Kerkers in einer sublimen und irren Anstrengung aufzubrechen, so werden sie unweigerlich erdrückt. Nicht besiegt. Erdrückt. Sie bleiben Sieger.
Als ich Paul Antschel 1946 in Bukarest kennenlernte, hatte er, der noch nicht Paul Celan geworden war, dem die Tragödie seiner Familie noch gegenwärtig, der unbemittelt und traumatisiert war, dennoch ein inneres Gleichgewicht; eine merkwürdige Ruhe ging von ihm aus. Vielleicht erfüllte ihn die Sicherheit des Sieges, den er über den entsetzlichen Tod durch die Magie der Sprache davongetragen hatte. Ich vermute, er war sich auf jenem letzten Weg zur trüben Seine bewusst, dass das magische Ritual vorüber war, dass seine Reise ins radioaktive Herz der Dichtung ihr Ende gefunden hatte.
So entschied er sich für den Fluss.
Maria Banuş, in Zeitschrift für Kulturaustausch 3, 32. Jg., 1982
Aus dem Rumänischen übersetzt von Rolf Bossert
Hans Mayer: Erinnerung an Paul Celan, Merkur, Heft 272, Dezember 1970
CELAN
Unsäglich
Dein Hinüber-
schweigen.
Es halfen Dir
alle.
Gerhard Bogatzki
BRIEF AN DAS UFER DER SEINE
das bedürfnis, leiden beredt zu machen ist bedingung aller wahrheit
adorno
an den mauern der gettos
worte vorm tod schrecken des unglaubhaften leid
den steinen eingeritzt
tränenlos
ohne vergessen
und unsichtbar geworden die leben in rauch unsichtbar
die erschießungskommandos
aber vorhanden
gegen die wir
worte brauchen
und nicht nur worte
im anflug der b 52 bomber
noch träume
von soviel himmel der
verborgen bleibt vor der architektur der leere
geschlossenen lidern
des maulbeerbaums blatt
und lieder
solange menschen sind
Harry Oberländer
Paul Celan: Dichter ist, wer menschlich spricht. Ein Film von Ulrich H. Kasten und Hans-Dieter Schütt mit Eric Celan und Bertrand Badiou.
Gerhart Baumann hielt seinen Vortrag Paul Celan: Um-Wege zu sich und die offene Frage des Gedichts auf der Tagung Vom Sinn moderner Lyrik am 23. Januar 1971 im Haus der Katholischen Akademie in Freiburg.
Niemand zeugt für den Zeugen. 100 Jahre Paul Celan. Literarische Soirée am 30.9.2020 im Haus am Dom Limburg.
„wir wissen ja nicht, was gilt“ – Paul Celan zum 100. Geburtstag
Ein Abend zu Paul Celan am 18.5.2020 im Literaturhaus Berlin mit Hans-Peter Kunisch und Thomas Sparr. Es moderiert Eveline Goodman-Thau.
Paul Celan, Czernowitz & die „Todesfuge“. Helmut Böttiger berichtet.
Erreichbar, nah und unverloren. Reisen zu Paul Celan. Teil 1. Gespräch mit Helmut Böttiger.
Todesfuge – Biographie eines Gedichts. Alexander Suckel im Gespräch mit Thomas Sparr am 17.4.2020 im Literaturhaus Halle.
„Ästhetik und politische Dimension der Dichtung Paul Celans“. Mit Helmut Böttiger, Thomas Sparr und Monika Rinck; Moderation: Dieter Stolz am 23.11.2020 im Literaturforum im Brecht Haus.
Paul Celan in Europa – Videogespräch am 22.9.2020 im Rahmen der trilateralen Forschungskonferenzen 2020–2023 in der Villa Vigoni.
Paul Celan übersetzen – Gabriel Horatiu Decuble im Gespräch mit Ton Naaijkens und Alexandru Bulucz, Moderation Ernest Wichner am 6.11.2021 im Literaturhaus Halle im Rahmen der Tagung „Was setzt über, wenn Gedichte übersetzt werden“.
Clément Fradin, Julia Maas und Michael Woll stellen Paul Celans Bibliothek im Deutschen Literaturarchiv Marbach vor.
„Die Todesfuge. Zur Biographie eines Gedichts im Archiv“ – Thomas Sparr im Gespräch mit Jan Bürger, Kai Uwe Peter und Michael Woll
Michael Woll stellt Paul Celans Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach vor. Im Mittelpunkt stehen dabei die Hölderlin-Bezüge in Celans Texten.
Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Kehraus mit Celan
Zwischen „Grabschändern“ und „Linksnibelungen“. Wolfgang Emmerich im Gespräch mit Michael Braun über Paul Celans Verhältnis zu Deutschland und seinen deutschen Kritikern.
Carolin Callies, Ann Cotten, Daniela Danz, Aris Fioretos, Norbert Hummelt und Rainer René Mueller kommentieren Paul Celans Gedicht „Was es an Sternen bedarf“.
Paul Celan liest Gedichte in Jerusalem am 9.10.1969
Daniel Jurjew / Klaus Reichert: Paul Celan: Ich sehe seine Hellsichtigkeit, bei anderem denke ich einfach: er übertreibt
Frankfurter Rundschau, 19.4.2020
Gregor Dotzauer: Das Eigene und das Andere
Der Tagesspiegel, 19.4.2020
Susanne Ayoub: Es ist Zeit, dass es Zeit ist
Der Standart, 19.4.2020
Sandro Zanetti: Akute Dichtung: Celans Zumutungen
Geschichte der Gegenwart, 19.4.2020
Friederike Invernizzi: Sprechen zwischen Wunde und Narbe
Forschung & Lehre, 19.4.2020
Frank Trende: Die bewegende Geschichte der Todesfuge
shz.de, 19.4.2020
Dunja Welke: Paul Celan – Ein zerrissener Dichter
RBB, 18.4.2020
Stefan Lüddemann: Paul Celan, Dichter des Holocaust, starb vor 50 Jahren
Neue Osnabrücker Zeitung, 19.4.2020
Shmuel Thomas Huppert: Erinnerungen an Paul Celan
SR 2, 26.2.2020
Christoph Bartmann: Ein Riss, der nicht zu heilen war
Süddeutsche Zeitung, 20.4.2020
Christine Richard: Ein Leben, immer nahe am Untergang
Tages-Anzeiger, 20.4.2020
Anton Thuswaldner: „Die Welt ist gegen mich losgezogen“
Salzburger Nachrichten, 19.4.2020
Klaus Reichert im Gespräch mit Niels Beintker: Erinnerungen an Begegnungen und Gespräche mit Paul Celan
BR24, 20.4.2020
Rüdiger Görner: Asche atmen: Zu Paul Celan
Die Presse, 23.4.2020
Marko Martin: Paul Celan und die „Linksnibelungen“
Welt, 27.4.2020
Evelyne Polt-Heinzl: Paul Celan Ein Migrant in Wien
Die Furche, 8.4.2020
Andreas Wirthensohn: Todesklage für die Überlebenden
Wiener Zeitung, 21.11.2020
Klaus Demus: „Eine sehr große Freundschaft“
literaturoutdoors.com, 22.11.2020
Claus Löser: Fünf Filme für Paul Celan
Berliner Zeitung, 21.11.2020
Krisha Kops: Paul Celan: Dichter, Überlebender, Heimatloser
Deutsche Welle, 22.11.2020
Ulf Heise: Lyrik als Flaschenpost
Freie Presse, 22.11.2020
Susanne Ayoub: Paul Celan: Verlust der Heimat, Trauer um die Eltern
Der Standart, 22.11.2020
Wolf Scheller: Was nicht gesagt, nur angedeutet werden kann
Der Standart, 23.11.2020
Andreas Montag: Dichter Paul Celan – Der Schleier des Herbstes
Mitteldeutsche Zeitung, 23.11.2020
Andreas Müller: Paul Celan – zum 100. Geburtstag
Wiesbadener Kurier, 23.11.2020
Stefan Kister: Unter die Deutschen gefallen
Stuttgarter Zeitung, 22.11.2020
Paul Jandl: Vielleicht war Paul Celan einmal ganz er selbst. Da spielte er die Dürrenmatts beim Tischtennis in Grund und Boden
Neue Zürcher Zeitung, 23.11.2020
Sabine Glaubitz: Er schrieb das Unsagbare auf: Nachkriegsdichter Paul Celan wäre heute 100 Jahre alt geworden
stern, 23.11.2020
Volker Weidermann: Ein Grab in den Lüften
Der Spiegel, 20.11.2020
Jochen Hieber: Im Höhenrausch mit Ingeborg Bachmann
Der Spiegel, 23.11.2020
Stefan Brams: Interview mit Thomas Sparr – Paul Celan stiftet zur Erinnerung an
Neue Westfälische, 23.11.2020
Helmut Böttiger: Die graue Sprache
Süddeutsche Zeitung, 22.11.2020
Helmut Böttiger: Auf der Suche nach einer graueren Sprache
Jüdische Allgemeine, 21.11.2020
Albrecht Dümling: Die Todesfuge in Tönen
Deutschlandfunk Kultur, 20.11.2020
Nikolaus Halmer im Gespräch mit Barbara Wiedemann: Paul Celan: „Es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen“
Die Furche, 11.11.2020
Harald Seubert: Lieder jenseits der Menschen und kodierte Zeit: Paul Celan (1920–1970). Zum Gedenken
youtube.com, 15.6.2020
Celebrating Paul Celan: An Evening with Pierre Joris and Paul Auster
youtube.com, 21.11.2020
Stadtführung „Auf den Spuren von Paul Celan“
youtube.com, 10.9.2020
Paul-Celan-Literaturtage 2020. Videopräsentation vom Paul Celan Literaturzentrum Czernowitz
Ausstellung Paul Celan 100 – Unter den Wörtern
Online-Begleitprogramm zur Ausstellung Paul Celan – Meine Gedichte sind meine Vita
West-östliche Konstellationen. Internationale Tagung als hybride Veranstaltung im Lyrik Kabinett, München, sowie online.
Tagungskonzeption und -organisation: Prof. Markus May und PD Dr. Erik Schilling (Institut für deutsche Philologie der LMU München)
8.–9.10.2020
Eröffnung
Ambivalente Topographien. Rilkes Dritte Duineser Elegie und Celans „Walliser Elegie“
„West-östliche“ Lesarten im Jahrhundert nach Celan
Das Schweigen über Brücken. Orte Celans bei Robert Schindel
Abendvortrag: Todesfuge. Biographie eines Gedichts
„Wortaufschüttung“. Materialität als Indexikalität bei Paul Celan
Betreten. Zum Anfang von Engführung
Celans Draußen. Über reale und sprachliche Räume in seiner Dichtung
„Stimmen vom Galgenbaum“. Celans west-östliches Rotwelsch
Paul Celans Todesfuge interpretiert von Diamanda Galas im Teatro Albeniz, Madrid, 15.10.2008.
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