IM NEBEL
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.
Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.
Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allen ihn trennt.
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.
Hermann Hesse
Hier liest Hermann Hesse das Gedicht
Nichts anderes leistet Hesses Gedicht. Es verwandelt einen Gemeinplatz in eine akute Erfahrung. Daß es gelingt, liegt an der ersten Zeile. Sie ist ein lyrisches Ereignis, das einzige in allen sechzehn Versen. Das Palindrom Nebel/Leben, ein Sprachspiel, das uns in der Schlußstrophe etwas zu aufdringlich vorgerückt wird, steckt hier noch latent im Satz. Wir hören es mit, ohne uns seiner bewußt zu sein. Der alte Gedanke, daß das Leben eine Wanderschaft sei, taucht durch die Verbindung des Wortes „wandern“ mit dem Wort „Nebel“, dem Spiegelwort zu „Leben“, im Hallraum der Zeile auf. Ja, dieser Hallraum entsteht dadurch überhaupt erst. Er verzaubert die fünf Wörter und bewirkt, daß man den Vers nicht mehr vergißt.
Die Zustände der Verlassenheit, des Alleinseins, des Nichtverstandenwerdens gehören zu unsern frühsten Erinnerungen. Sie sind ein wesentliches Element jeder Kindheit. Als Vater oder Mutter versucht man eifrig, sie seinen Kindern zu ersparen. Denn die Psychologen sagen, daß die Kinder dadurch Schaden nehmen, unglückliche Erwachsene werden und ihrer Eltern nur noch mit Bitterkeit gedenken. Das ist Unsinn. Nichts wäre schrecklicher, als immerzu restlos verstanden zu werden. Es gibt keine Selbstfindung, keine Gewißheit eines eigenen Ichs, ohne das schmerzlich durchgekostete Gefühl des Einsamseins. In diesen Momenten wird man seiner Mitte gewahr, jener seltsamen Gegebenheit, für die sich nie ein rechtes Wort findet. Goethe nannte sie „mein Herz“. Daher führen alle kritischen Lebensphasen zu einer Steigerung und Häufung solcher Zustände. Denn alle kritischen Lebensphasen müssen auch mit einer neuen Selbstfindung enden. Das tut weh und ist beflügelnd zugleich.
Es gehört zur naiven Raffinesse von Hesses Gedicht, daß es das triumphale Gefühl erlangter Einzigartigkeit hinter der vordergründigen Melancholie kräftig hervorscheinen läßt. „Wahrlich, keiner ist weise…“, das heißt doch wohl: „Ich bin es, und wie!“ Und da es sich um ein Allerweltsgedicht in des Wortes imponierendster Bedeutung handelt, schenkt es auch jedem Leser die Gewißheit, ein Weiser zu sein. Gar kein so schlechtes Geschenk.
Es muß an der ersten Zeile liegen! Der Rest besteht aus Gemeinplätzen, ist wehleidig und auch etwas eitel. Es muß diese erste Zeile sein, was alle Banalitäten magisch verwandelt und das Ganze zu einer Verlautung werden läßt, in der Hunderttausende ihr tiefstes Gefühl ausgesprochen hören durften. Gibt es ein Gedicht, das innigere Zustimmung gefunden hätte im 20. Jahrhundert?
Als Jacob Burckhardt einmal Überlegungen anstellte darüber, was die Literatur eigentlich leiste, meinte er:
Die Poesie hat ihre Höhepunkte, wenn sie dem Menschen Geheimnisse offenbart, die in ihm liegen und von welchen er ohne sie nur ein dumpfes Gefühl hätte.
Genau das muß sich angesichts von Hesses Gedicht in ungezählten Leserinnen und Lesern ereignet haben. Der Erfolg der vier Strophen ist undenkbar ohne den schockartigen Offenbarungsmoment: Ja, so ist es! Endlich sagt es einer…
Das dumpfe Gefühl der Verlassenheit, des Alleinseins und Nichtverstandenwerdens, hier wird es plötzlich zum klaren Wort. Hier gab ein Gott einem Dichter zu sagen, was alle, alle leiden.
Ein Allerweltsgedicht. Tatsächlich und in des Wortes imponierendster Bedeutung.
Und doch kann da etwas nicht stimmen. Burckhardt spricht von „Geheimnissen“. Läßt sich dieses Wort wirklich auf Sätze anwenden wie: „Leben ist Einsamsein“ und: „Jeder ist allein“? Sollen das Offenbarungen sein? Dann ist alles Offenbarung, auch: „Das Leben ist kurz“ und: „Aller Anfang ist schwer“. Dann gibt es überhaupt keine Platitüde, die nicht Offenbarung sein könnte.
So ist es in der Tat. Der Gesamtbestand an Grundwahrheiten ist weit kleiner als die Zahl der lebenden Philosophen. Und diese Grundwahrheiten sind alle längst bekannt. Nur ist, was bekannt ist, damit nicht auch schon erfahren. Man kann mit einer einfachen Wahrheit jahrzehntelang vertraut sein, bevor sie einem zum ersten Mal in die Knochen fährt.
Auge in Auge mit dem Gedicht. Ein Vorwort
Das Glück des Ungeküßten
aaaHeinrich Hetzbold von Weißensee: Wol mich der stunde
Pfeilschnell ins Glück
aaaChristian Hoffmann von Hoffmannswaldau: Sonnet. Vergänglichkeit der schönheit
Das seltsame Brautgeschenk
aaaJohann Christian Günther: Als er der Phillis einen Ring mit einem Totenkopfe überreichte
Der bittere Verdacht
aaaMatthias Claudius: Kriegslied
Lessings Not
aaaGotthold Ephraim Lessing: Lied. Aus dem Spanischen
Diese unheimlichen Diminutive
aaaJohann Wolfgang Goethe: Heidenröslein
Gefährliche Vollkommenheit
aaaJohann Wolfgang Goethe: Mignon
Die Nacht, die Frauenzeit
aaaJohann Wolfgang Goethe: Philine
Selbstbewußte Demut
aaaJohann Wolfgang Goethe: Grenzen der Menschheit
Hochgemut und chancenlos
aaaJakob Michael Reinhold Lenz: Willkommen
Wovon soll der Dichter leben?
aaaFriedrich Schiller: Die Teilung der Erde
Die Pflicht erwürgt das Glück
aaaFriedrich Schiller: Der spielende Knabe
Die Heimkehr des Geschundenen
aaaFriedrich Schiller: Odysseus
Die verborgene Flamme
aaaFriedrich Schiller: Punschlied
Todernste Heiterkeit
aaaJohann Peter Hebel: Wie heißt des Kaisers Töchterlein?
Der Schatten Hamlets
aaaFriedrich Hölderlin: An die Deutschen
Sisyphos in preußischer Uniform
aaaAdelbert von Chamisso: Tragische Geschichte
Wie Liebe auf den Teufel kommt
aaaLudwig Uhland: Fräuleins Wache
Der Sturmwind und die bleierne Welt
aaaJoseph von Eichendorff: Herbstklage
Die Loreley im Walde
aaaJoseph von Eichendorff: Waldesgespräch
Von alter Unanfechtbarkeit
aaaFerdinand Raimund: Das Hobellied
Liebesnot und Gegenwehr
aaaAnnette von Droste-Hülshoff: Lebt wohl
Knalleffekt und Raffinesse
aaaHeinrich Heine: Belsatzar
Heine in extremis
aaaHeinrich Heine: Der Scheidende
Aus der Zeit getreten
aaaEduard Mörike: Die schöne Buche
Die letzten Blumen
aaaHermann von Gilm zu Rosenegg: Allerseelen
Armer Sieger
aaaFriedrich Hebbel: David und Goliath
Humanität und Fortpflanzung
aaaTheodor Storm: Von Katzen
Im Weltwind
aaaGottfried Keller: Waldlied
Der Meermensch
aaaConrad Ferdinand Meyer: Nicola Pesce
Liebesglück im Zwielicht
aaaConrad Ferdinand Meyer: Dämmergang
Narkotische Fahrt
aaaStefan George: Vogelschau
Wer spricht aus dem Mund der Dichter?
aaaRainer Maria Rilke: Eine Sibylle
Zweideutige Melancholie
aaaHermann Hesse: Im Nebel
Dschungelliebe in Berlin
aaaElse Lasker-Schüler: Giselheer dem Tiger
Eine letzte Hoffnung
aaaKarl Kraus: An den Schnittlauch
Schweres Scheitern, hohe Fahrt
aaaRegina Ullmann: Alles ist sein
Modernes Hohelied
aaaKurt Schwitters: An Anna Blume. Merzgedicht 1
Weltverfinsterung
aaaRobert Walser: Was fiel mir ein?
Eine Liebesgeschichte
aaaGertrud Kolmar: Salamander
Das Glück jenseits der Sprache
aaaSilja Walter: Tänzerin
Auf schwankenden Füßen
aaaGünter Eich: Latrine
Trümmermärchen
aaaGünter Eich: Brüder Grimm
Die Nacht des Emigranten
aaaTheodor Kramer: Oh, wer geht mit mir rasch noch ins Kino vor Nacht
Der Körper als Kunstwerk
aaaBertolt Brecht: Der Bauch Laughtons
Wie ist das Gold so gar verdunkelt
aaaPaul Celan: Todesfuge
Nah am tödlichen Rand
aaaAlexander Xaver Gwerder: Ich geh unter lauter Schatten
Die unersättlichen Augen
aaaIngeborg Bachmann: An die Sonne
Von einer anderen Melodie
aaaGottfried Benn: Restaurant
Aufforderung zum Verdacht
aaaHans Magnus Enzensberger: Ins Lesebuch für die Oberstufe
Die Krippe am Eismeer
aaaChristine Lavant: Wieder Nacht…
Vom Sonnenschicksal
aaaFriedrich Dürrenmatt: Siriusbegleiter
Skrupellos glücklich
aaaPeter Rühmkorf: Außer der Liebe nichts
Unverhoffte Herrlichkeit
aaaFriederike Mayröcker: an eine Mohnblume mitten in der Stadt
Lautgedicht und Schmerzensmann
aaaErnst Jandl: waunsas wissn woiz……
Schöner Ort mit unsichtbarer Hexe
aaaSarah Kirsch: Beginn der Zerstörung
Ein Talisman gegen die Vergänglichkeit
aaaMichael Krüger: Die Schlüssel
Die Dichter und die Macht
aaaHeiner Müller: Geschichten von Homer
Gefahr als Droge
aaaDurs Grünbein: Krater des Duris
Poesie und Blitz und Donner
aaaMonika Rinck: i had a pony (her name was lucifer)
Sechzig Solitäre. Sie sind über Jahre hin zusammengekommen, genau genommen über sechsundzwanzig Jahre. Stets als einzelne. Was sie verbindet, ist die Zuneigung des Deuters. Von jedem dieser Gedichte war er beim Schreiben tagelang wie besessen. Die Verse wühlten ihm im Gehirn. Er fürchtete sich vor dem Weiterschreiben am nächsten Morgen, fürchtete, auf den gegebenen zwei Seiten das Entscheidende zu verpassen. Und er freute sich doch wieder beinahe sportlich auf die stilistische Schußfahrt. Mit vielen Stücken war er seit langem vertraut, befreundet darf man wohl sagen. So etwa mit Lessings kaum beachtetem „Lied, Aus dem Spanischen“. Andere sprangen ihm beim Suchen plötzlich entgegen, verschlugen ihm fast den Atem, und im Moment dieser intellektuellen Kollision begann schon die Arbeit. So etwa, im Oktober 2007, Eichendorffs „Herbstklage“.
Auch wenn hier keine Poesiegeschichte angestrebt wird, merkt man wahrscheinlich, daß sich die deutsche Literatur der letzten dreihundert Jahre im Kopf des Deuters als vielgestaltig-gewaltige Landschaft erstreckt, zusammenhängend, mit Nebelzonen, gewiß, und mit schärfer besonnten Gebieten, aber als erlebte Einheit, durch Straßen und Ströme erschlossen, die Gebirge mit den Ebenen verbunden und die Urwälder mit den Boulevards. An den literaturgeschichtlichen Signalen, die dadurch in die einzelnen Deutungen gelangen, ist dem Verfasser viel gelegen. Denn aus dieser Landschaft nährt sich elementar das kulturelle Gedächtnis der deutschsprachigen Länder.
Es gibt deren mehrere. Daran darf gelegentlich erinnert werden. Deutsche Gedichte kommen nicht nur aus Deutschland. Die Landschaft der deutschen Literatur dehnt sich über viele Grenzen hinweg, geographische und geschichtliche, über die von Preußen, Sachsen und Bayern wie von Österreich und der Schweiz, auch Herders Königsberg liegt noch darin und Keyserlings Kurland, das Böhmen Kafkas, Celans Czernowitz und Celans Paris, das Kalifornien, London, Jerusalem der Emigranten. Der Vertriebene, der in der Fremde ein deutsches Gedicht schreibt, macht den Exilort zu einem Teil dieser Landschaft, auf immer. Für den Schweizer, der das vorliegende Buch geschrieben hat, ist sie Heimat, so selbstverständlich und lebensnotwendig wie die Confoederatio Helvetica.
Sechzig Solitäre. Sechzig Begegnungen. Der Akt des Lesens fällt zusammen mit dem Akt des Schreibens. Wichtige Nuancen des Textes offenbaren sich dem Interpreten erst im Denkgerangel seines Formulierens. Die Exegese auf kleinstem Raum ist ein Werben um das Gedicht, um die Sinnzusammenhänge im Wörterleuchten, und zugleich ein Werben um die Leser für das Gedicht. Ein brauchbarer Germanist ist immer auch ein matchmaker. Er bedarf der Geschicklichkeit der alten Heiratsvermittler. Er will nicht sich selbst darstellen, sondern das Zusammenfinden von Leser und Werk ermöglichen, mir Tricks gegebenenfalls, mit Schmeicheleien, faustdicken Lobreden, diskreten Hinweisen auf versteckte Reize, mit schnellem Schimpfen zwischendurch und hartnäckigem Aufdecken des Scharfsinns im Text, des Gedichts als einer philosophischen Tat.
Im Gedicht gewinnt die deutsche Sprache die äußerste Verdichtung ihrer sinnlichen und intellektuellen Möglichkeiten. Es geschieht auf einmal, so wie uns ein Gesicht auf einmal erscheint. Das Nacheinander der Verse wird ebenso rasch zu einem Zugleich wie das Nacheinander von Stirn und Augen, Nase, Mund und Kinn. Das merkwürdig archaische Gesetz, das vom Gedicht einen graphischen Umriß verlangt, der es von allen andern Texten der Schriftkultur unterscheidet, eine optische Gestalt, die selbstgewiß Raum greift und Raum verschwendet, sich damit für einzigartig erklärend, zum Solitär eben – wie man den einzeln gefaßten Diamanten einen Solitär nennt oder den Baumriesen allein auf seinem Hügel –, dieses Gesetz nähert das Gedicht tatsächlich dem begegnenden menschlichen Gesicht an. Beider Merkmal ist die begrenzte Fläche, gegenwärtig auf einen Blick, aber mit einem unendlich sprechenden Inhalt. Daß die zwei Wörter Gedicht und Gesicht sich nur in einem Laut unterscheiden, ist ein schöner Zufall der deutschen Sprache.
Zum Gesicht gehört, daß es erschrecken kann. Seinem Wesen nach und mit biologischen Gründen. Lange vor dem Auftreten des Menschen haben die Züge eines Gesichts auf Falterflügeln und Insektenrücken zur Abschreckung gedient. Selbst die weiße Fläche am Hinterteil des Rehs, der Spiegel, wie die Jäger sagen, simuliert das Auftauchen eines Gesichts. Das verweist auf dessen merkwürdige Zeitstruktur, seine Plötzlichkeit. Sie leitet sich her von der potentiellen Gefahr, die es verkörpert. Das kleine Kind reagiert darauf schon nach wenigen Wochen. Auch die Erwachsenen halten das volle Aug-in-Auge kaum eine Sekunde lang aus; die Blicke suchen sich und gleiten wieder weg. Nur die Gesichter der Verliebten können endlos ineinander versinken. Aber auch dieser kostbare Zustand hat seine zeitlichen Grenzen.
Soll das nun ebenso vom Gedicht gelten? Sicher nicht im erwähnten biologischen Zusammenhang. Dennoch gibt es Analogien. Lichtenberg hat das menschliche Gesicht „die unterhaltsamste Fläche auf der Erde für uns“ genannt. Die ebenso knapp umzirkte Fläche des Gedichts darf damit wohl als einzige in Konkurrenz treten. Beide sind ähnlich komplex in ihrer Organisation und wollen mit ähnlicher Dringlichkeit gelesen, gedeutet, verstanden werden. Ob dies je ganz gelingen kann, ist hier so fraglich wie dort. Beide verstecken ihre Wahrheit, melden aber deren Vorhandensein energisch an. Deshalb vermag das Gedicht so unmittelbar zu faszinieren und zu irritieren, zu begeistern und zu verärgern wie keine andere literarische Form. Viele verwerfen es grundsätzlich und rabiat. Die Gründe dafür sind zahlreich. Sie ergeben eine bedrohliche Sammlung von Verdachtsmomenten, die sich abstecken läßt mit den Stichworten: Nutzlosigkeit, Sentimentalität, Verlogenheit, Infantilität, Nebel, Dusel, Luxus, Unverständlichkeit, Weltferne, Vorgestrigkeit, Eskapismus, Täuschung, Affektiertheit, Abstrusität. Tatsächlich könnte jeder dieser Begriffe ertragreich diskutiert werden und erbrächte ein tüchtiges Stück Lyriktheorie. Denn jeder reagiert auf bestimmte Eigenschaften und Tendenzen des Gedichts. Nur wischt das platte Urteil diese vorschnell vom Tisch, statt sie in ihrer intellektuellen und ästhetischen Provokation zur Kenntnis zu nehmen. Gerade das Phänomen der Abschreckung müßte an der Lyrik so sorgsam untersucht werden wie an den Flügeln des Tagpfauenauges, auch wenn es hier um das Überleben einer Sehmetterlingsart, dort um die Gewinnung talentierter Leser geht.
Sechzig Solitäre. Die vielen Lyriktheorien und Musterinterpretationen, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, haben zu keinem Verfahren geführt, das sich auf alle diese Texte gleichermaßen resultatsicher anwenden ließe. Die Arbeit des Deutens, die das Gedicht nicht als Gerät für methodische Kunstturner versteht, sondern als eine Aufgabe der Erkenntnis und der Vermittlung zugleich, des Werbens um die Verse wie auch um ihre Leser, muß sich von Mal zu Mal etwas einfallen lassen. Die vielerlei Listen, mit denen das Gedicht seine Sinnzusammenhänge anzeigt und versteckt, erfordern Gegenlisten. Einem Text, der sich als poésie pure versteht, kann man unter Umständen biographisch beikommen und einem Text, der sich als privates Bekenntnis gibt, mit formalen Kategorien. Was zählt, ist allein das Resultat. Darüber entscheiden die Leser.
Die Form der Kleinen Deutung ist keine Erfindung des Verfassers. Sie ist Marcel Reich-Ranicki zu verdanken, der 1974 die Frankfurter Anthologie begründet hat und sie bis heute leitet. Die meisten Interpretationen des vorliegenden Bandes wurden für diese wöchentliche Reihe in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geschrieben. Auch wenn es noch keine Theorie der Kleinen Deutung gibt, ist diese doch zu einer unverwechselbaren Gestalt der literarischen Kritik und Auslegung geworden. Sie zieht viele Literaturwissenschaftler an, andere lehnen sie grimmig ab. Der Verfasser des vorliegenden Buches war dem Spiel verfallen, seit er 1982 mit Chamissos „Tragischer Geschichte“ den ersten Versuch machte. Er verdankt Marcel Reich-Ranicki manchen wertvollen Hinweis, bald auf einen Patzer, bald auf einen übersehenen Zusammenhang, auch viele konkrete Text-Vorschläge. Wem, wenn nicht ihm, sollte dieses Buch gewidmet sein?
Peter von Matt, Vorwort, Sommer 2008
mit List und Tücke bringt Peter von Matt Gedichte und Leser zusammen. Einer der intelligentesten und witzigsten Interpreten der kleinen Form erschließt uns in diesem Buch sechzig lyrische Fundstücke oder Klassiker. Elegant nähert er sich der Lyrik, und jedes Mal lockt er den Leser auf eine Fährte für eigene Gedanken: zu den Schönheiten der Natur, zu Politik und Gesellschaft, zu Vergänglichkeit und Tod, zur Liebe in ihren tausend Formen. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart reicht die Liste der vorgestellten Gedichte: ein Konzentrat deutscher Dichtung, voller Wertschätzung für Berühmtes und mit offenen Augen für Entdeckungen auf den Seitenwegen.
Carl Hanser Verlag, Ankündigung
– Sechzig Gedichte, sechzig Charaktere, sechzig Versschicksale: In seinem neuen Buch Wörterleuchten bringt Peter von Matt deutsche Lyrik zum Glühen. In der hohen Kunst, das Schwierige einfach erscheinen zu lassen und das Verborgene sinnfällig zu machen, ist er ohne Konkurrenz. –
Peter von Matt hat Glück mit Titeln. Seine Buchtitel locken unsere Neugier, unser spontanes Interesse an. Liebesverrat handelt von den Treulosen in der Literatur. Wen berührt das nicht? Die verdächtige Pracht lässt uns fragen, was es mit der Schönheit in der Poesie auf sich hat. Nun aber lädt Wörterleuchten zur Lektüre von Gedichten ein. Der Titel wirkt wunderbar selbstverständlich. Man muss freilich darauf kommen.
Dass Wörter leuchten, klingt ebenso atmosphärisch wie epiphanisch. Ein Wetterleuchten scheint nicht fern. Oder gar der Blitz von Erkenntnis oder Wandlung. Man weiß aber auch, dass Erleuchtungen kurz sein müssen. Sie vertragen keine Umständlichkeiten. „Nimmt am wenigsten Platz weg“, hat T.S. Eliot als Vorteil der Lyrik benannt – eine Maxime, die auch für den Interpreten gelten sollte. Fasst er sich kurz, kann er womöglich dem Epiphanischen der Poesie nahekommen.
Vorbild Frankfurter Anthologie
Zwei Seiten gibt die Frankfurter Anthologie dem Interpreten für die Deutung eines Gedichts. Man kann diese Beschränkung auch sportlich nehmen. Peter von Matt spricht von einer stilistischen Schussfahrt. In den letzten zwei Jahrzehnten hat er sechzig kleine Deutungen geschrieben, die meisten für die Frankfurter Anthologie. Sechzig „Solitäre“, wie er sie doppelsinnig nennt. Es sind einzeln gefasste Edelsteine, Diamanten. Oder auch Baumriesen, freistehend vor dem großen Wald der deutschen Lyrik.
Wo solche Solitäre sind, ist Schönheit. Die Moderne aber hat das Schöne unter Verdacht gestellt. Vor allem in der Lyrik. Seit Hugo Friedrich glauben wir zu wissen, dass moderne Lyrik dissonant, unpersönlich und hässlich ist. Jeder etwas versiertere Lyrikleser kennt Baudelaires Gedicht, das den schillernden Glanz der Fliegen auf einem Stück Aas feiert. Er weiß auch, dass Günter Eichs „Latrine“ hundert Jahre später „Hölderlin“ auf „Urin“ reimt und den stinkenden Graben umschwirrt sieht „von funkelnden Fliegen“.
Ach, ist das schön!
Peter von Matt betreibt eine Revision. Vor gut zehn Jahren schon hat er die „verdächtige Pracht“ der Poesie gerechtfertigt. „Das Gedicht will schön sein“ heißt es dort; und dieser Wille zur Schönheit gilt ihm als anthropologisches Ereignis, das keine Theorie anfechten kann. Nach dieser Verteidigung der Poesie kann er sich heute zu dem Vergnügen bekennen, das ihm das Schreiben seiner Deutungen bereitet hat. Nicht um „methodische Kunstturnerei“ geht es, sondern um Erkenntnis und Eros.
Von Matt sieht sich als Werber. Er wirbt um den Text wie um den Leser. Er nennt sich „matchmaker“, Ehestifter. Als solcher darf er sich Listen und Freiheiten herausnehmen. Nicht alles und jedes möchte er verkuppeln. Er fühlt sich frei von Kanon und Poesiegeschichte, frei von der Verpflichtung zu Größe und Bedeutsamkeit. Auch die minderen Solitäre verdienen Liebe und Beachtung.
Wink mit dem Zuckerkräutlein
So gleich das erste Gedicht seiner Sammlung; eines aus dem wenig ergiebigen vierzehnten Jahrhundert. Es ist das anrührende „wol mich der stunde“ des fast verschollenen Heinrich Hetzbold von Weißensee. Aus ihm nehmen wir mit, dass ein schöner Frauenmund, der langsam „viunviu“ (Fünfe) sagt, etwas ungemein Sinnliches haben kann. Auch das Liebeswörtlein „zuckerkrûtken“ (Zuckerkräutchen) rückt uns nahe; als Kosewort aus einer Zeit, als der Zucker noch kostbar war. „Schon beginnen die Laute wieder zu leben“, schließt der Interpret.
Er hat überhaupt ein Faible für Liebesglück und Liebesnot und bringt dafür frappierende Beispiele. So fragt Johann Christian Günthers „Als er der Phillis einen Ring mit einem Totenkopfe überreichte“: „Wie reimt sich Lieb und Tod zusammen?“ Von Matt sieht in dem wahrhaft seltsamen Brautgeschenk ein großes Kompliment. In der Zumutung zeigt sich ihm ein Stück aufgeklärter Philosophie, die „tapfer und leicht“ ist.
Die Tragik hinter der Schönheit
Manchmal freilich reimen sich Liebe und Tod auf eine Weise, in der wir die Zumutung nicht mehr erkennen. Goethes populäres und harmlos scheinendes „Heideröslein“ erhält bei von Matt ein fast bestürzendes Gesicht. Er sieht es als einen schauerlich barbarischen Gesang, der Schönheit und Schändung zynisch paart: „Mußt es eben leiden.“ Und so stößt der Interpret auch in der Lyrik des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts auf die Spuren von Barbarei in der bürgerlichen Liebeskultur. Die erotischen Lockwesen wie Mignon oder Loreley entfalten eine untergründig tragische Komponente. In der bürgerlichen Realität bleibt der liebenden Frau die Resignation. Die Droste rettet ihr eingekerkertes Leben in die poetische Schöpferkraft. Sie stirbt „versungen und versengt“.
Fasziniert und faszinierend schreibt von Matt über den Liebesverrat. So über die „Dschungelliebe“ der Lasker-Schüler und Gottfried Benns: „Kaum lagen die beiden zusammen, schrieben sie auch schon darüber.“ Doch auch in den emanzipiertesten Verhältnissen gibt es eine moralische Grenze – oder doch in der literarischen Moral. „Du machst mir Liebe: blutigelhaft“, schreibt Benn, der die Freundin offenbar loswerden wollte, in einem Gedicht; und von Matt kommentiert – und man kann nur bestürzt zustimmen –: „Die Metapher über ihre Art zu lieben, ist abscheulich.“
Blick ins Herz
Der Liebesverrat beginnt in der Sprache – und dort findet sich alles andere an Größe und Elend auch: Schönheit und Kitsch, Klang oder Misslaut. Von Matt genügen wenige Hinweise, um den Kunstcharakter eines Gedichts ins Licht zu rücken. Er zeigt, wo Heine oder Mörike gegen das Metrum verstoßen mussten. Oder warum dem österreichischen Emigranten Theodor Kramer Reim und Strophe zur einzigen Heimstatt wurden. Ich habe noch keine Deutung von Celans „Todesfuge“ gelesen, wo der Verweis auf den einzigen Reim des Gedichts („Sein Auge ist blau / er trifft dich genau“) so zwingend scheint: „Er steckt im Gedicht wie die Kugel im Erschossenen.“
Auch das Phänomen, dass mittelmäßige Poesie eine merkwürdige Unsterblichkeit genießt, findet in von Matt einen Deuter, der uns die Augen für unsere Sentimentalitäten öffnet. Wir begreifen, warum der sonst vergessene Hermann von Gilm mit einem einzigen Gedicht überlebt. „Und laß uns wieder von der Liebe reden, wie einst im Mai“, heißt es da; und von Matt macht deutlich, was uns daran berührt: unser unerschöpfliches Bedürfnis, von Liebe zu reden, wie kindlich und nonsenshaft auch immer.
Ähnlich unsterblich ist Hermann Hesses „Seltsam im Nebel zu wandern“. Wer diese seine Jugendliebe heute banal und gemeinplätzig findet, bekommt zu lesen, was ihn einst so faszinierte: die Vorstellung, zu den Einsamen und daher Weisen zu gehören. „Gar kein so schlechtes Geschenk“, so von Matts ironischer Bescheid, ein feiner Stich in unsere Eitelkeit.
Entdeckungen hinter dem Vorurteil
Das Konventionelle erweist sich als zäh, das Bedeutende, sofern es abseitig scheint, hat es schwer. Auch wer den Sprachkritiker und Satiriker Karl Kraus liebt, hält ihn kaum für einen großen Lyriker. Zumal wenn Kraus mit einer doppelten Zumutung aufwartet: mit einem Gedicht an den Schnittlauch, das in der ernsten Form der alkäischen Ode gehalten ist. Von Matt vermag das Schwierigste: Er zeigt, dass dies vor den Schlachten und Propagandalügen des Ersten Weltkriegs geschriebene Gedicht im Motiv der Pflanze das berührende Sinnbild des Heilen findet. Hier zeigt sich der sonst so konziliante Interpret unmissverständlich entschieden: „Wer das unpoetisch findet, sollte seinen Poesiebegriff überdenken.“
Peter von Matts großartiges Wörterleuchten ist mehr als ein Buch mit klugen und elegant geschriebenen Interpretationen. Es hat ein gar nicht so geheimes Zentrum. Ihr Verfasser muss es nicht eigens bezeichnen, und kein aufmerksamer Leser kann es verkennen. Das Schöne, wie es in den Interpretationen aufscheint, ist mehr als ein ästhetisches Phänomen, ein Produkt von Inspiration und Kunstfleiß. Es hat mit Wirklichkeit und Wahrheit zu tun. Manchmal geben die Schlüsse der Deutungen einen Wink. Am deutlichsten vielleicht aus Anlass von Rühmkorfs Gedicht „Außer der Liebe nichts“. Da wird der Ironiker Rühmkorf einmal fromm und bekenntnishaft. Von Matt erkennt in Rühmkorfs Gedicht den Stolz des Sprachmächtigen, der die Wirklichkeit der Welt in sein Wort zu holen vermag. Mit jener Entschiedenheit, die er bei Karl Kraus gezeigt hat, folgt ihm der Interpret: „Wir spüren die Wucht der Wahrheit.“ Der Dichter ist ihrer nur poetisch teilhaftig. Auch der Deuter besitzt sie nicht. Er kann sie aber im Wörterleuchten aufscheinen lassen – als jene profane Erleuchtung, die uns alle angeht.
Sechzig Gedichte. 600 Jahre deutsche Literaturgeschichte. Von Heinrich Hetzbold von Weißensee über Schiller bis zu Monika Rinck. Peter von Matts kleine Deutungen deutscher Gedichte, meist verfasst für die Frankfurter Anthologie, sollten nicht im Bücherregal Platz finden – auch wenn sie sich dort gut ausmachen würden, keine Frage. Vielmehr sollten sie ständiger Begleiter sein. Auf der Parkbank. Auf Reisen. Dem Schweizer zu lauschen, wie er Bekanntes, Goethes „Heidenröslein“ etwa, durch einen gewieften Dreh neu aufschließt und weniger Geläufiges, etwa die inneren Landschaften eines Alexander Xaver Gwerder, ins Bewusstsein rückt, beglückt. Selbst der Kenner wird noch Aha-Erlebnisse haben und an der federnden Stilistik seine reinste Freude. „Die Dichtung gehört zum Planeten wie Blitz und Donner“, heißt es einmal. Wörterleuchten eben.
– Kaum jemand schreibt so unterhaltsam über Literatur wie der Schweizer Germanist Peter von Matt. Hier leuchtet nicht nur die Poesie, sondern auch ihre Deutung. –
Über Gedichte schreiben ist schwierig. Kurz und verständlich über Gedichte schreiben ist noch schwieriger, und der Gipfel des Schwierigen ist erreicht, wenn man das tun soll, obwohl man alles über Gedichte weiß. Dann sitzen die meisten Gelehrten im Schlamassel statt auf Berges-Höh’n, und es gelingt ihnen nicht, über den Wissensqualm hinweg auf den Text zu schauen wie am ersten Tag.
Peter von Matt kann das. Seit Jahrzehnten lebt er droben im Licht, eingemummelt in Bücher, und gibt sich der Lust hin. Der fabulierenden Deutungslust, genauer gesagt, und ‚fabulieren‘ heißt hier nicht: schwadronieren oder mit Belesenheit auftrumpfen. ‚Fabulieren‘ heißt: dem Leser etwas erzählen, spannend und wie nebenbei, um ihn auf Augenhöhe mit dem poetischen Text zu hieven. Eine Faktenzufütterung also, aber auch ein Hinweisen und Aufmerksam-Machen, etwa auf die kritischen Untertöne eines Gedichts, seine besonders geglückten Wortzaubereien oder seine Schwächen. Lauter kleine Stupser sind das, lauter Ermunterungen: Schau und hör doch mal, was aus dieser Strophe spricht, wie doppeldeutig oder sehnsüchtig oder herzzerreißend es ist. Lass dich in die Wörter fallen, die Poesie fängt dich auf, und was du schon fühlst, aber nicht genau benennen kannst, flüstre ich dir jetzt ins Ohr.
Sechzig „Solitäre“ (von Matt) enthält der Band, vom 14. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Die zugehörigen Deutungen beschränken sich auf zwei Seiten, der Autor nennt sie „klein“. Das ist natürlich sehr bescheiden, „konzentriert“ wäre wohl treffender, klänge aber längst nicht so einladend. Hören wir mal ein paar O-Töne:
Die Mystik des Spätmittelalters charakterisiert von Matt als „herzheißes Denken“. Der Barockdichter „hört schon die Sense sausen… Er lebt in einem gleißenden Jetzt am Rande der Nacht.“ Kann man Epochen treffender charakterisieren? Zu Eichendorff gehört die „Untergangslandschaft“, die nur zwei Möglichkeiten kannte, „den herrlichen Aufbruch in die Katastrophe oder das philiströse Verharren in einem sinnlosen Jetzt.“ Über die Schlußzeile eines Benn-Gedichts heißt es: „Das Unvergängliche ist als Musik zu denken. Wer widerspricht?“
Niemand. Und niemand wird ohne Bewunderung bleiben für all die Formulierungen, die des Lesers dumpfes Ahnen in die Klarheit führen. Auch für Erheiterndes und Grimmiges ist Platz. So wird endlich die Frage beantwortet, warum Heines „Belsatzar“ die populärste aller Balladen ist: Die Lehrer lieben sie als „die ins Mythische gesteigerte Darstellung einer Schulklasse…, wo der Lehrer vorübergehend fehlt.“ Die Schüler als Knechte, ihr Rädelsführer als Barbarenkönig, den die Strafe ereilt. Und die göttliche Schrift an der Wand? „Wunderbar, wie hier des Lehrers eigenstes Medium zur Apotheose findet. Die Tafel…“ Herrlich! Wären Sie je darauf gekommen?
Im zwanzigsten Jahrhundert liebten die Lesebücher dann kaum ein Gedicht so unisono wie Enzensbergers „Ins Lesebuch für die Oberstufe“ mit seiner nervtötenden Imperativ-Häufung und anmaßenden Besserwisserei. „Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne“ – welcher Abiturient wäre davon verschont geblieben? Lapidar konstatiert von Matt:
Die Fahrpläne haben gesiegt.
Leider, sage ich.
Auf diese Weise könnten wir fort und fort zitieren und preisen. Doch das wäre wohl kaum im Sinne des Schweizer Meisters. Fassen wir uns lieber kurz, winken dankbar hinauf zu seinem Ausguck und pflanzen, frisch erleuchtet, einen Schlusspunkt in die Ebene.
Der Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt erschliesst 60 deutschsprachige Gedichte. Die meisten Interpretationen wurden über 20 Jahre hinweg für die Frankfurter Anthologie geschrieben, eine wöchentliche Reihe in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dem verdanken die einzelnen Deutungen ihre Kürze von nicht mehr als zwei Seiten. Was macht dieses Buch zu einem Buch des Monats der Bibelpastoralen Arbeitsstelle?
1.
Die überraschende Häufigkeit mit der von Matt biblische Bezüge in den einzelnen Gedichten entdeckt und würdigt. Liebesgedichte führt er auf das Hohelied Salomos zurück „mit dem alle Liebeslyrik beginnt und über das sie nie hinauskommt“ (S. 16 und 136). Goethes „Philine“ ist ein tollkühner Kommentar zu einer Stelle aus der Bergpredigt, Matthäus 6,25–34 (S. 38). Die Metaphern in Regina Ullmanns „Alles ist sein…“ stammen aus dem Buch Jona. Der brennende Dornbusch aus Ex 3 taucht in den „Brüder Grimm“ von Günter Eich (S. 152) und in Friederike Mayröckers „an eine Mohnblume mitten in der Stadt“ (S. 189) auf. Christine Levant hat ein „Weihnachtsgedicht der finstersten Art“ (S. 180) geschrieben, dessen Deutung von Matt mit dem Titel versieht: „Die Krippe am Eismeer“. Es gibt unter den 60 Gedichtdeutungen mehr solche mit biblischem Bezug als ohne und dass ohne dass der biblische Bezug in irgendeiner Weise als Auswahlkriterium thematisiert wird. Offensichtliche bewahrheitet sich der Grundsatz: Gedichte verstehen ohne Bibelkenntnisse ist unmöglich.
2.
In der Auslegung von Ernst Jandls Lautgedicht im Wiener Dialekt, „waunsas wissen woiz sai greiz“, einem Gedicht über die Kreuzigung, scheibt von Matt:
Die Passion Christi, von tausend Bildern zugedeckt, ein Stereotyp unter Stereotypen, verstaubt, abgelagert auf dem Dachboden der europäischen Kultur, in den Museen ein ewiges Déjà-vu…, hier bricht sie als furchtbare Wirklichkeit durch den dadaistischen Vorhang.
Von Matt erkennt die Leistung dieses Gedichtes darin:
Es macht uns etwas längst Bekanntes zum ersten Mal bewusst (S. 195).
Diese Leistung wiederum erbringt von Matt für uns an der Bibel Interessierte, indem er nicht nur biblische Bezüge in den Gedichten aufdeckt, sondern ins Wort bringt, wie die biblischen Motive, ihre Haltungen zum Leben, ihr Glauben, in den Gedichten aufgenommen, interpretiert, weitergeführt, kritisiert, in neue Kontexte gebracht u.v.m. werden. Scheinbar längst Bekanntes wird dadurch neu („zum ersten Mal“) bewusst.
3.
Im Vorwort reflektiert von Matt über sein eigenes Tun. Was er hier schreibt, eignet sich meiner Meinung nach bestens zum Leitbild für Menschen, die sich in der Bibelpastoral betätigen. Von Matt vergleicht sich selbst mit einem „Matchmaker“, einem der alten Heiratsvermittler. Sein Tun beim Deuten der Gedichte ist ein zweifaches Werben, „ein Werben um das Gedicht, um die Sinnzuammenhänge im Wörterleuchten, und zugleich ein Werben um den Leser für das Gedicht“ (S. 12). Er will das Zusammenfinden von Leser und Gedicht ermöglichen und dazu sind ihm viele Mittel recht. Er arbeitet „mit Tricks gegebenenfalls, mit Schmeicheleien, faustdicken Lobreden, diskreten Hinweisen auf versteckte Reize, mit schnellem Schimpfen zwischendurch und hartnäckigem Aufdecken des Scharfsinns im Text“ (ebd.). Seine anschliessenden Reflexionen über den Zusammenhang von Gedicht und Gesicht, beides begrenzte Flächen mit unendlich sprechendem Inhalt, zu deren Wesen auch gehört, dass sie erschrecken können, die beide ihre Wahrheiten verstecken, deren Vorhandensein aber energisch anmelden (S. 12f.) sind aufs Engste verbunden mit biblischer Theologie und Sprache. Von Matt formuliert als Ziel seines Tuns etwas, was ich mir und allen, die die biblischen Texte und Traditionen heute erschliessen helfen wollen von Herzen wünsche: „die Gewinnung talentierter Leser“ (S. 14).
4.
Die Kürze der Deutungen, die die Frankfurter Anthologie vorgibt, ist für von Matt ein reizvolles Spiel, das er souverän und lustvoll spielt. In dieser Kürze und Dichte Bibeltexte auszulegen, ist eine grosse, reizvolle und produktive Herausforderung.
Wörterleuchten: Peter von Matt interpretiert 60 deutschsprachige Gedichte. Lessing ist natürlich dabei, auch Goethe, Schiller, von Eichendorff. Wer aber kennt Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau und/oder sein Sonett „Vergänglichkeit der Schönheit“? Zeit, schreibt Peter von Matt, habe aus heutiger Sicht vor dreihundertfünfzig Jahren noch keine Rolle gespielt.
Und entlarvt das aktuelle Lamento über den Verlust der Langsamkeit alsbald als Gemeinplatz. „Dieses Gedicht“, so von Matt über Hoffmanns Sonett, „sagt etwas ganz anderes. Es erlebt die Zeit als ein Dahinrasen, das alles in den Schatten stellt, was wir als die Geschwindigkeit unserer Gegenwart beklagen.“ Bis eben „Der wohlgesetzte Fuß / Die lieblichen Gebärden / Die werden theils zu staub / Theils nichts und nichtig werden“.
Ganz anders Else Lasker-Schüler. Ihre Gedichte scheinen für alle Ewigkeit in Gefühl gegossen, Gefühle, wie sie andere Dichter (einschließlich der Epigonen Lasker-Schülers) in dieser Intensität kaum hervorzubringen vermochten. Dabei blieb gerade der Jüdin Else Lasker-Schüler vergleichsweise wenig Zeit, für ihre Ehen etwa, oder ihre Beziehung zu Gottfried Benn, 1913. „Man sprach davon in den intellektuellen Kaffeehäusern Berlins und erwartete die Akteure gegen Abend. Es war Europas letzter glücklicher Sommer“, schreibt von Matt, und:
In den Zeitschriften loderte der Expressionismus und versprach sich von der Zukunft, was sie nicht halten sollte. 700.000 junge Männer hatten noch nie von Verdun gehört, wo sie einander wenig später alle umbringen mussten.
„60 Solitäre.“ Von jedem dieser Gedichte sei er „beim Schreiben tagelang wie besessen“ gewesen, so von Matt, „die Verse wühlten ihm im Gehirn.“ Was sie verbinde, sei die Zuneigung des Deuters, steht im Vorwort des Wörterleuchtens. Dieses beschreibt etwa die „unverhoffte Herrlichkeit“ in Friederike Mayröckers „an eine Mohnblume mitten in der Stadt“ oder ein „Trümmermärchen“ in Günter Eichs „Brüder Grimm“. Von Matt deutet Ernst Jandls Lautgedichte – „waunsas wissn woiz“ –, und ihn beschleicht bei Matthias Claudius „Kriegslied“ „der bittere Verdacht“, dass ein Krieg „der phantastischen Glorie (.) die jämmerliche Wirklichkeit der Verstümmelten und Verröchelnden“ gegenüberzustellen vermag.
Fehlen darf natürlich nicht Heinrich Heines Spott (über den kleinen Philister zu Stukkert am Neckar). Heine, dessen Sterben jahrelang dauerte, „weiß sich unsterblich in seinem Werk“.
Von dieser sehr hübsch aufgemachten Anthologie ist man sogleich entzückt. Bleistifte zeigen auf den Titel, und auf jedem Bleistift ist einer der im Inneren genannten Lyriker verewigt.
Fängt man zu blättern an, dann ist man hoch erfreut, unter vielen bekannten Dichtern auch solche zu finden, die so gar nicht gängig sind. Hermann von Gilm zu Rosenegg mit seinem traurig melancholischen Gedicht „Allerseelen“ springt sogleich ins Auge:
Stell auf den Tisch die duftenden Reseden,
Die letzten roten Astern trag herbei
und lass uns wieder von der Liebe reden,
Wie einst im Mai.
Der Refrain „wie einst im Mai…“ von Rosenegg ist gängige Redensart, wenngleich er, ein Zeitgenosse von Fontane, Keller und Strom, nicht mehr gegenwärtig scheint.
Zart und einfühlsam erläutert Peter von Matt die seltsamen Wege der Unsterblichkeit. Er führt aus, wie viele Lyriker der Vergessenheit anheim gefallen sind wie z.B. der Dichter Hoffmann von Fallersleben. Dabei ist sein Lied „Deutschland Deutschland über alles“ und „Ein Männlein steht im Walde…“ nie vergessen worden.
Unbekannt auch ist das Gedicht von Ferdinand Raimund „Das Hohelied“. Die fast lakonisch-komische letzte Strophe lautet:
Zeigt sich der Tod einst mit Verlaub
und zupft mich: Brüderl, kumm!
Da stell ich mich im Anfang taub
Und schau mich gar nicht um.
Doch sagt er: Lieber Valentin!
Mach keine Umständ! Geh!
Da leg ich meinen Hobel hin
Und sag der Welt Adje.
Wenn einem da der Abschied nicht leicht wird!
Von Goethe über Eichendorff, von Lessing über Hölderlin und von Jandl bis Fr. Mayröcker, Bachmann und Conrad Ferdinand Meyer, auch Paul Celan darf nicht fehlen, reicht die Sammlung. Die Prosa mit den Interpretationen von Peter von Matt ist genauso lesenswert, wie die Gedichte: sie ist intelligent und weise, klug und feinsinnig und zeugt von der hohen Bildung des Autors. Man gerät ins Schwärmen, wenn man mit den Augen durch das Inhaltsverzeichnis wandert und kann vom Blättern und den Reimen nicht lassen! Das edle Geschenk eignet sich für alle Gelegenheiten und wird den Freund der Lyrik und bibliophiler Ausgaben erfreuen.
– hilfreiches Licht für Interpretationen. –
Wörterleuchten – wer diesen Titel gewählt hat, kann es einfach nicht treffender benannt haben, was Peter von Matt hier zusammengestellt hat. Die Leuchtkraft der Gedichte und der oft so leise dazwischen gesetzten Worte, kommt bei den glänzenden Deutungen vielstrahlig zum Ausdruck.
Die Interpretationen der sechzig deutschen Gedichte von über dreißig Schriftstellern (hiervon immerhin zehn Schriftstellerinnen!) sind überschaubar, gut verständlich und greifen unterschiedliche Interpretationsformen auf, die mal mehr die Autoren/-innen einbeziehen, mal mehr den entsprechenden Zeitgeist und wiederum ein anderes Mal dezidiert die einzelnen Worte herausgreifen und in Deutungsmuster bringen. Peter von Matt schafft es, ein reiches Repertoire unterschiedlicher deutscher Dichtkunst auszuschöpfen und hierbei eine gesunde Mischung schafft zwischen bekannt-bewährten Gedichten („Im Nebel“ von Hermann Hesse; „Kriegslied“ von Matthias Claudius, „Belsatzar“ von Heinrich Heine oder „Todesfuge“ von Paul Celan) und eher unvertrauten Werken selbst berühmter Dichter/-innen. Diese Sammlung macht damit aus diesem Deutungsband keine abgegriffene „Gedichte und ihre Deutungen – Best-of-Sammlung“, sondern lädt zum Schmökern ein zwischen den hier berücksichtigten Gedichten und ihren Deutungen auch mal wieder längst „verstaubte“ Anthologien herauszugreifen und andere persönliche Interpretationen für sich zu finden.
Ob nun Mittelalter oder jüngste Literatur: Peter von Matt versteht es hier ausgewogen wertvolle Schätze zu heben und macht neugierig auf mehr. Für findige Lyrikfreunde/-innen wäre es noch gut gewesen, ein alphabetisches Verzeichnis der Gedichte und der Autoren/-innen sowie jeweils ein kurzes biographisches Statement anzulegen.
Alles in allem aber ein ausgezeichnetes Werk mit dem so passenden Umschlagbild der bunten Stifte mit den Schriftsteller/-innen-Namen. Wenn es das noch nicht gibt, sollte sogleich eine Stifteschachtel entwickelt werden, die neben den bunten Stiften auch noch je ein Gedicht enthält… In diesem Sinne ist der wunderbar im Layout und vom Umschlag her gestaltete Band gleich einer Forschungstaschenlampe, die Gedichte finden hilft, ihre jeweilige Gestalt erhellt und so manches Mal einen dazu bringt, wieder nach den Leuchtsternen deutscher Lyrik am unendlichen deutschen Literaturhimmel zu greifen.
Sie waren der Schrecken in der Schulzeit: Gedichtinterpretationen. Im Literaturunterricht waren sie das am meisten gefürchtete Aufsatzthema. Was will der Autor uns mit dem Gedicht sagen? Analysieren Sie die Aussage des Gedichtes genauer! Werten Sie das Gedicht vom heutigen Standpunkt aus!… O Graus, wie zermarterten wir uns die Köpfe damit. Nicht, dass uns Goethes „Osterspaziergang“ oder Schillers „Der Taucher“ missfielen – aber interpretieren, kommentieren und analysieren?! Nein danke, nie wieder Gedichtinterpretationen!
Aber nun doch wieder… und zwar mit Freude. Der Literaturprofessor und mehrfach ausgezeichnete Autor zahlreicher Bücher Peter von Matt (Jg. 1937) stellt in Wörterleuchten sechzig Gedichte vor, vom Mittelalter bis zur zeitgenössischen Lyrik und präsentiert so an wenigen Beispielen das breite und volle Spektrum deutscher Dichtung. Vorgestellt und erläutert werden natürlich Klassiker wie Goethe, Schiller, Hölderlin, Heine oder Brecht, aber auch kaum bekannte Lyriker mit interessanten Versen finden Beachtung.
Zunächst wird der Leser mit dem jeweiligen Gedicht vertraut gemacht. Dem Originaltext folgt dann eine kurze und prägnante Interpretation, die auf die lyrische Sprache und die Besonderheiten des Textes eingeht. Daneben werden auch literaturgeschichtliche und historische Hintergründe beleuchtet, ja sogar Mehrdeutigkeiten und versteckte Geheimnisse aufgespürt.
Peter von Matt entpuppt sich als ein Meister der kleinen Form. Glänzend geschrieben, nicht hochwissenschaftlich, sondern einfallsreich und oftmals neue, unbekannte Gesichtspunkte erwähnend, sind die Texte eine wunderbare Lyrikeinladung. Dabei findet der Autor auch zu eigenen Gedanken über die Schönheit der Sprache, über die Natur, die Liebe und den Tod.
Es ist ein wahres Vergnügen, diese Gedichtdeutungen (klingt viel besser als Gedichtinterpretationen) zu lesen, denn sie bringen die Gedichte gewissermaßen zum Leuchten. Die meisten Texte des vorliegenden Bandes entstanden für die bereits 1974 durch Marcel Reich-Ranicki begründete Frankfurter Anthologie. Diese Reihe deutschsprachiger Gedichte mit Interpretationen erscheint seither wöchentlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seit 1998 wird jährlich der Preis der Frankfurter Anthologie an einen ihrer Interpreten verliehen. Peter von Matt war der erste Preisträger.
Fazit: Ein unterhaltsames und anregendes Buch, dass den Leser wieder zum Gedichtband greifen lässt und ihn anregt, zu eigenen Deutung und Auslegungen zu finden. Ein Plädoyer für die Poesie!
Zum Schluss eine persönliche Bemerkung: Mein Lieblingsgedicht war und ist Schillers Ballade „Die Kraniche des Ibykus“ (23 Strophen!). Nach fast fünfzig Jahren kann ich sie noch auswendig. Es lebe die Lyrik!
Wörterleuchten ist ein sehr treffender und zudem inspirierender Blick in die Deutung von Lyrik. Von Matts nur als „kleine Deutung“ vorangestellte Miniaturisierung seiner Arbeit trifft dagegen nicht. Sollte er meinen, dass er nur kurze, gedankliche tiefe Deutungen beitrage, dann sind sie klein, so klein, wie die Fläche eines Gedichtes. Denn ein Gedicht versteht sich als große Aussage aus kleinem Raum, als verdichtete fünfte Essenz, und doch bereit, vom Leser in neue Sphären gehoben zu werden. So spricht der Autor zu recht von klein im Sinne der Größe der Lyrik, von der Größe der Gedichte und deren Bedeutung.
Wer ausgiebig das Vorwort studiert, wird freudig aufnehmen, dass nur ein Buchstabe im Wort Gedicht getauscht werden muss, um auf die Sinne zu kommen. Das „d“ wird zum „s“ und mit dem Vergleich, das auch ein Gesicht doch nichts anderes ist als eine kleine Fläche, jedoch mit größter Ausstrahlung und vielfältiger Deutung, verbindet sich das Hören, Sehen, Schmecken, Fühlen, Riechen mit dem Wahrnehmungen, die die Sprache eines Gedichtes vermitteln kann und auch bei inniger Beteiligung dem Leser vermittelt.
Peter von Matt bespricht in diesem Band Gedichte über Jahrtausende. Dieses Ineinanderweben der Zeiten, von dem im Grünen Heinrich die Rede war, taucht hier auf. Der Mensch ist dort Mensch wo er spricht, aber Herder formulierte es noch besser: „Schon als Tier hat der Mensch Sprache.“ Doch diese lapidare Aussage fordert eine Erklärung, die über Dschungelkonzerte hinaus geht. Peter von Matt hat in einer Grussrede in Luzern von dem Menschen als geschichtenerzählendes Tier gesprochen. Der Mensch, fähig Geschichten zu erzählen, weiß von Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne und übertrifft diese Ambivalenz der Erzählung in der Präzision der Lyrik. Hier wird Sprache fast gepresst, dass Weiße zwischen den Worten erhält Sinn vom Leser, sofort und sehr prägnant. Die Zeilen der Gedichte, zumindest mancher, bieten eine Evolution der Wahrnehmung, der Empfindung und der Wahrheit. Sie beweisen sich im Widerspruch, dem das Paradoxe der Ergänzung anhängt. Erst in beider Sicht ergibt sich das Ganze, dieses zu Erleben in den Gedichten selbst oder in den Ausführungen und Deutungen eines großen Literaten wie von Matt ist pures Vergnügen für den Interessierten, den Wissenden und den Sich-Einlassenden.
Schillers „Spielender Knabe“ ist so ein Beispiel, in dem das Wissen, dass Mensch nur dort Mensch sei, wo er spielt, übertragen wird auf die Kindheit auf des Mutters Schoß, wo eben die Sorge nicht zu finden ist. Und dann erfolgt der Wechsel vom willigem Mut zu einer gebieterischen Pflicht zur ernsten Arbeit, die den Impetus von freiwilliger, aus dem Innern erwachsener Lust und deren Mut nicht mehr kennt. Und so spielt dieses Gedicht als Beispiel für viele auf die Existenz an, die von fröhlichem Trieb, von üppiger Kraft und willigem Mut spricht und nicht mehr will, als zu zeigen, dass Lust aus tätigem Dasein erwächst.
Und auch wird deutlich, dass Vorgabe und Befehl Lust zerstören, dass befohlene Pflicht die eigene selbsternannte Pflicht zunichte macht und dass diese Pflicht von außen jedes Glück verletzt. Von Matt verweist darauf, dass man hier ein aufständisches Manifest lesen kann, zumindest es so interpretieren könnte. Dass er in dieser Zeit den aktuellen Wertewandel (Employer Branding) aus einem Gedicht erkennt, welches aus dem späten 18. Jahrhundert kommt ist verwunderlich und doch auch nicht. Hat nicht Literatur immer ihre Vorgänger und ihre Nachfolger? Und macht nicht erst die Erzählung, das Gedicht in seiner Klarheit die Welt und die Wirklichkeit verständlich? Und können wir nicht zurecht auch heute noch vom Ineinanderweben der Zeiten sprechen, wie es einst Gottfried Keller tat? Und der Leser nimmt teil an diesen flüchtigen Gedanken und damit an den Erfahrungen derer, die schon im Licht der Welt getanzt haben und trägt sie in die Zukunft, wohlwissend, dass er durch dichterische Teilhabe bereits älter ist, als er denkt.
Blättert man das Buch durch oder liest die Quellennachweise, so begegnen einem etliche bekannte Namen – Lessing, Goethe, Schiller, Hölderlin, Eichendorff, Heine, Rilke, Brecht, Enzensberger, um nur einige willkürlich zu nennen – neben zahlreichen Schriftstellern, die nicht unbedingt zum Lehrplan der gymnasialen Mittel- und Oberstufe gehören. Und es sind auch nicht unbedingt die bekanntesten Gedichte der Großen, die Peter von Matt herausgreift.
Der Autor präsentiert Gedichte, die nicht nur formal begeistern, sondern auch in Bezug auf den Inhalt sehr gehaltvoll sind, der sich gleichwohl oft erst beim zweiten Lesen und Überdenken erschließt – oder anhand der Interpretation, die Peter von Matt anbietet. Er zeigt interessante, teils regelrecht spannende Querverbindungen, Anlehnungen und Verweise auf, die sich manchem Leser, dem die entsprechenden humanistischen Kenntnisse fehlen, entzögen. Der kleine Band macht dem Leser auch Mut und verleiht ihm die Fertigkeit, sich aufmerksam an anderen Gedichten zu versuchen.
„Kleine“ Deutungen deutscher Gedichte: ein Untertitel, der einerseits von Bescheidenheit, vielleicht auch ein wenig Tiefstapelei zeugt, könnten doch diese Interpretationen kaum dichter, informativer sein, der aber andererseits anzeigt, dass sich der Leser nicht durch seitenlange Abhandlungen quälen muss. Kaum länger als das eigentliche Gedicht liest sich von Matts Beitrag dazu. Und der Autor kommt keineswegs als trockener Literaturprofessor daher, sondern er verpackt die wissenswerten Fakten unterhaltsam, bisweilen humorvoll, und bietet sensible Denkanstöße.
Eine Bereicherung für Lyrikfreunde und ein großartiger Einstieg für Interessierte!
Peter von Matt ist für mich einer der herausragendsten Literaturwissenschaftler, die mit viel Können, Wissen und Liebe zum dichterischen Detail über Lyrik referieren können. Für jeden der Lyrik liebt, und näheres von den gedanklichen Zusammenhängen in einem Gedicht kennenlernen möchte, sollte unbedingt Bücher von Peter von Matt in seinem Bücherregal zu stehen haben. Dieses Buch ist sehr empfehlenswert, weil es von einer tiefen Einsicht zeugt, gerade was Gedichte betrifft, und es ist leicht zu lesen, weil es auf wissenschaftlichen Duktus verzichtet. Aber das kennt man ja von Peter von Matt.
Peter von Matt interpretiert in diesem Band bekannte und leider noch unbekannte Gedichte vom Mittelalter bis in unsere Zeit und gibt damit einen Ansatz für die Interpretation und Auseinandersetzung im Deutschunterricht. Teilweise nennt er Gründe, die für bzw. gegen eine Behandlung sprechen oder warum sie sich so hartnäckig im heimlichen Kanon halten. Eine Lektüre ist aber auch darüber hinaus empfehlenswert. Ein Muss für jeden Lyrikliebhaber.
Tobias Rohner, amazon.de, 3.8.2009Als Schweizer bin ich stolz auf meinen Landsmann Peter Von Matt! Wohl kleine Deutungen, gemessen an der Wortzahl, erweisen sich als grossartige Analysen eines genialen Kopfes.
Eva Maria Obermann: Wörterleuchten – Peter von Matt
schreibtrieb.aeom.de, 7.2.2012
Schriftsteller Peter von Matt ist mit 87 Jahren am 21.4.2025 gestorben.
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