UNWISSENHEIT
Seltsam, nichts zu wissen, nie sicher zu sein,
Was wahr ist, recht ist oder wirklich,
Also heißt’s sich bescheiden: So glaub ich,
Oder Es sieht fast so aus:
Einer kennt sich schon aus.
Seltsam, den Lauf der Dinge nicht zu kennen:
Manch andrer findet, was er nötig hat,
Hat Sinn für Form und für die Zeit der Saat,
Und ist veränderlich;
Ja, seltsam finde ich,
Solch Wissen zu besitzen – denn das Fleisch
Hüllt uns nach eignem Maße ein −
Doch kann das Leben völlig unklar sein,
Bevor wir ergründen den Sinn,
Scheiden wir schon dahin.
1974 erschien im Verlag Volk und Welt eine Auswahl von Gedichten dreier englischer Lyriker – Philip Larkin, Thom Gunn und Ted Hughes −, die seit dem Ende des zweiten Weltkriegs und verstärkt seit Mitte der fünfziger Jahre durch einen neuen Ton auf sich aufmerksam machten und von denen Philip Larkin, geboren 1922, der älteste war. Die Anthologie wollte mit zeitgenössischer englischer Lyrik bekannt machen, ohne ein höheres Ziel anzuvisieren als das: zu zeigen, daß Poeten dabei waren, sich einer lastenden und belastenden Tradition großer Werke und Namen der englischsprachigen Lyrik zu entziehen, aus dem Schatten der Yeats, Pound und Thomas herauszutreten, aus dem Schatten von Dichtern, die, jeder auf seine spezifische Weise, Weltgeltung dadurch erlangt hatten, daß sie dem lyrischen Subjekt absoluten Rang einräumten, selbst um den Preis der Dunkelheit, der Hermetik, der Verrücktheit. Diese jüngeren englischen Autoren wollten auf eigene, nüchterne Art mit Gedichten die objektive Welt rings zwar nicht plan erklären oder einfach nachzeichnen, aber ihr doch immerhin Einlaß in ihre Verse gewähren und das zuvor souverän agierende Ich wieder in die Funktion des Mediums, des Vermittlers einsetzen. Jetzt, dreizehn Jahre später, lese ich mit einiger Verwunderung in meinem Vorwort zu diesem Band:
Nichts entbindet uns von dem Wagnis… das zeitgenössische Gedicht wahrzunehmen… selbst nicht der Gedanke an die Gefahr, daß womöglich nach zwanzig Jahren nur noch wenig oder nichts mehr von dem, was zusammengetragen, nachgestaltet und als gut im Hinblick auf die Welterkenntnis akzeptiert worden ist, dem Urteil des dann vielleicht kritischer gewordenen Lesers standhalten wird.
Woher kommt diese Zagheit, frage ich mich heute, die hier versammelten Gedichte könnten der Zeit und den Entwicklungen in ihr nicht standhalten? Sie rührt gewiß nicht nur aus der generellen Erkenntnis, daß Kunst, die zur Zeit ihres Entstehens und Bekanntwerdens gefeiert und für bedeutend (oder doch jedenfalls für aussagekräftig genug) angenommen wurde, nur zu oft schon eine Generation später ein vergessenes Dasein fristet, daß Lyrik zumal, die besonders anfällig ist für die Moden und Trends, weil sie die subjektivste aller literarischen Ausdrucksmöglichkeiten ist, der Erosion durch die Winde der Wirklichkeit stärker ausgesetzt wird. War da nicht auch ein Konservatismus im Spiel, der Positionen nicht aufgeben wollte, die durch das, was man „moderne Lyrik“ zu nennen sich angewöhnt hatte, erobert worden waren und die jetzt durch diese jüngeren Dichter und ihre vergleichsweise unspektakulären Versuche, sich und was sie bewegte mitzuteilen, in Gefahr gerieten? Oder vielleicht der Verdacht, sie könnten angesichts der großen Werke und Namen nicht bestehen und nur zeitweilig die literarische Szene bevölkern, bis ein anderer Eliot, wieder ein Auden oder ein zweiter Dylan Thomas auftrat? Man sprach ja selbst im Ursprungsland dieser Gedichte und nicht sonderlich tief lotend von den „faceless fifties“, den „gesichtslosen fünfziger Jahren“, wie von einem Interregnum nach dem Tod oder dem Verstummen der Matadoren.
Die Zeit seitdem hat mir nicht recht gegeben. Als ich 1985, in Philip Larkins Todesjahr, daranging, das bereits deutsch Vorliegende wieder zu lesen und weiteres, was nicht berücksichtigt oder noch nicht erschienen war, zu sichten, fühlte ich mich weit stärker angerührt als damals, da es vor allem darum gegangen war, zeitgenössische englische Lyrik in einer Überschau vorzustellen, sozusagen darüber zu informieren, was es an Neuem und vielleicht Zukunftsträchtigem gab. Und der Zweifel daran, ob Larkins Gedichte Bestand haben, ist mir nicht mehr gekommen; er wurde nicht zuletzt durch die mühevolle Arbeit der Nachdichtung beseitigt, die mir über die Verse auch die Persönlichkeit ihres Verfassers näherbrachte.
Man könnte geneigt sein, Larkins Biographie als eine Voraussetzung oder doch als eine Entsprechung seiner Gedichte anzusehen: das Unauffällige, das Stete herrschen vor. Aus zwei Interviews, die die seltene Gelegenheit bieten, der Persönlichkeit Larkins näherzutreten – eines mit dem Observer aus dem Jahr 1979 und ein anderes mit der Paris Review aus dem Jahr 1982 −, erfahren wir Intimeres aus seinem Leben: unter anderem, daß er, durch Kurzsichtigkeit und Stottern beeinträchtigt, früh scheu und zum Einzelgänger wurde, daß er Junggeselle blieb, öffentliche Auftritte, zumal Vorlesungen über Schaffensmethoden und Vortrag von Gedichten vor Publikum, mied und daß er der materiellen Sicherheit der festen Anstellung dem freien, gleichwohl auf Honorare, Stipendien, Preise und Gastprofessuren angewiesenen Schreiben den Vorzug gab („Man hat mich zu der Überzeugung erzogen“, sagte er, „daß man einen Beruf haben und das Schreiben in seiner Freizeit erledigen müsse, wie Trollope.“) – einfache, offene Aussagen, die keine Deutung zulassen und die angenommen werden müssen. Entsprechend ereignisarm (und auch kaum von Reisen ins Ausland unterbrochen) verlief sein Leben. Einer soliden Beamtenfamilie aus Coventry, Warwickshire, entstammend, arbeitete er nach Schulbesuch in der Heimatstadt und Studium in Oxford (1943 Bachelor of Arts, 1947 Master of Arts) als Bibliothekar in Wellington, Shropshire, sowie an den Universitäten von Leicester und Belfast. Von 1955 bis zu seinem Tod war er Leiter der Universitätsbibliothek von Hull, Yorkshire. Die Promotion zum Doktor der Literaturwissenschaften in Belfast (1969), eine Gastprofessur in Oxford (1970/71), journalistische Arbeit am Daily Telegraph als Kritiker für Jazz-Musik (1960-68), die dem Buch All What Jazz (1970) zugrunde liegt, sind zu erwähnen, ferner zwei frühe Romane – Jill (1946, überarbeitete Fassung 1964) und A Girl in Winter (1947) −, die Herausgabe von The Oxford Book of Twentieth Century Verse (1973), die Mitgliedschaft in der Royal Society of Literature und die Auszeichnung mit namhaften Literaturpreisen (u.a. mit der Queen’s Gold Medal for Poetry). Larkins Gedichte sind in vier Sammlungen herausgegeben: The North Ship (1945, ergänzt 1966), The Less Deceived (1955), The Whitsun Weddings (1964) und High Windows (1974); daneben erschienen einige Gedichte dieser Sammlungen in Zeitschriften und in Anthologien, u.a. in New Lines, 1956 herausgegeben von Robert Conquest. Die Aufnahme in diese Anthologie brachte es mit sich, daß Larkin mit anderen Beiträgern (u.a. Elizabeth Jennings, D.J. Enright und Thom Gunn) von der Literaturkritik als einer der Exponenten einer neuen Richtung der englischen Lyrik mit der Bezeichnung The Movement zugeordnet wurde, ohne daß er sich allerdings mit dieser „Bewegung“, in der man einen „neutral tone“ als verbindendes Charakteristikum entdeckt zu haben glaubte, indentifiziert hätte. Es mag die ähnliche Zielsetzung der Poeten aus den „gesichtslosen fünfziger Jahren“ dazu geführt haben, Larkin mit anderen zu einer Gruppierung zusammenzustellen, ihr Engagement nämlich für die poetische Erfassung der sozialen Wirklichkeit, die nicht mehr als nur feindlich, fremd, unauslotbar oder vieldeutig angesehen wird und darum auch nicht ins Belieben subjektiver Deutung gesetzt werden kann, der man sich vielmehr zu stellen hat und die man erkunden muß. Und aus der man auch das sogenannte Triviale und Banale nicht ausschließen darf; denn „Dichtung ist kein Farbspray, das man gebraucht, um ausgewählte Objekte damit zu besprühen“.
Vier relativ schmale Bände also, in einem Zeitraum von vier Jahrzehnten: Das erscheint wenig genug (und es ist auch kaum etwas an Lyrischem aus dem literarischen Nachlaß zu erwarten). Man ist natürlich leicht geneigt, Philip Larkin daraufhin in die Kategorie „Gelegenheitsdichter“ einzurangieren – Gelegenheitsdichter in dem Sinn, daß er, schon durch die Berufsbelastung bedingt, nur gelegentlich geschrieben, daß er abgewartet habe, bis ihn ein Gegenstand, ein Einfall zum Dichten reizte (er selber hat beschrieben, wie er sich nach der Dienstzeit für zwei Stunden ans Schreiben von Gedichten machte und dann ins Wirtshaus ging). Das hat allemal den Ruch des Dillettantischen an sich. Doch über die platte Bedeutung des Begriffs hinaus ergibt sich ein tieferer, umfassenderer Sinn, wenn man den Kern der oft zitierten Äußerung Goethes aus seinen Gesprächen mit Eckermann bloßlegt:
Die Welt ist groß und reich und das Leben so mannigfaltig, daß es an Anlässen zu Gedichten nie fehlen wird. Aber es müssen alles Gelegenheitsgedichte sein, das heißt, die Wirklichkeit muß die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetisch wird ein spezieller Fall eben dadurch, daß ein Dichter ihn behandelt… Man sage nicht, daß es der Wirklichkeit an poetischem Interesse fehle; denn eben dadurch bewährt sich ja der Dichter, daß er geistreich genug sei, dem gewöhnlichen Gegenstande eine interessante Seite abzugewinnen.
„Gewöhnliche Gegenstände“ finden sich bei Larkin in der Tat immer wieder: eine Eisenbahnfahrt mit pfingstlichen Brautleuten oder eine, die ihn in eine Stadt am Meer bringt; ein Landaufenthalt unter biederen, ein wenig schrulligen Männern; die Beobachtung von tanzenden jungen Paaren; das Aufsuchen eines Krebskrankenhauses oder einer verfallenden Kirche; das Mieten eines tristen möblierten Zimmers; das Begräbnis einer Dubliner Nutte; der Besuch einer altadligen Gruft… Im Fortgang der Zeit, zumal seit dem Band The Less Deceived, werden die Gedichte immer stärker wirklichkeits- und gelegenheitsbezogen, immer konkreter in der Zeichnung des Sujets und des Milieus; werden Erlebnis und Beobachtung zu den tragenden Säulen seiner lyrischen Arbeiten, die sich vom Vorbild Yeats’ und Audens, denen sie noch in The North Ship verpflichtet waren, entfernen und zu eigenständiger Diktion finden. Sorgfältig, abwägsam wird das Gedicht Wort um Wort (nicht Bild um Bild!) und so gebaut, daß die „gewöhnlichen Gegenstände“, die Situationen ihre „interessante Seite“ offenbaren, nämlich ihr Gewicht, ihre Bedeutung über das persönliche Erleben hinaus. Das Resultat ,ist eine Kunst, die sich, redlich, nie in Wortschwelgereien ergeht und die sich selbst da, wo sie schwerer zugänglich ist, nicht wohltönender Verschleierung bedient, um dem Leser vielleicht Ersatz für entgangenes Sinn-Begreifen zu schaffen. Sie verhehlt des Gedankens Mühe nicht und fordert zu genauem Lesen auf, zum Mit- und Nachdenken, weil auch in dem, was sich vordergründig als Beschreibung ausnehmen mag, ein starkes Element des Gedankenlyrischen enthalten ist. Welt wird für Larkin eine Subjekt-Objekt-Beziehung, die durchschaut und auch erfühlt werden will und die nur in dem Maß für uns Realität annimmt, wie sie sinnfällig und erkannt wird.
Jedenfalls wird dem Leser keine schwer nachzuvollziehende lyrische Vision, keine von Allusionen und Rückgriffen aufs Mythische strotzende und also nur von Eliten zu entschlüsselnde Chiffre angeboten, kein Tableau, in dem er sich nach Belieben einrichten kann. „Es ist über mein Werk nicht viel zu sagen“, äußerte er. „Wenn Sie ein Gedicht gelesen haben, dann genügt das, es ist ganz klar, was es bedeutet.“ Und auf die Frage, warum und für wen er schreibe, entgegnete er: „Die kurze Antwort ist, daß man schreibt, weil man schreiben muß. Wenn man es vernunftgemäß erklärt, scheint es so, als habe man etwas Bestimmtes gesehen, ein bestimmtes Gefühl gehabt, eine bestimmte Vision, und daß man eine Kombination von Wörtern finden mußte, die das alles dadurch bewahrt, daß sie es anderen Menschen vermittelt. Was die Frage angeht, für wen ich schreibe nun gut, ich schreibe für alle. Oder für jeden, der zuhören will.“ Der Lust an der Zertrümmerung der Wirklichkeit (der Wandlung von „Umwelt“ zu „Umwelt“, wie Kurt Pinthus das einmal formuliert hat) setzt Larkin den Grundsatz des Erhaltens entgegen:
Der Drang zu bewahren liegt aller Kunst zugrunde.
Eugenio Montales These (die eine der Doktrinen des Surrealismus und überhaupt der inzwischen längst klassisch gewordenen „modernen Lyrik“ darstellt), daß niemand Verse schriebe, wenn das Problem der Dichtung darin bestünde, sich verständlich zu machen, gilt für Larkin nicht. Er bezieht einen entgegengesetzten (man kann auch sagen: einen bei allem Anspruch an das Mitdenken und Nachempfinden leserfreundlichen) Standpunkt und weist auch die oft mit Stolz auf die Außenseiterposition getränkte Resignation des Lyrikers vorm ohnehin mangelnden Leserinteresse zurück:
Tatsächlich scheint nicht mehr wie früher der Leser im Bewußtsein des Dichters gegenwärtig zu sein als jemand, der das fertige Produkt verstehen und genießen muß, wenn es überhaupt einen Erfolg haben soll; heute nimmt man an, daß niemand es lesen will und es nicht verstehen und genießen würde, wenn er es täte. Warum sollte das so bleiben? Es genügt nicht, zu sagen, die Dichtung habe ihr Publikum verloren und brauche es also nicht weiter in Betracht zu ziehen. Viele Leute lesen und kaufen sogar Dichtung. Genauer: Die Dichtung hat ihr altes Publikum verloren und ein neues gewonnen.
Philip Larkins Lyrik leistet auf ihre Weise Grundlagenarbeit beim Erkennen und beim Durchfühlen der Wirklichkeit und der Wirklichkeit hinter dieser. „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ – an diesen ersten, fundamentalen Satz der Philosophie Wittgensteins wurde ich beim Lesen oft erinnert: Gegenstände, Beziehungen, Sachverhalte, Gründe, die Harmonie, Zweifel oder Ängste entstehen lassen, werden daraufhin befragt, „was der Fall ist“, und unter dieser Frage zur Sprache gebracht, zu einer ebenso präzisen wie reizvollen Sprache, in der die natürlichen Rhythmen und die Syntax des Alltags gegen „die Künstlichkeiten von Reim und Metrum“ gesetzt sind.
In einem Rundfunkvortrag aus dem Jahre 1968 sagte Philip Larkin über die Art, wie er Thomas Hardy, den er als ihm geistesverwandt erachtete, rezipierte:
Als ich Hardy kennenlernte, stellte ich mit Erleichterung fest, daß ich mich nicht zu einem poetischen Konzept emporwinden mußte, das außerhalb meines Lebens lag… Man konnte sich einfach zurückfallen lassen ins eigene Leben und von dort aus schreiben.
Und in dem Interview mit der Paris Review heißt es:
Ich hatte niemals „Vorstellungen“ von Dichtung. Sie war für mich immer eine persönliche, fast körperliche Befreiung oder die Auflösung eines komplizierten Drucks von Notwendigkeiten – der Wunsch zu erschaffen, zu rechtfertigen, zu loben, zu erklären, zu vergegenständlichen, je nach den Umständen. Und ich habe mich nie sehr für anderer Leute Dichtung interessiert – ein Grund fürs Schreiben liegt natürlich darin, daß niemand geschrieben hat, was man selber lesen möchte.
− Dies alles bedeutet freilich nicht, daß sich hier ein Autor nach Heimwerkerart auf seine „Gelegenheiten“ und deren Repräsentation beschränkt und sich nur auf das zurückzieht, was ihm zugestoßen, zugefallen und im Wortsinn fragwürdig und bedrückend geworden ist, allgemein: daß er der Klasse der Bekenntnis-Poeten zuzurechnen wäre, die für den Hausgebrauch in Verse gießen, was als ihr Seelen-Inhalt bezeichnet werden könnte. Zwar ist auch der emotionale Gehalt der Gedichte Larkins stark, zwar tritt allenthalben der persönliche Bezug hervor, die Freude und die Betroffenheit; doch der Ton bleibt zurückhaltend, meist gelassen und um Objektivität bemüht, und nirgends entsteht der Eindruck von bedrückender Selbstenthüllung, auch nicht, wenn die Elegie vorherrscht – die Klage übers Altern, das Kranksein, übers schließliche Sterbenmüssen oder über die an sich selbst erfahrene Last routinierter Arbeit. Der Verlust, erklärte er, sei für ihn das, was für Wordsworth die Narzissen gewesen sind – nämlich Impetus für seine und Gegenstand seiner Gedichte. Dennoch verliert er sich nicht in Trauer und Ergebung; er richtet vielmehr einen Skeptizismus auf, der würdigem Dasein trotz allem eine Chance sucht, trotz dem Unausweichlichen und dem, was der Mensch an Hindernissen und Illusionen durch Lieblosigkeit und falsches Denken selber aufbaut. Denn es bleibt nur die Welt als Heimat des Menschen, und in ihr muß er sich einrichten:
Wozu gibt’s Tage?
Tage sind, wo wir leben.
Sie kommen, wecken uns
Immer und immer wieder.
Sie sind da, in ihnen glücklich zu sein.
Wo sonst sollten wir leben?
Karl Heinz Berger, Nachwort, Juli 1987
Philip Larkin (1922–1985) wollte eigentlich Romancier werden, doch nach zwei Romanen gab er es auf: „Nicht ich wählte die Dichtung, die Dichtung. wählte mich.“ Heute ist er als einer der maßgeblichen Vertreter der zeitgenössischen englischen Lyrik hochgeschätzt, er hat der Nachkriegsdichtung Großbritanniens entscheidende Impulse verliehen. Sein poetisches Werk, hier in einer repräsentativen Auswahl vorgestellt, legt Zeugnis ab dafür, daß ein Künstler, auch ohne sich als Held, als Liebling der Medien oder als Rebell zu gebärden, ein hohes Maß an realistischer, illusionsloser Weltbetrachtung in die Lyrik einzubringen vermag. Er war ein Außenseiter, der die Öffentlichkeit scheute, sich mehr für den Jazz und die Kriminalliteratur interessierte als für literarische Prozesse oder Dichterkollegen und deren Werke. Er lehnte jede Bildungsprotzerei ebenso kategorisch ab wie avantgardistische Spielereien mit Formen und Inhalten. Er wollte nicht belehren, theoretisieren, sondern unmittelbare Eindrücke und Empfindungen, das heißt Wirklichkeit, elementare Lebensäußerung vermitteln. In formstrengen, von Sachlichkeit, Einfachheit, unterkühlter Melancholie und stillem Humor geprägten Versen erfaßte er all jene zeitlosen Themen der Dichtung, wie Liebe, Kreativität, Natur und Vergänglichkeit, verlor jedoch darüber keineswegs die sozialen und politischen Bedrängnisse unserer Zeit aus den Augen.
Ich schreibe Gedichte, um – für mich und für andere – Dinge festzuhalten, die ich erlebt, gedacht, empfunden habe, aber ich denke, daß ich vor allem der Erfahrung an sich gegenüber verantwortlich bin, die ich, um ihrer selbst willen, mich bemühe, vor der Vergessenheit zu bewahren.
Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1988
Adolf Endler: Eine Reihe internationaler Lyrik, Sinn und Form, Heft 4, 1973
Harald Hartung: Die nüchterne Wahrheit der Lyrik. Philip Larkin, Merkur, Heft 499, 1990
Walter Klier: Der Volksliedsänger des Existentialismus. Philip Larkin, biographisch betrachtet, Merkur, Heft 614, Juni 2000
Helmut Winter: Das nüchterne Engagement. Zur jüngsten englischen Lyrik, Merkur, Heft 229, April 1967
GEGEN DIE POESIE VON PHILIP LARKIN
Ich habe gelernt mit meiner Verzweiflung zu leben.
Und plötzlich ist da jemand, der ungebeten
In Gedichten die Gründe für Verzweiflung aufzählt.
Soll ich dankbar sein? Ich wüßte nicht wofür.
Das Bewußtsein hat verschiedene Niveaus,
Und wer mich mit dem Tod erschreckt, stößt mich hinab auf ein tieferes.
Du trauriger Larkin, auch ich weiß vom Tod,
Der ständig allen Lebendigen droht,
Doch passend ist dieses Thema nie −
In keiner Ode und in keiner Elegie.
Czesław Miłosz
Ulf Heise: „Ich schreibe für jeden, der zuhören will“
Freie Presse, 8.8.2022
Ronald Pohl: Der britische Lyriker Philip Larkin wird von Lehrplänen gestrichen – zu Recht?
Der Standart, 25.8.2022
Florian Bissig: Kein Platz für weisse Männer? Der Dichter Philip Larkin wird vom britischen Lehrplan gestrichen
Tagblatt, 25.11.2022
Philip Larkin Dokumentation der BBC aus dem Jahr 1964. Teil 1/3.
Philip Larkin Dokumentation der BBC aus dem Jahr 1964. Teil 2/3.
Philip Larkin Dokumentation der BBC aus dem Jahr 1964. Teil 3/3.
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