Paul-Henri Campbell: Zu Argis Viguls’ Gedicht „Das Buch“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Argis Viguls’ Gedicht „Das Buch“ aus Arvis Viglus: Die Handschrift einer Nadel

 

 

 

 

ARGIS VIGULS

Das Buch

Eine nach der anderen berühre ich meine Narben,
meine einzige Camouflage,
damit ich mich erinnere, wer ich bin.
Ich weiß nicht mehr, wie man das Kreuzzeichen macht –
das ist mein letztes Ritual.

Die älteste ist auf der linken Schulter –
von der Pockenschutzimpfung –
rund, als hätte da jemand
eine Zigarette ausgedämpft.
Das war meine erste Taufe.

Ich habe viele feine Kratzer
auf meinen zehn Fingern –
einen für jedes Gebot.
Als Kind mochte ich Messer.
Damals gab es kein anderes Spielzeug.

Ich legte all die scharfen Dinge, die man zu Hause so findet,
vor mich auf den Tisch
und gab ihnen Namen,
wie man Söhnen Namen gibt.

Das Alter eines Pferdes wird anhand der Zähne bestimmt,
das Schmerzalter – anhand von Narben.
Und doch bin ich immer noch sehr jung.
Hier – und das darf nur geflüstert werden –
ist immer noch viel Platz frei.

 

Der lettische Dichter Arvis Viguls (geboren 1987)

aus dem südwestlich gelegenen Örtchen Jēkabpils präsentiert seinen Leser*innen Gedichte von labyrinthischer Komplexität. Kaum wird man der Kraft dieser Texte gerecht, zitiert man nur eines aus dem nun auf Deutsch vorliegenden Band Die Handschrift einer Nadel. Man beachte etwa nur die vierte Strophe hier:

und gab ihnen Namen,
wie man Söhnen Namen gibt.

Überall im Band spuken Korrespondenzen, die Motive und Anliegen der Gedichte spiegeln, augmentieren oder ihnen eine neue Wendung geben. Später heißt es in einem Gedicht: Der Vater vergesse seinen Namen. Auch dort spielen Operationsnarben eine Rolle. Ein weiteres Gedicht kreist um eine Frau, die „Parfüms mit kraftvollen Namen“ unwiderstehlich einzusetzen weiß. Wieder ein anderes entwirft ein Selbstgespräch im Flugzeug:

in dieser Höhe ist es unmöglich aufzuschreiben,
was du über hier denkst, nahe der Erde.
Von hier aus gesehen, hat selbst Schmerz keine Namen,
nur Nummern – wie Straßen in einer großen Stadt.

Versucht sich der Dichter Arvis Viguls hier womöglich am Mysterium der Eigennamen, wonach, wie Emmanuel Lévinas einmal über Maurice Blanchot sagte, „Schreiben heißt, die Verbindung des Sprechens mit dem Selbst kappen, […] Wenn Anschauung und Wissen in einem Vermögen über ihren Gegenstand bestehen, in der Herrschaft aus der Ferne, besteht die atemberaubende Umkehrung des Schreibens darin, von dem Angeschauten berührt zu werden.“ Das Liebkosen der eigenen Narben wird in diesem Modus der Exteriorität zum Akt des Erinnerns, nicht aus Anrufung der Mnemosyne, sondern als aktives, prospektives Erlesen im Blattwerk der Pythia.

Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 1, 2019

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