Katrin Pieper (Hrsg.): Poesiealbum. 1967–1990

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Katrin Pieper (Hrsg.): Poesiealbum. 1967–1990

Pieper/Paris-Poesiealbum. 1967–1990

EINFACH FREUNDLICH SEIN,
OBWOHLS SCHWERFÄLLT.

& ’n bißchen verrückt, nicht so verkrampft.
& ernst sein & spaß vertragen.
& indianer sein oder zigeuner
oder beamter auf lebenszeit.
einfach dasein & sich nur bücken
um was aufzuheben von unten.
die erdschwere spürn aber leicht sein
& sich querstelln, wenns drauf ankommt.
unangenehm werden können,
aber angenehm sein.
nach wie vor denken,
ab & zu sprechen,
begreifen.

obwohls schwer fällt.
obwohl regen fällt.
obwohl mir was einfällt
:
obwohl bomben falln irgendwo.
obwohl man fallen kann
oder fallen gelassen wird.
obwohls fallen gibt.
obwohls überfälle gibt.
obwohls unfälle gibt.
obwohls vorfälle gibt.
& kniefälle. & schneefälle.

Dieter Kerschek, Poesiealbum 188/1983

 

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POESIEALBUM

nannten sich die Lyrikbändchen, gedruckt und publiziert von 1969 bis 1990 in einem Teil Deutschlands, der DDR.
Zweihundertfünfundsiebzig Hefte – Zeugnisse einer nahen Vergangenheit, die in die Gegenwart hinein reichen und gelebtes, gespürtes bedeuten.
Gedichte, die von Hoffnung und Erfahrung erzählen, von Zeiten des Kampfes und bitterer Enttäuschung, die aufrufen wollen, und zugleich fürchten, ungehört zu bleiben. Gedichte, die Spiegel einer Gesellschaft in ihrem Alltag sind, die von Not und Glück erzählen, der eigenen, der inneren, der menschlichen und nicht zu verhindernden Not, vom Glück, das für sich allein oder auch von der Menschheit erhofft wird, und dem Erfahrungsmaß, das einfach Leben heißt.
Zeitgeist über die Jahre ist ablesbar, denn diese Gedichte sind geboren aus der Betrachtung und dem Erleben des Wirklichen.
Brechts „Lob des Kommunismus“, den jeder versteht, weil er vernünftig ist – Heft 1 dieser Reihe −, korreliert historisch sinnfällig mit den Worten Rainer Kirschs, „die Vernunft ist eine furchtbare Last. Nur die Vernünftigsten gehen mit ihr ein paar Schritte“. 1977 geschrieben, 1990 in diese Edition aufgenommen, als eines der letzten Hefte 1990 ausgeliefert, scheint solche Gedankenspanne eben auch den so schmalen Grat zwischen Ideal und Wirklichkeit anzuzeigen.
Der vorliegende Band erhebt nicht Anspruch auf Vollständigkeit, wenn es darum geht, alle Autoren der ostdeutschen Landschaft zu versammeln, die in dreiundzwanzig Jahren in dieser so einmaligen Reihe zu Wort kamen.
Und gesagt werden soll auch, daß zweihundertfünfundsiebzig erschienene Hefte Lyrik dieser Welt auf jeweils zweiunddreißig schmalen Seiten und doch gewichtig einem großen und begeisterten Publikum nahe brachten, das den Herausgebern, Lektoren, Grafikern und Typographen Lob und Beifall spendete und treu blieb.
Bernd Jentzsch, Anreger dieser Edition, Lektor und Herausgeber, führte sie mit Sachverstand und feinem Gespür. Richard Pietraß und Dorothea Oehme setzten sie fort, fanden Talente, pflegten junge Stimmen und hielten die Tür zur Welt offen.
Nicht zu vergessen, die grafische und typografische Kultur, mit der Achim Kollwitz das Erscheinungsbild der Reihe über dreiundzwanzig Jahre unverwechselbar werden ließ.
Alle diese Qualitäten im Verbund machen heute eine Auswahl möglich, die von jenen Jahren ihres Entstehens erzählt, lebendig ist, Zeitblicke gewährt, Sprache und Bilder bietet, ganz Eigenes, ganz Unverwechselbares trägt.
Das allein ist Grund genug, mit Gedichten und Bildern dieser Edition wieder ans Licht der Öffentlichkeit zu treten.
Könnte es nicht auch ein Auftakt zur Wiederaufnahme sein?
Zu wünschen wäre es allemal.

Katrin Pieper, Vorwort, Februar 1999

 

Potential eines Poesiealbums

Es ist schon viel versäumt. Es wird noch viel versäumt werden. Als im Spätherbst 1996 die Nachricht lanciert wurde, daß das Poesiealbum wiederkehrt, gackerte, geiferte, greinte das deutsche Feuilleton. Gift und Galle wurde gespuckt. Von Duplikat und Diebstahl sprachen am schnellsten, häufigsten, lautesten die, die zuvor nicht mal wußten, welches Poesiealbum gemeint war. Wäre das Angekündigte nur Duplikat und nur Diebstahl gewesen, welch ein Duplikat, welch ein Diebstahl!
Bernd Jentzsch, Lyriker und Lektor im Ostberliner Verlag Neues Leben, profitierte von der staatlich forcierten und hochgepeitschten „Lyrikwelle“ in der gerade eingemauerten DDR. Als die von der einzigen Jugendorganisation mitlancierte Lyrikwelle verebbte, bot Jentzsch der Idee Asyl unterm Dach des Jugendbuchverlages. Aus der Kampagne wurde Kontinuität. Die „Lyrikwelle“ bekam eine feste Form im Poesiealbum. Eine Publikations-Reihe, die, wunschgemäß, „der Jugend auf populäre Weise wertvolle Dichtung der Vergangenheit und Gegenwart, besonders aber auch die neue sozialistische Lyrik der DDR“ bekannt machen sollte. Im Laufe eines knappen Vierteljahrhunderts wurde in 275 Heften Lyrik sämtlicher Weltkulturen unter die Leute gebracht. Stets im gleichbleibenden Umfang von 32 Seiten. Stets in gleichbleibender Ausstattung, das heißt mit doppelseitiger Graphik. Stets zum gleichbleibenden Preis von neunzig Pfennig. Stets in Zehntausenderauflage. Die DDR leistete sich Lyrik. Die DDRler leisteten sich das Poesiealbum und leisteten es sich, Lyrik zu lesen.
Vom „Poesiealbum“ in Deutschland zu sprechen hieße, über schon Versäumtes und fortgesetzte Versäumnisse zu sprechen. Die 1967 von Bernd Jentzsch begründete Reihe ist in ihrer Art ein einzigartiges Ereignis in der deutschen Verlagsgeschichte. Weil das Poesiealbum da war, verloren Generationen von DDR-Bürgern die Lyrik nicht aus dem Blick. Die Brüder und Schwestern aus dem deutschen Westen, die mit ihrer Schulklasse den obligaten Ostberlin-Tag absolvierten, investierten manche Zwangsumtausch-Mark ins Poesiealbum. Das war überall greifbar. An Zeitungskiosken ebenso wie in allen Buchhandlungen. „Am besten ist ein Abonnement bei der Deutschen Post“, empfahl der Verlag, als sei’s die selbstverständlichste Sache der Welt. Lyrik im Abonnement! Lyrik frei Haus! Poesie ohne Portogebühren! Wo gab’s denn das! In der DDR!
Gibt es ein Geheimnis für den Erfolg des Poesiealbums. Es gibt kein Geheimnis. Die stimmige Korrespondenz zwischen Poesie, Publikation, Preis und Publikum sicherte den anhaltenden Zuspruch. An den Erfolg anzukoppeln, wär’ wahrlich keine Schande. Den Versuch des Galrev Verlages und der Connewitzer Verlagsbuchhandlung zu diffamieren, die 1997 mit den Poetischen Boegen in die Fußstapfen des Poesiealbum treten wollten, war dumm und dreist. Scheitern mußte er, weil die förderliche Korrespondenz fehlte. Das Schicksal wird auch jenen hessischen Verleger ereilen, der jüngst mit einer kompletten Kopie des Poesiealbum auftauchte. Am Pranger stehen wird er als linkischer Räuber. Alle Rechte am Poesiealbum gehören dem zum Medienverband der PDS gehörenden Verlag Neues Leben. Spät, nicht zu spät, hat er von seinem guten Recht Gebrauch gemacht und sich um die Wiederverwendung des Potentials Poesiealbum gekümmert. Nicht provozierend, doch prononcierend bietet der arg geschrumpfte Verlag den Band Poesiealbum 19671990. Dichter aus jenem Land mit Gedichten aus jener Zeit an. Man meint, Nachtigallen trapsen zu hören. Man meint, die Gedichte zu sehen, die als Garnitur zur Geschichte des Landes da waren, dessen Name selten vollständig ausgesprochen wurde. Aufkommender Unmut ist völlig unbegründet. Niemand muß noch einmal die Stilblüten der Agitproplyrik der DDR pflücken. Davor bewahren Namen wie Arndt und Bobrowski, Brecht und Becher, Hacks und Hermlin, Kunert und Kunze, Kirsten und Mickel. Neunzig Nummern des Poesiealbum wurden von den Lyrikern des Landes besetzt. Sie vollständig zu versammeln war offenbar nicht beabsichtigt. Zumindest ist das den auffallend zurückhaltenden Äußerungen der Herausgeberin Katrin Pieper zu entnehmen, die das Geburtsjahr der Reihe fälschlich auf das Jahr 1969 datiert. Die Auslassungen haben Gründe. Nicht alle Anschriften aller Autoren waren ausfindig zu machen. Das sagt einiges. Andere Autoren waren nicht willig, sich aufs Gruppenporträt zerren zu lassen. Das sagt mehr. Lange und vergeblich wird man nach Bernd Jentzsch Ausschau halten. Das sagt alles. Das Nebeneinander von Nicht-Dichtern und Lyrikern. Auch-Lyrik und Dichtung erzählt, wie leichtfertig geistige Grenzen in den Grenzen des Landes gezogen wurden und wie durch wen wieder entgrenzt. Das lesend, so herausgelesen, gibt’s manches gute und starke Stück Dichtung aus der DDR, das getrost ins Poesiealbum der deutschen Literatur eingetragen werden kann. Das Unvollständige hat genug Vollständigkeit. Nicht jeden Vers vollends zu beachten heißt, mehr Zeit fürs Betrachten der Graphiken Made in GDR zu haben, die das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt wurden. Wer auf der Suche nach der sozialistischen Nationaldichtung der DDR ist, ist auf dem Holzwege, auf dem die waren, die sie deklarierten. Da es Dichtung ist, rühmenswert wie die Reihe „Poesiealbum“, reicht’s, um den Sammelband eine Sammelstätte der Dichtungen und Dichter der DDR zu nennen. Eine Gelegenheit, Versäumtes nachzuholen? Auch!

Bernd Heimberger, luise-berlin.de, 1999

Mein Dörfchen, das heißt DDR

− Verstaubtes aus dem Keller: Ein Rückblick auf das Poesiealbum. −

„Dieser Text ist verschwunden.“

Da ist es wieder: das gute alte Poesiealbum. Nein, nicht das, in dem, mit Ausnahme des Vergissmeinnichts, aber einschließlich der Nelken, alle Blumen welken – das nicht. Gemeint ist das andere Poesiealbum, das inzwischen zu einem begehrten Sammelobjekt geworden ist, nämlich die Lyrik-Heft-Reihe gleichen Namens, die in den Jahren 1967 bis 1990 im sagenhaften Leseland DDR erschien: Monat für Monat kam dort ein Heft im Umfang von zweiunddreißig Seiten und zum Preis von ganzen neunzig Pfennigen heraus. Sogar an Zeitungskiosken, sagt man, waren diese Heftchen erhältlich, und wer sie fein sammelte, wurde nach und nach mit Lyrikern aller Zeiten und Völker vertraut. 275 Nummern sind insgesamt erschienen, dann ging die Reihe mit der DDR unter. Schade drum!
Nun also, in Form einer Anthologie, ein Rückblick. Er richtet sich, wie der Untertitel bedeutungsvoll, aber inhaltsleer raunt, ausschließlich an die „Dichter aus jenem Land – mit Gedichten aus jener Zeit“. „Jene“ – das meint in nostalgischer Unschärfe die DDR. Mit nicht weniger als neunzig Heften waren DDR-Autoren in die Lyrik der Welt eingefügt worden, und 59 von ihnen sind nun mit durchschnittlich drei Gedichten in der Anthologie vertreten. Das beginnt mit Brecht („Lob des Kommunismus“) und endet mit Rainer Kirsch („Ich hab noch vierzig Jahre, oder mehr“). Vielen, die Rang und Namen hatten in der Lyrik der DDR, begegnet man hier wieder: Fürnberg und Kuba, Johannes R. Becher und Georg Maurer, Hermlin und Arendt, Johannes Bobrowski und Fritz Rudolf Fries, Volker Braun und Karl Mickel, Kathrin Schmidt und Kerstin Hensel; sogar Günter Kunert und Reiner Kunze, die später in Ungnade fielen.
Denn ins DDR-Poesiealbum konnte sich seinerzeit nur eintragen, wer im einstigen FDJ-Verlag Neues Leben, der damals die Reihe (und jetzt die Anthologie) herausgab, als „zuverlässig“ galt. Das hatte zur Folge, dass namhafte und bedeutende Lyriker der DDR wie Heinz Czechowski, Adolf Endler, Elke Erb, Franz Fühmann, Wolfgang Hilbig, Peter Huchel, Sarah Kirsch, Uwe Kolbe, Heiner Müller, Bert Papenfuß-Gorek, Lutz Rathenow, Thomas Rosenlöcher, Rainer Schedlinksi und B.K. Tragelehn seinerzeit nicht ins Poesiealbum gelangten; sie fehlen dementsprechend nun auch in der rückblickenden Anthologie.
Es fehlen aber auch einige Autoren, die damals mit einem eigenen Heft in der Reihe des Poesiealbums vertreten waren, darunter nicht nur FDJ-Barden wie Bernd Rump oder Hans Brinkmann, sondern auch durchaus reputierliche Autoren wie Erich Weinert, Kristian Pech, Wilhelm Tkaczyk und sogar Richard Pietraß, der selbst längere Zeit – im Anschluss an Bernd Jentzsch – die Reihe Poesiealbum herausgegeben hatte. Warum fehlen sie? Und warum fehlen nicht stattdessen die unsäglichen Versifikationen beispielsweise eines Max Zimmering, des ersten Leiters des Johannes R. Becher-Literaturinstituts in Leipzig, oder diejenigen der Liedersänger, von Hartmut König etwa, der vorwurfsvoll den Revanchismus derer beklagt, die es sich immer noch oder schon wieder erlauben, eine polnische Stadt mit dem deutschen Namen Stettin zu benennen; oder von Reinhold Andert, der die DDR als sein Vaterland feiert:

Das ist das Land, wo die Fabriken uns gehören.

Andererseits dichtet Ralph Grüneberger: „Das ist mein Land, hier bin ich / Eingekreist“ – und an dieser Stelle findet sich die einzige Fußnote: „Grüneberger schreibt dazu“, so lautet sie:

,Eingekreist‘ ist eine Konsequenz auf den Eingriff der Zensur. Tatsächlich stand dort ,Eingebuchtet‘.

Mehr Kommentare und Erläuterungen dieser Art hätten der Sammlung gut getan; genau genommen ist sie ohne solche Kommentare nur schwer zu goutieren. Wie erklärt sich die Auswahl der Autoren und ihrer Texte im Poesiealbum, wie funktionierte die Zensur und welche Zensurfälle gab es, auf welche aktuellen politischen und kulturpolitischen Ereignisse reagierte das Poesiealbum, welche Verbindungen bestanden zwischen ihm und dem Schweriner Poetentreffen der FDJ, dem Leipziger Literaturinstitut, der Zeitschrift Temperamente, der Schülergedichtsammlung Offene Fenster, der Lyrik- und der „Singebewegung“? In solchen Kontexten erst ließe sich das Poesiealbum als ein dann allerdings überaus informatives, ja einzigartiges Dokument der realen Literaturverhältnisse in der DDR lesen. Denn die Qualität der Texte allein rechtfertigt nur in wenigen Fällen diesen Rückblick. Allzu viel Mittelmaß und Vordergründigkeit herrscht vor, zumal in den letzten Jahren des Poesiealbums, als das Reservoir der vorzeigbaren Lyriker der DDR weitgehend erschöpft war.
Auswahl und Präsentation dieser Anthologie wecken also wenig Lust an dem Vorschlag, diese Retrospektive als einen „Auftakt zur Wiederaufnahme“ des Poesiealbums zu verstehen. Sie bewirken eher das Gegenteil, und sie sind wohl auch eher berechnet auf Leser, die sich zurückträumen wollen in die alte, überschaubare, nestwarme DDR. Nichts ist bezeichnender für diese Tendenz der Anthologie als ihr Schutzumschlag, der auf der Rückseite, eingerahmt von den Grenzen des DDR-Staates, das Gedicht „Mein Dörfchen, das heißt DDR“ von Peter Hacks zitiert. Dieses Gedicht hat zwar niemals im Poesiealbum gestanden, aber es bringt „jene“ Mentalität der DDR-Bürger überdeutlich zum Ausdruck, die diesen Rückblick mehr herzig – ein Herz ziert die Vorderseite des Umschlags – als kritisch bestimmt: „Es gibt nichts Neues unterm Mond, / Nicht dieserseits der Mauer.“

Wulf Segebrecht, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.8.1999

 

 

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