ZWEI DICHTER UND DER MARKT
− Bert Papenfuß und Lutz Rathenow. −
Auf dem New-Hampshire-Symposium 1998 behauptete Dieter Schlenstedt anhand eines Aufsatzes von Rainer Schedlinski, dass die Dichter der Prenzlauer Berg-Szene niemals bekannt werden wollten. Damals erwiderte ich, ihre verlegerische Arbeit spreche eindeutig dagegen. Es ist allerdings wahr, dass sich ihre Texte einer leichten unterhaltsamen Lektüre verweigern. Die Beziehung zwischen Dichtern und Publikum wird noch komplizierter, seit die Dichter auf die „ungewollte Öffentlichkeit“ angewiesen sind.
Ich konzentriere mich auf die Dichter Bert Papenfuß und Lutz Rathenow, die unterschiedliche Positionen dem Publikum und dem Markt gegenüber vertreten. Papenfuß inszeniert sich als Kultfigur: Er ist oft bei Veranstaltungen innerhalb seines Bekanntenkreises zu sehen und schreibt über Themen wie moderne Musik, politische Geschichte und sexuelle Kämpfe. Dazu entwickelt er eine eigene erkennbare Ästhetik. Er beeinflusste mehr als irgend ein anderer Dichter den sprachspielerischen Stil der Prenzlauer Berg-Dichtung. Seine anti-autoritär erregte Stimme sowie sein phonetisches, wortspielerisches Schreiben sind auch heute noch bezeichnend. Er verbindet obskure Anspielungen mit Sympathie für den Underdog.
Lutz Rathenows Texte, die eher erzählerisch sind und wenige Neologismen enthalten, sind leichter verständlich als die von Papenfuß. Rathenow ist keine Kultfigur, sondern ein unabhängiger sarkastischer Analytiker, der ein breites und heterogenes Publikum hat. Er schreibt mit schwarzem Humor aus der Perspektive von autoritätsbedürftigen Kleinbürgern. Auch vor der Wende wusste er seine Texte in Umlauf zu bringen. Weder Papenfuß noch Rathenow haben einen Bestseller geschrieben, beide werden im Feuilleton in unterschiedlicher Weise unzutreffend präsentiert. Soll der Erfolg eines Dichters jedoch nur anhand ihrer Popularität und ihrer Verkaufszahlen beurteilt werden?
Man bekommt natürlich keinen Überblick über das literarische „Kapital“, ohne über den Stoffwechsel zwischen Markt und Kultur nachzudenken. Die Lage der Dichter auf dem gesamtdeutschen Literaturmarkt ist jedoch vielmehr eine Frage der Marktforschung als eine der Literaturwissenschaft. Literaturwissenschaftler müssten sich in die Techniken der Marktforschung einarbeiten, um den Erfolg von Dichtern beurteilen zu können. Zum Beispiel helfen Verkaufszahlen, wie die der Internet-Buchhandlung Amazon, den jeweiligen Markterfolg zu bewerten. Solche Statistiken könnten mit denen von umsatzstärkeren Buchsparten verglichen werden.
Es ist bedenklich, wenn wichtige Stimmen durch den Markt gedämpft werden. Um Redefreiheit in der Gesellschaft zu ermöglichen, müssten Kunst und Literatur unabhängig von ihrer Bewertung subventioniert werden. Die Macht des Marktes ist nicht neu, wie Peter Wruck und andere zeigen. Martha Woodmansee analysiert die Wirkung der neuen Verlagsindustrie im 18. Jahrhundert. Im Zentrum dieser Industrie standen billig gedruckte populäre Werke wie etwa Lenore von Gottfried August Bürger. Laut Woodmansee wurde Ästhetik entwickelt, um komplizierte Texte trotz des Stigmas einer niedrigeren Verkaufsstatistik aufwerten zu können.
Seit der Wende wird versucht, die im Namen des Sozialismus ignorierten ästhetischen Elemente der DDR-Literatur neu zu bewerten, um ihnen einen Platz in der gesamtdeutschen Literaturgeschichte zu sichern: Wenn auch eine ästhetische Bewertung eventuell den Status dieses oder jenes Autors verändern könnte, sind ästhetische Kriterien heute doch viel umstrittener als im 18. Jahrhundert. Wie die meisten modernen Dichter arbeiten Bert Papenfuß und Lutz Rathenow mit Elementen der Anti-Ästhetik, zum Beispiel mit der Vulgarität oder der Groteske. Wichtig ist, dass Kriterien der Qualität innerhalb von Künstlerkreisen bestimmt werden, statt vom Markt definiert oder vom Feuilleton verhandelt zu werden. Ihre zum Teil elitären Texte fallen in den Graben der archaischen Dichotomie zwischen Ästhetischem und Populärem.
Wir befassen uns hier nicht mit Literaturgeschichte, sondern mit der Dynamik des literarischen Lebens, die nicht von der Ästhetik gesteuert wird. Trotzdem ist Markterfolg immer relativ, und Bestseller machen nur einen kleinen Teil der deutschen Kultur aus. Auch wenn Papenfuß und Rathenow gezwungen sind, ihren Lebensunterhalt teilweise außerhalb der Literaturindustrie zu verdienen, betrachte ich sie als Überlebende im öffentlichen Literaturbetrieb. Sie verfügen über ein verlässliches Publikum und haben einige Preise gewonnen: Papenfuß den Erich-Fried-Preis, Rathenow den Förderpreis zum Marburger Literaturpreis, den Konrad-Adenauer-Preis der Deutschland Stiftung und den Karl-Hermann-Flach-Preis. Von Rathenows Buch Sisyphos gab es immerhin drei vollständig verkaufte Auflagen. Seit 1995 sind 6.000 Exemplare verkauft worden, wovon Rathenow zehn Prozent des Ladenpreises erhält.
Neben Einkommenszahlen sagt die Anzahl der erschienenen Bücher viel über die Fähigkeit dieser Dichter aus, unter den neuen Umständen weiter zu schreiben. Papenfuß und Rathenow sind in ihren öffentlichen Aktivitäten nicht zu bremsen. Sie haben seit der Wende je circa zehn neue Bücher veröffentlicht. Papenfuß gibt die Zeitschrift SKLAVEN heraus. Rathenow ist der erste literarische Berater für die politische Zeitschrift Liberal. Man ist weder von der Aufführung eines Rathenow-Stückes im Saarland überrascht, noch von einem Papenfuß-Auftritt in einem szenischen Konzert in Dresden. Beide arbeiten sowohl als Solisten als auch mit Illustratoren und anderen Dichtern zusammen. Papenfuß tritt auch mit Musikern auf. Der Amazon- Verkaufsrang seiner Compactdisc NUNFT. FKK / IM ENDART NOVEMBERKLUB ähnelt dem von Erich Frieds Tondokument Zeitgenossen des Jahrhunderts.
Autoren nehmen am eigenen Marketing teil, indem sie sich und ihr Werk bekannt machen. Malcolm Gladwell analysiert das Phänomen „epidemischer Trends“. Laut Gladwell werden Trends von besonders kommunikativen Menschen propagiert. Diese machen Personen aus diversen Kreisen miteinander bekannt und geben dadurch Informationen in verschiedene gesellschaftliche Richtungen weiter. Lutz Rathenow war schon vor 1989 dafür bekannt, dass er über ,Verbindungen‘ verfügte. Die Anzahl seiner Kontakte ist damals wie heute beeindruckend. Durch Rathenows Vermittlung kam sogar Sascha Anderson mit seinem ersten Westverlag in Kontakt. In dieser Vermittlerrolle hat Rathenow viel dazu beigetragen, dass westliche Verlage die Prenzlauer Berg-Dichter ,entdeckten‘. Der Mythos Prenzlauer Berg kann zum großen Teil auf das Buch Ostberlin – die andere Seite einer Stadt in Texten und Bildern von Rathenow und Hauswald zurückgeführt werden.
Papenfuß und Rathenow organisieren auch eigene kulturelle Veranstaltungen. Sie unterscheiden sich dadurch von Schreibenden, die ihr literarisches Schicksal ausschließlich von Verlagslektoren abhängig machen. Ihre Öffentlichkeitsstrategien sind sonst sehr unterschiedlich. Beide leben in Berlin, aber Papenfuß konzentriert sich auf die lokale Kultur im Bezirk Prenzlauer Berg, statt sich wie Rathenow in die feuilletonistischen Debatten einzumischen. Unermüdlich organisiert Papenfuß Lesungen, Konzerte, Gespräche, Filmabende und Zeitschriften in Prenzlauer Berg. In einem Text in der Zeitschrift SKLAVEN von 1996 behauptet er:
letztlich will man doch nur mit sich selbst
& seinesgleichen
ins geschäft kommen […].
Gerade wegen dieser Exklusivität zieht es unbekannte Literaturbeflissene in den Prenzlauer Berg. Papenfuß gilt als lokaler Geheimtip und strahlt dadurch eine besondere Anziehungskraft auf sein Publikum aus. Im gesamtdeutschen Raum ist Rathenow allerdings bekannter als Papenfuß. Rathenow spielt in der Öffentlichkeit diverse Rollen und ist in verschiedenen Kreisen bekannt. Er liest an Schulen, aber auch für Erwachsene. Er liest in Groß- und Kleinstädten, im Osten und Westen. Er veröffentlicht in sozialistischen, liberalen und christlichen Zeitschriften sowie im Radio. Er ist als Dichter, Essayist, Redakteur und Dissident bekannt. Seine Rezeption unter Dichtern und Literaturwissenschaftlern in Berlin ist allerdings unverhältnismäßig unterentwickelt. Einen großen Anteil an seinem schlechten literarischen Ruf innerhalb der Szene hat sicherlich die Staatssicherheit.
Die Frage, welche Strategien zum Markterfolg führen, ist leichter zu stellen als zu beantworten. Marktforscher sind sich jedoch darüber einig, dass nicht nur das Produkt kritisch ist, sondern auch die Weise, in der es bekannt gemacht wird. Traditionell wird wenig in das Marketing von Lyrik investiert. In seiner Einführung zur Buchmesse 2000 in Die Zeit behauptet Ulrich Greiner, der Verkauf von Lyrikbänden sei immer defizitär. Im Gegensatz zu bei Suhrkamp erschienenen Autoren wie Barbara Köhler, Kurt Drawert oder Thomas Rosenlöcher findet man Bände von Papenfuß und Rathenow selten im Bestand von Buchläden. Noch seltener werden ihre Bücher im Schaufenster ausgestellt. Vom Verlag Januspress, der die gesammelten Werke von Papenfuß herausgibt, findet man sogar im Internet keine Spur. Druckhaus Galrev hingegen bietet eine ganze Papenfuß-Seite an, auf der seine Texte zitiert und besprochen werden. Außerdem wird die Autonomie des Verlagsprogramms durch die Kombination von Druckhaus und Verlag gewährleistet. Galrev-Auflagen betragen zwischen 700 und 1.000 Exemplaren. Etwa die Hälfte der Auflagen von mors ex nihilo, SBZ – Land und Leute und SOJA sind verkauft worden. Durch das Hybridmodell kann Galrev es sich (noch) leisten, seit zehn Jahren ,defizitäre‘ Gedichtbände anzubieten.
Was Verlage nicht für das Marketing von Lyrik tun, müssen die Dichter selbst nachholen. In einem Brief des Landpresse Verlags kündigt die Redakteurin Sabine Liebe Rathenow eine dritte Auflage des Buches Jahrhundert der Blicke an und schreibt diesen Erfolg dessen „reger Lesetätigkeit“ und der „intensiven Presseresonanz“ zu. Rathenow nahm auch an einem Projekt des Münchners Anton Leitner teil, bei dem Gedichte auf Zuckertüten gedruckt und diese auf Cafétische gestellt wurden. Diese Aktion lässt sich mit dem „Knochen-Experiment“ vergleichen, bei dem Papenfuß und andere 1993 eine selbst gemachte künstlerische Währung im Bezirk Prenzlauer Berg einführten. Rathenow selbst hält das „Knochen-Experiment“ für wichtiger als Leitners Zuckertüten-Aktion, Leitners Bemühungen sind jedoch durchaus ein Beispiel für die erfolgreiche Vermarktung von Dichtung. Beide Aktionen brachten Kreatives in den Alltag hinein und lockten gleichzeitig die Medien an. Die Institution Geld wurde durch Kunst verschönert, die Institution Dichtung wurde durch Zucker versüßt. Die Zuckeraktion ging auf Rathenowsche Art auf die Leser ein, während das Knochengeld-Experiment in Papenfußscher Art wiederum etwas Exklusives war. Rathenows literarische und essayistische Texte sprechen im Allgemeinen ein breites Publikum an. Dagegen setzen die Texte von Papenfuß ohne die Hilfe einer annotierten Ausgabe viele Kenntnisse über Welt- und Kulturgeschichte, Geographie und Etymologie voraus. Papenfuß muss auf Leser hoffen, die sich auf die Komplexität und Radikalität seiner Texte einlassen.
Wenn Rathenow in der TAZ in der Liste der „peinlichsten Berliner“ an 99. Stelle aufgeführt wird, ist das für seinen Buchverkauf nicht unbedingt negativ. Die Kunsthändlerin und Autorin Susan Abbott setzt voraus, dass auch negative Publizität für Künstler gut sei. Laut Abbot wird Kunst von bekannten Künstlern leichter verkauft als die von unbekannten.
Trotzdem werden Dichter durch Medien eingeordnet. In verschiedenen Kommentaren aus den letzten zehn Jahren wird Papenfuß zum Beispiel mit Militarismus und Revolution assoziiert. Auf der Galrev-Webseite nennt ihn Peter Böthig eine „lebende Bombe“ und einen „Kamikaze-Flieger“, der die „Soldaten der Resignation“ mobilisieren wolle. In der Literaturwissenschaft ginge es um die Genauigkeit dieser Metapher, in der Markforschung eher um die Anziehungskraft der Bilder. Obwohl Kamikaze-Flieger und Bomben eine gewisse Kraft ausdrücken, senden sie eine Botschaft von eintönigem Fanatismus, die nur auf einen Teil der Leserschaft zielt.
1998 präsentiert der Journalist Helmut Böttiger Papenfuß in der Frankfurter Rundschau herablassend als „altmodischen Bolschewisten“. Böttiger erlebt den Prenzlauer Berg als eine Reihe von klischeehaften Bildern eines überholten marxistischen Widerstands. Zum Beispiel beschreibt er die Kneipe Torpedokäfer als „letzten Hort des Widerstands gegen die kapitalistischen Invasionstruppen“ und verspürt „sowjetisches Pathos wie aus der Revolutionszeit“. In diesem Kontext wird aus Papenfuß der „Proleten – Poet“.
Böttiger schätzt die Subkultur als veraltet ein, nicht nur weil die Revolutionszeit der zwanziger Jahre weit zurückliegt, sondern weil sie das Kreuzberg der achtziger Jahre nachahme. Sie wird entwertet, weil West-Berliner etwas Ähnliches schon gemacht haben. Radikalität in der Kneipenkultur ist für Böttiger eine reine Modeerscheinung und keine gültige intellektuelle Diskussionskultur. Er hebt die passiven „Revolutionstouristen aus dem Westen“ hervor, statt die Beteiligten ernst zu nehmen. Es gibt in Böttigers Artikel einen wichtigen Widerspruch: Wenn die radikale Subkultur so veraltet ist, warum strömen die „Revolutionstouristen“ dann in den Prenzlauer Berg? Aus der marktforscherischen Perspektive scheint die Kneipenkultur im Prenzlauer Berg eine Marktlücke zu füllen. Sicherlich wirkt das Urteil der Zeitungen auf den literarischen Ruf der Dichter, aber im Rahmen der Kneipenkultur ist die Bekanntheit seiner Kultfigur wichtiger als die Details ihres literarischen Rufs. Durch seinen Artikel macht Böttiger unfreiwillig Werbung für die Prenzlauer Berg-Kneipenkultur. Es ist natürlich fraglich, ob dies den Buchumsatz erhöht. Der Zähler auf der Galrev-Webseite zeigt kaum mehr als 3000 Besucher in drei Jahren. Als Einkommensergänzung aber ist die Kneipenkultur wichtig: Papenfuß übernahm im Jahr 2000 das Kaffee Burger.
Im Gegensatz zu Papenfuß entdeckt Rathenow zusätzliche Textmärkte. Er profiliert sich als Kinderbuchautor und veranstaltet zusätzlich Schreibseminare. Er arbeitet auch als Radioessayist, weil das Honorar für politische Statements im Radio höher als das für Lesungen sei. Zusätzlich tragen Preise und Stipendien zur Einkommensergänzung bei.
In ihrem Eröffnungsvortrag hat Frauke Meyer-Gosau die Prenzlauer Berg-Dichter vor allem anhand ihres Markterfolges beurteilt. Aus der Sicht der Verlage seien die Dichter vor der Wende als „jugendliche Aussteigerbewegung“ interessant gewesen. Nach der Wende seien sie jedoch unbedeutend. Man könnte genauer analysieren, wie der Aussteigerstatus vor 1989 auf den Verkaufswert wirkte. War es der leicht oppositionelle Gestus, ihr jugendliches Alter, der Reiz der damaligen Gefahr durch das Regime oder etwas anderes, das sich gut verkaufte? Rathenow kontert, seine zu DDR-Zeiten (im Westen) herausgegebenen Bücher seien in kleineren Zahlen verkauft worden als heute. Von seinem Buch Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet wurden trotz der publizistischen Reaktion auf seine Verhaftung 1980 nur 2000 Exemplare verkauft. Das ihm auferlegte Lesereiseverbot habe die Medienaufmerksamkeit erhöht, aber den Buchverkauf verringert, denn gerade Lesungen seien für den Verkauf von Lyrik wichtig.
Nicht anders als in der Bitterfelder DDR wird in der heutigen Gesellschaft selten erwartet, dass der Alltag eines Dichters ausschließlich aus seiner literarischen Arbeit besteht. Nur die Dichter selbst wissen jedoch, welche Kombination von Brotarbeit und literarischer Produktion für sie produktiv ist und welche Verhältnisse anderseits ihre Kreativität dämpfen. Der Einfluss des Kaffee Burger auf die literarische Produktion von Papenfuß wird erst viel später entschlüsselt werden.
In der demokratischen kapitalistischen Gesellschaft muss man einerseits etwas produzieren, das andere begehren, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Andererseits sollte es, nach demokratischen Prinzipien, immer einen Ort des freien Ausdrucks außerhalb solcher wirtschaftlichen Gesetze geben. Leider sind diese zwei Tendenzen in einer Gesellschaft schwer zu vereinbaren. Eine Kultur, die nur aus kommerziellen Massenprodukten besteht, wird jedoch immer monoton und arm sein. Es gibt keinen Schriftstellerverband mehr, der wie in der DDR den Zugang zum Literaturmarkt regelt. Theoretisch kann jetzt jeder Text auf dem Markt erscheinen. Den meisten Menschen kommt der Verlag jedoch als ein anonymes allmächtiges Gericht vor, das entscheidet, wer publizieren wird und wer nicht. Die Prenzlauer Berg-Dichter bringen ein anderes Modell mit ins literarische Leben des vereinigten Deutschlands. Sie haben den Schriftstellerverband nicht als Gericht akzeptiert und geben diese Entscheidung auch nicht an die Verlagsindustrie weiter. Am Ende ist die Frage der Identität von großer Bedeutung. Die Dichter sind seit zwanzig Jahren unter schwierigen Umständen ,freiberufliche Schriftsteller‘. Kein Verlag wird deklarieren können, sie seien es nun nicht mehr.
Lisa Whitmore
Ein Vorwort
Der inoffiziellen Literaturszene der DDR sind in ihrer kurzen Geschichte in bemerkenswert schneller Folge Qualitäten zugeschrieben und wieder abgesprochen worden. Aus Disparatem konstruierte man ein autonomes literarisches Leben zwischen Elbe und Oder/Neiße – ein Gewicht, das für kurze Zeit nach der Wende sogar der mit dem Vorwurf einer Gesinnungsästhetik diskreditierten Literatur die Waage halten sollte. Es folgte die Demontage im Zusammenhang mit der IM-Tätigkeit führender Mitglieder der Szene, und es blieb zumindest die Frage, ob der ästhetische Druck auf versteinerte Verhältnisse nicht maßlos überschätzt worden war. Die Prozesse einer literaturgeschichtlichen Bewertung dieser Vorgänge gehen z.Z. den langen Weg durch die Instanzen. Vor diesem Hintergrund schien eine Bestandsaufnahme zur inoffiziellen DDR-Literaturszene im ersten gesamtdeutschen Jahrzehnt als ein zu gleichen Teilen heikles und vielversprechendes, also reizvolles Unterfangen. Ergebnis war eine vom Literaturforum im Brecht-Haus und dem Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität ausgerichtete zweitägige Konferenz im Juni 2000, für deren Titel ANKUNFT IST NUR EINE RANDERSCHEINUNG die Veranstalter u.a. so geistvoll gescholten worden sind wie von A. Koziol (vgl. seinen Beitrag in diesem Band).
Die Beiträge treffen sich in der zunächst simplen Frage, was aus den Autorinnen und Autoren der DDR geworden ist, die zwischen 1979 und 1989 auf die Publikationsmöglichkeiten in inoffiziellen Zeitschriften angewiesen waren. Geht man ihr nach, entsteht sehr schnell ein facettenreiches Problemfeld, vor dem zurückschrecken sollte, wer einen Gegenstand in kurzer Frist „abarbeiten“ möchte: Haben diese Autorinnen und Autoren Zugang zum gesamtdeutschen literarischen Leben gefunden, wenn ja, welche Rolle nehmen sie dort ein? Welche Rollenprofile haben sich herausgebildet, wie tauglich war, was man mitbrachte, für diesen Prozeß der Neukonstituierung? In welchem Verhältnis stehen die früheren zu den jetzigen Arbeiten? Haben sich ästhetische Konzepte von damals bewährt, konnten sie ausgebaut und entwickelt werden, oder haben sie sich mit dem Land, gegen das sie – mehr oder minder – opponierten, erledigt? Welche Einrichtungen befördern die Integration der Szene, von welchen wurde sie eher vereitelt? Welche der Autorinnen und Autoren haben sich durchgesetzt, welche scheiterten? Lassen sich Gründe für Erfolg und Misserfolg benennen, systematisieren, möglicherweise verallgemeinern? Hat eine gesamtdeutsche Literatur Verwendung für das, was aus dieser Literaturszene kam? Was wurde gelobt, gebilligt, verworfen oder ignoriert? Haben die Autorinnen und Autoren aus jenem Umkreis sich eigene literarische Institutionen, eigene Vermittlungsinstanzen geschaffen, um die Dominanz der westdeutschen zu unterlaufen? Was eigentlich haben sie geschrieben in den Jahren nach 1990? Konnten sie mit dem „Markenzeichen“ Prenzlauer Berg oder Untergrund-Autor zumindest eine Zeitlang wuchern, oder haben sie versucht, die Spuren dieses Stempels möglichst rasch zu tilgen, um frei davon, literarisch unbelastet zu arbeiten?
Für eine Diskussion der aufgeworfenen Fragen eignet sich der „Prenzlauer Berg“ nicht als trigonometrischer Punkt (wenngleich kaum prophetische Gaben nötig sind, dem vom Feuilleton verschlissenen Terminus „Literaturszene des Prenzlauer Bergs“ samt seiner Unschärfe einen festen Platz in der Literaturgeschichtsschreibung vorherzusagen). Sinnvoll erschien eine Bündelung in drei Problemfeldern, auf die die hier versammelten Beiträge in unterschiedlicher Gewichtung eingehen: 1. Die Ermittlung von Autoren- und Autorinnenprofilen, 2. Die Analyse ästhetischer Profile und 3. Die Untersuchung des Verhältnisses zwischen literarischen Institutionen und Kanonbildung.
Der Begriff Autorenprofil erweist sich als hilfreich, um die unterschiedlichen Wege zu verfolgen, die die Autorinnen und Autoren der inoffiziellen Literaturszene gegangen sind. Doch vor einer Systematisierung und einer wertenden Bestimmung von Autorenrollen wären die Betätigungsfelder der Autorinnen und Autoren möglichst umfassend zu begutachten, um ein geschlossenes Bild von der geleisteten literarischen Arbeit und ihrer Verwertung zu erhalten. Es hat erheblichen Aussagewert, wenn z.B. eine Autorin, die als Lyrikerin begann, jetzt essayistische Reportagen verfasst, historisches Material ediert und gewissenhaft bemüht ist, über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ein ihr gemäßes literarisch-kulturelles Umfeld zu besetzen. Sollen die tatsächlichen Autorenprofile untersucht werden, ist zu berücksichtigen, dass sie nicht selten von für den Markt entworfenen Rollenbildern – Selbststilisierung und Zuschreibungen – „übermalt“ sind. Unerlässlich wäre – weit über das in dieser ersten Bestandsaufnahme Realisierbare hinaus – die Ermittlung von Daten zu Lebensort (sozialem und regionalem Umfeld), Lebensunterhalt, Beruf (literarisch und nicht-literarisch), schriftstellerischer Praxis, Aktivitäten und Stellung im Kultur- und Literaturbetrieb (in Vereinen, Gruppierungen, Gesellschaften), Verlagsbindung(en). Auch die Frage, wie Parteibindungen oder Annäherung an politische Gruppierungen (bzw. deren Verweigerung) das Autorenprofil beeinflussten, gehört in diesen Kontext. Für die Dokumentierung solcher Daten ist es vielleicht höchste Zeit: Fakten DDR-spezifischer Sozialisierung werden schon jetzt in vielen Biographien verkürzt wiedergegeben. Man mag dies als Zeichen einer Normalisierung ansehen, doch wirken dahinter offenbar Anpassungszwänge, über die eine Beschreibung der Literaturverhältnisse dieser Übergangszeit nicht hinwegsehen kann.
Die Analyse ästhetischer Profile rückt die Frage in den Mittelpunkt, wie Poetiken (und bisherige Versuche ihrer Darstellung) die Auflösung ihres bis 1989/90 geltenden Bedingungsgefüges ausgehalten haben. Die Entscheidung, ästhetische Entwicklungen im Blick auf das Werk ausgewählter Autoren und Autorinnen zu verfolgen, erhielt hier den Vorzug gegenüber Beobachtungen, z.B. auf dem Gebiet der Entwicklung einer Gattung. Für die Beschreibung der Szene sind Formeln wie DADA, l’art pour l’art, Avantgarde, Hermetismus oder Klandestinität angeboten worden. All diese Begriffe suchen Phänomene eines Raums zu bezeichnen, der von den Akteuren und ihren Werken gegen eine Bevormundung in ästhetischen Fragen besetzt gehalten wurde. Gezeigt hat sich zumindest, dass diese Besetzung nach einem Zwischenspiel im Zentrum der Aufmerksamkeit nicht einfach fortgesetzt werden konnte. Auf der Suche nach neuen Kenntlichkeiten können Fragen nach dem Verbleib der alten hilfreich sein: Ist „subversiv bleiben“ nur eine hilflose Beschwörungsformel im November 1989 gewesen, oder kann sie als ästhetische Subversivität dem Widerspruchsgeist ein Bleiberecht sichern? Erweisen sich dabei „Ungefälligkeit Nichtanbiederung Unverhurbarkeit und Anziehungslosigkeit“ auf Dauer als produktives ästhetisches Konzept? War der „linguistic turn“ (im Werk von Papenfuß, Faktor, Döring u.a.) eine geschickte Meidbewegung, auf die nun Jahre sprachspielenden Leerlaufs folgen, oder hat er selbst eine Schneise geschlagen, die auch in den neunziger Jahren sichtbar bleibt?
Für das Verhältnis von literarischen Institutionen und Kanonbildung gilt: Jede neu entstehende Literatur muss sich ihre – vielleicht nur befristete – Zugehörigkeit zum „akuten Kanon“ erstreiten, und sie tut dies nicht nur kraft ihre Produzenten und des ästhetischen Gehalts der Texte. Ob sie einen kometenhaften Aufstieg erfährt, zum Geheimtip avanciert, sich dauerhaft durchsetzen kann oder scheitert, wird von einer Vielzahl von Institutionen mitentschieden. Verlage und Zeitschriften, das Feuilleton der Tageszeitungen, Literaturhäuser, literarische Cafés, Vereine, Literaturseminare an Universitäten, Jurys für die Vergabe von Preisen und Stipendien – sie alle sind in spezifischer Weise damit beschäftigt, der Literatur Öffentlichkeitsbereiche zuzuteilen, Wertungen vorzunehmen und Deutungen zu liefern, was schließlich auch über den ökonomischen Erfolg eines Buches entscheidet und über Möglichkeiten, vom Schreiben zumindest für eine bestimmte Zeit zu leben.
Die Wirkungsweisen solcher Institutionen und ihres Zusammenspiels bei der Kanonisierung von Autorinnen, Autoren und Texten der inoffiziellen DDR-Literatur nach 1989 sind bislang kaum erkundet worden. Zu fragen ist dabei auch nach der sich verändernden Funktion von Mentoren, Verlegern, Sammlern, Mittlern, Kritikern, Integrationsfiguren und Organisatoren. Den Mechanismus solcher Kanonisierungsprozesse, einschließlich der damit einhergehenden Ausschlüsse und Marginalisierungen, wird weiter nachzugehen sein.
Diese hier kurz umrissenen Problemfelder sind freilich von einer Ausdehnung, die Arbeit weit über den Redaktionsschluß dieses Bandes hinaus verspricht. Auf jedem dieser Gebiete ist zudem zu beobachten, daß die Vielfalt der für eine Beschreibung des literarischen Lebens bedeutsamen Phänomene nach der Wende zunimmt – „Zersammlung“ war nicht nur der Titel einer legendären Veranstaltung des Jahres 1984, sondern auch ein unumkehrbarer Prozeß. – Was für diesen Band zusammengetragen werden konnte, nimmt dem Spektrum offener Fragen wenig von seiner Breite. In diesem Sinne bekennt sich die hier vorgelegte Bestandsaufnahme zur Vorläufigkeit und versteht sich auch als Material für weitere „Recherchen“.
Die Herausgeber, Berlin, Januar 2001
Annett Gröschner: Szenenwechsel
Frauke Meyer-Gosau: Zu Markte getragen.
Texte vom Prenzlauer Berg in der BRD
Lisa Whitmore: Zwei Dichter und der Markt.
Bert Papenfuß und Lutz Rathenow
Birgit Dahlke: Zwischen Authentizität und Alltagsgeschichte.
Gabriele Stötzer und Annett Gröschner
Uwe Schoor: Heraustreten aus selbstverschuldeter Müdigkeit.
Zwei unaufgefordert schreibende Arbeiter.
Wolfgang Hilbig und Gert Neumann
Kristin Schulz: Andreas Koziol oder die Gabe der zugespitzten Zunge
Andreas Koziol: „Ankunft ist nur eine Randerscheinung?“
Jan Böttcher: Zersplittern und Vereinzeln.
Johannes Jansens Ausschreiten des (auto-)biographischen Raumes
Anthonya Visser: Beim Wort genommen.
Zur Bildkraft von Barbara Köhlers Texten
Barbara Köhler: WORDS FOR WINDOWS 1
Sieglinde Geisel: Scheinheiligkeit als poetisches Verfahren.
Detlef Opitz
Johannes John: „… die eigene Erfahrung behaupten“.
Zur Lyrik und Poetik Uwe Kolbes
Carena Schlewitt: Veränderte Topographie des deutschen Theaters nach 1989…
Elke Erb: Texte
Michael Kämper-van den Boogaart: Die inoffizielle Literaturszene der DDR und der literarische Kanon der Bundesrepublik.
Systematische und empirische Anmerkungen
Roland Berbig: Zwischen Klagenfurt und Rheinsberg.
Literarischer Sängerstreit und Stadtschreiberei.
Thesen zum Stichwort „Literaturpreis“
Kerstin Hensel: Lesen und Lesenlassen
Kateri Jochum, Nicola Schnell: Literarisch-künstlerische Zeitschriften:
Sammlerstück oder Periodikum?
Jan Faktor: Epiker an Georgs Seite beim Stauen des Gesprächsflusses (Auszug)
des Literaturforums im Brechthaus und dem Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität im Juni 2000 unter der Überschrift „Ankunft ist nur eine Randerscheinung“ macht sich die Bestandsaufnahme der inoffiziellen DDR-Literaturszene im ersten gesamtdeutschen Jahrzehnt zum Gegenstand. Die Beiträge treffen sich zunächst in der Frage, was aus den AutorInnen der DDR geworden ist, die zwischen 1979 und 1989 auf die Publikationsmöglichkeiten in inoffiziellen Zeitschriften angewiesen waren. Über die Analyse von Autorenprofilen werden die verschiedenen Wege verfolgt, die die AutorInnen dieser Literaturszene gegangen sind. Produktionsbedingungen spielen bei der Entwicklung poetisch-ästhetischer Konzepte ebenso eine Rolle wie die Mechanismen von Kanonisierungs- bzw. Ausschlussprozessen durch Kulturinstitutionen der DDR.
− Ein Abgesang auf den Prenzlauer Berg – und eine Erinnerung an den großen Dichter Adolf Endler. −
Es soll einmal eine Zeit gegeben haben, da sind die Menschen, die Künstler selbstverständlich auch, die Besten der Besten, beinahe in Agonie verfallen. Es hätte wahrhaft nicht viel gefehlt und die Menschen wären in jener angesagten Region verblödet. Zu reden ist von Prenzlauer Berg, dem Stadtbezirk mit auffallend hohem Künstleranteil, was allein schon verschiedenste Ängste, Größenwahn und existenzielle Auswüchse mit sich bringt.
Unterstellung schafft Misstrauen, Schuld, Außenpolitik. Die seelische Unruhe Einzelner ruft den Staat auf den Plan. Die Ministerien bilden Fettaugen aus, heuern Schleifsteine an, schicken Hornochsen und Hornissen. Der Kampf ums Eigene führt geradewegs in die Pantomime. Der Kampf um die internationale Anerkennung beginnt mit der Gedichtzeile dessen, der hohnlacht. Hohnlachen schafft die schönsten Balladen. Und: Die Liedermacherei ist eine völlig überbewertete Kunstform. Losungen fordern Schmähreden heraus. Chorgesang bedient sich übler Nachreden. Hetze wird Koloratur. Der stumme Schrei ist immer noch Widerstand im Kleinen.
Wie was zu dem wurde, zu dem es geworden ist, von dem wir meinen, es zu kennen: Die Prenzlauer-Berg-Szene muss endlich als das gewertet werden, was sie von Beginn an war – ein überladener Frachter, ein Hirnschiff, eine Barkasse, die sich selbst für etwas Größeres hielt. Gechartert von einer Crew, die sich als Ziel der Reise sah und nach außen vorgab, nach A.R. Penck-Hausen unterwegs zu sein. A wie Anmut, Anhöhe, Anarchie. R wie Ruhe, Ruhm und Rum. Man wird vielleicht staunen, was von all dem Seemannsgarn später noch in den Geschichtsbüchern vermerkt ist. Oder man wird vergeblich suchen, und niemand wird je nachvollziehen können, worum es einmal ging, als es um etwas zu gehen schien, was wirklich wichtig war; so wichtig, dass es vergessen wird. Die Chancen für ein völliges Vergessen stehen unerwartet gut.
Spätestens mit dem Tod von Adolf Endler im vorigen Jahr – er hätte am Montag seinen 80. Geburtstag gefeiert – hat sich der Prenzlauer Berg als kreative Nische erledigt. Vom ganzen Rummel bleibt am Ende nur die Erinnerung, eine anrührend flimmernde Fassade. Und ein paar Namen werden bleiben. Manch eine Aktion verdient das Prädikat engagiert, nicht ohne einen gewissen Charme. Es wurde gesungen, gemalt, gelesen, gefetet, gekrochen, geröhrt, gestottert, gehauen. Es wurde gestochen, geschwiegen, gerockt und mitunter richtig gut gemeinsame Sache gemacht. Aber immer auch gleich dokumentiert. Mitunter war das Dokumentieren von Aktivität die Aktivität schlechthin. Oft fanden die Protagonisten in großer Gruppe zusammen. Per Familienfoto in ausgeklügelter Aufstellung dokumentiert. In geräumigen Zimmern, anheimelnden Küchen. Hier und da bildeten sich zarte Grüppchen, streitbare Kleinstkollektive, kunsthandwerkliche Freundschaftsgruppen.
Man wollte schon etwas tun, gegen etwas sein, den Staat anknurren, die Bonzen spießen, Spießer peitschen, Bürger schrecken. Nur bringt das, was nachhaltig genannt werden kann, eine arg magere Ausbeute. Das Fazit lautet: Mehr als gewesen ist, ging nun wirklich nicht. Mehr als nicht geworden ist, kann nicht aufgelistet werden. Was wer gemeint, gesagt, gewollt, bewiesen hat, wo der Hebel hätte vielleicht angesetzt werden sollen, das ist nicht mehr von Bedeutung. An welchem Tag eventuell wer wem in die Suppe hätte spucken müssen, lässt sich am Kneipentisch zum x-ten Male erzählen. Wer Ohren hingehalten bekommt, darf sie ruhig stopfen.
Bloß, mit dem Mauerfall bekam das Leben in Prenzlauer Berg und darüber hinaus eine ganz andere Sinnlichkeit übergeholfen. Die früheren, jedermann in der Sackgasse dienlichen Grundlagen und begünstigenden Lebensbedingungen zum Schaffen wie zum Erhalt und Ausbau von Kunst sind abgeschafft. Anstelle von Muße und Kopfanarchie stülpten sich die Komponenten des ganz gewöhnlichen kapitalistischen Alltags über uns, als wären wir alle nur Einkaufstüten und Einwegflaschen.
All die neuen, ungefragt jeden freien Platz besetzenden Hirsche trugen zu ihren Machenschaften ein Gesicht. Die ernüchternde Brutalität der Veränderung zum deutschen Gesamtwesen verteilte Visitenkarten, tönte von Plakaten, Briefkastenzetteln, gab voll den Ton an, überstimmte alles und jedermann, machte gestandene Leute zu Wabbelmasse. Der Pudding der Apokalypse, wie einer von Endlers Gedichtbänden heißt. Oder um jetzt hintereinanderweg einmal mit den Buchtiteln Adolf Endlers treu in chronologischer Reihung zu kommentieren: Es zog eine Zeit auf, die den Morgenruf Erwacht ohne Furcht gebraucht hätte, den Weg in die Wische anzutreten, wo es galt, das Sandkorn zu finden, das ins Getriebe geworfen gehört, den Lauf der Dinge zu stören. Denn wir wollen nicht die Kinder der Nibelungen sein, Verlierer in diesem besseren Land. Nackt mit Brille. Man hat immer Zwei Versuche, über Georgien zu erzählen. Das Leben ist ein langer Reisebericht. Verwirrte klare Botschaften erreichen uns eh nur über die Gedichte, die Nadeln sind in Nadelkissen. Oder uns spricht Prosa an, der Akte Endler entnommen, Gedichte aus 30 Jahren, die einer nur schrieb und einer nur schreiben konnte, der Tarzan am Prenzlauer Berg war, der Tagebuch führte, ohne Nennung von Gründen, Prosa stapelte, Prosa stach, wie man Torf sticht, Schichtenflotz zu erlangen, die pflanzliche Absonderung, die durch innerliche Austrocknung hart wird, im Lebenskamin lodert.
Denn das Leben ist für den, der es zu gestalten weiß, eine Fortsetzungszüchtigung, gegen die wir alle anzulaufen haben, die wir ein bisschen vom Schlag der alten Griechen sind: „Und weiter sah ich den Sisyphos in gewaltigen Schmerzen: wie er mit beiden Armen einen Felsblock, einen ungeheuren, fortschaffen wollte. Ja, und mit Händen und Füßen stemmend, stieß er den Block hinauf auf einen Hügel. Doch wenn er ihn über die Kuppe werfen wollte, so drehte ihn das Übergewicht zurück: Von neuem rollte dann der Block, der schamlose, ins Feld hinunter. Er aber stieß ihn immer wieder zurück, sich anspannend, und es rann der Schweiß ihm von den Gliedern, und der Staub erhob sich über sein Haupt hinaus“ (Homers Odyssee, 11. Gesang, 593–600. Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt).
Vorbildlich schleimlösend, nicht Homer, der auch, nein, die späte Prosa Adolf Endlers, als er zu Essays sich aufschwang, die keine Fragen mehr offenlassen. Die Antwort des Poeten sind die besten Sudelblätter, deren einer schreibend fähig ist. So etwas wie die rücksichtloseste Warnung vor Utah, das absolute Einreiseverbot in Form des lockendes Reisebuches. Da hat einer nun endlich das Greisenalter erreicht, kann ungestört, unbehelligt, ja vielleicht auch nur noch auf den schnöden Nachruhm hinaus ins nahezu leere, verwaiste All schweigen, schreiben, reden. Alte und neue Gedichte streiften uns, ob nun in Aschersleben wohnhaft oder im Arsch der Welt. So sieht sie nun einmal aus: Eine deutsche Karriere auf der künstlerischen Ebene durch Täler, den Höhen zu, nur über die Krähenüberkrächzte Rolltreppe zu erreichen, für Nicht-Insider hier einmal fast beamtisch gesprochen: Neunundsiebzig kurze Gedichte aus einem halben Jahrhundert genügen für den Anfang aufs Ende zu. So weit Endler original in Titeln und Thesen.
Um zu wissen, wie es sich mit der Zunge angefühlt hat, um zu fühlen, wie es zum Ohr hinein im Hirnkosmos verrauschte, hier ein Zitat Endlers aus seiner Rede zum Bremer Literaturpreise im Jahr 2000: „Ich selber auch wundere mich ja zuweilen über die halsbrecherisch anmutende Zickzackroute, die ich nicht nur zwischen den extremen Polen Sozialistischer Realismus und Dadaismus/Surrealismus, sondern nicht minder zwischen Mecklenburg und Oberlausitz, Berlin-Mitte und Leipzig-Connewitz gekurvt bin. Schon als Dreißigjähriger, ich erinnere mich genau, habe ich mich manchmal gefragt: Na, ob du das noch lange aushältst? Und auch heute stehe ich von Zeit zu Zeit vorm Spiegel und prüfe mein nunmehr zerknittertes Auge: Wie ist es möglich, daß du überhaupt noch lebst, dirty old man?“
Die verstörende Zeit, der komplexe Umbau, Abbau des Prenzlauer Berges wie eine Notoperation ohne Notwendigkeit. Nur keine Bange. Um Endler bleiben einige Autoren gruppiert, wie Krähen, die Toten und die Lebenden eben, bei seinem Grabsteinen hockend, Wache schiebende, das Jahr hindurch getreue Vögel. Eine Handvoll Dichter-Kollegen vom nunmehr zerspellten Prenzlauer Berg (Andreas Koziol, Frank-Wolf Matthies, Jan Faktor, Wolfgang Hilbig), durch deren Gedichte, Essays, Erzählungen ich gleißend hin- und hergeistere, dass es nur so fetzt. Ich möchte bei dem Barock, dem Futurismus, dem Realexistenten der damaligen Zeit, einige noch benennen: Johannes Jansen, Leonhard Lorek, Brigitte Struzyk, Florian Günther, Dieter Kerschek, Gerd Adloff, Cornelia Schleime, Detlef Opitz, Gert Schönfeld, aber auch Peter Brasch, Jayne-Ann Igel, und die Kacholdgabi natürlich und Wüstefeldmichael, auch wenn da von mir einige Dichter beigemengt worden sind, die keinen Nachweis auf Prenzlauerberg-Zugehörigkeit erbringen müssen, wo es doch um ist und aus mit dem Bezirk.
Neben Endler nenne man stellvertretend für alle Zukurzgekommenen einen weniger wackligen Wackeren: Bert Papenfuß. Aus der ersten allgemeinen Verunsicherung der insgesamt verunsicherten gesamten Zittertruppe reagierte Papenfuß so angenehm rasch und früh und weise im Voraus, indem er sagen konnte, was er unheilvoll aufziehen sah. Dass nun die Zeit des Umzugs gekommen ist, sprich: dass der Prenzlauer Berg nunmehr in Mitte stattfindet. Wer es noch beherrscht, wer es nicht lassen kann, widme sich weiterhin der Konspiration und Geheimniskrämerei, der Paranoia und den gegenseitigen Verdächtigungen.
Katharina Angus: Freiraum ohne Freiheit
Prenzlauer Berg Nachrichten, 30.7.2021
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