FEIND GENUG
Bin schon lang im Land und laß mich leben
War mir Feind genug – rang mit mir selbst
War mal über mir und mal mir unterlegen
Dann bezwang ich mich – hab mich ergeben
Fehlte grade noch daß du mich überfällst
Du triffst mich oft und findest mich daneben
– Ich hab mich überlebt und bleib verschont
Dann steh ich wieder auf und kämpf dagegen
Mein Schatten gibt sich kühl und überlegen
Er kennt ja auch die Welt die nach mir kommt
Kennst du das Land in dem die Toten leben
Dort hab ich seinerzeit möbliert gewohnt
Sie hatten dort die besten Bibliotheken
Und alle Schatten wollten was bewegen
Sogar die Macht war dort hinter dem Mond
Vorm Fenster und seit Stunden fällt ein Regen
Ich seh es, denk: er fällt – drum kommt er an
So käme ich nie an – ich schließ die Läden
Du kommst – das ist ein Grund sich zu erheben
Wir werden eins wie einst bevor der Krieg begann
(1999)
Andreas Koziol
Nachwort
In diesem Land heißt diese Anthologie, die Gedichte vereint, die zwischen 1990 und 2010 in deutscher Sprache geschrieben wurden. Die in der Schweiz und in Österreich entstandene Lyrik haben wir nicht berücksichtigen wollen – eine Ausnahme bilden Oswald Egger, Eugen Gomringer und Gerhard Rühm, die seit vielen Jahrzehnten in Deutschland leben. Seit es dieses Land gibt, ist Deutschland in der Dichtung gefeiert und verflucht worden, Hymnen von einzigartiger Schönheit stehen neben Gedichten, die die deutschen Verhältnisse schonungslos anprangern, Deutschland war und ist den Dichtern Heimat und Trauma zugleich, an ihm haben sie sich die Stirn wund gerieben, und es lässt ihnen weiterhin keine Ruhe.
Wichtige Autoren wurden 1933 ins Exil getrieben, Kehrten sie, wie Bertolt Brecht, nach langer Abwesenheit zurück, war das mit der Hoffnung verbunden, „dass ein gutes Deutschland blühe / Wie ein andres gutes Land.“ Andere Schriftsteller, wie Nelly Sachs, blieben in dem Exilland, in dem sie vor der Verfolgung Zuflucht fanden, Brecht hat der „Kinderhymne“ den Wunsch auf ein geeintes, „gutes Deutschland“ eingeschrieben, das „Von der See bis zu den Alpen / Von der Oder bis zum Rhein“ reichen sollte. Doch ein geteiltes Deutschland blieb bis 1989 politische Realität. Vom zerrissenen Vaterland ist in vielen Gedichten die Rede. In Wolf Biermanns Gedicht „Mein Vaterland, mein Vaterland“ heißt es, an Heine erinnernd:
Mein Vaterland, mein Vaterland
Hat eine Hand aus Feuer
Hat eine Hand aus Schnee
Und wenn wir uns umarmen
Dann tut das Herz mir weh
Diesen deutschen Dichter zwangen die DDR-Mächtigen 1976 ins Exil, als sie ihm die Rückkehr aus Deutschland-West nach Deutschland-Ost verweigerten. Als Reaktion auf seine Ausbürgerung verließen viele Schriftsteller die DDR.
Achtunddreißig Jahre war die Mauer das Symbol des kalten Krieges. Als sie fiel, war die Euphorie groß. Inzwischen sind seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 zwanzig Jahre vergangen. Das Land hat sich während dieser Jahre nachhaltig verändert. Es schien uns von daher legitim, danach zu fragen, wie die Dichter dieses nach der „Wende“ von 1989 neu, größer und anders gewordene Land in ihren Versen vermessen haben. Welchen Themen, Ereignissen und Vorgängen wenden sie sich in den nach 1990 entstandenen Gedichten zu? Was berührt und bedrängt sie, was beglückt und besorgt die in diesem Land lebenden Dichter und jene, die bis zu ihrem Tod im wiedervereinten Deutschland lebten? Wodurch zeichnen sich die in diesen zwanzig Jahren entstandenen Gedichte aus? Überwiegt eitle Nabelschau, arbeiten sie sich an Details ab, oder rücken sie politische Fragen in den Vordergrund? Neben diesen inhaltlichen Aspekten war uns bei der Auswahl wichtig, auf welche Formen dabei zurückgegriffen wird.
Der Titel unserer Anthologie In diesem Land, Gedichte aus den Jahren 1990-2010 stellt bewusst eine Beziehung zu zwei Lyrik-Anthologien her. Die eine erschien 1966 in der DDR unter dem Titel In diesem besseren Land. Gedichte aus der Deutschen Demokratischen Republik seit 1945, die andere kam zwölf Jahre später unter dem Titel In diesem Lande leben wir in der Bundesrepublik heraus. Während in der Ostanthologie Gedichte aus dem Westen fehlen, enthält die im Westen veröffentlichte auch Gedichte von Lyrikern aus der DDR. Die Herausgeber der Lyrikanthologie In diesem besseren Land, Adolf Endler (1930–2009) und Karl Mickel (1935-2000), beide Lyriker, nahmen in ihre Anthologie 160 Gedichte von 34 Lyrikern auf (mit Inge Müller und Sarah Kirsch waren nur zwei Lyrikerinnen vertreten). Erklärtes Ziel der Herausgeber war es, die „stärksten Gedichte aufzufinden, die auf dem jetzigen Territorium der DDR entstanden sind“. Noch vor dem Erscheinen sorgte das Auswahlverfahren für einen Eklat. Den Herausgebern wurde vorgeworfen, sie würden eine Umwertung der sozialistischen Lyrik in der DDR vornehmen, da sie eine Reihe bis dahin unbekannter Lyriker in die Auswahl aufnahmen, während sie auf namhafte Autoren verzichteten, Ein Jahr nach dem berüchtigten 11. Plenum von 1965 – dem sogenannten „Kahlschlag- Plenum“ – hatten es die Schriftsteller in dem vermeintlich „besseren“ Land schwer, Texte zu veröffentlichen, von deren Bedeutung sie überzeugt waren.
Während die titelgebende Verszeile der 1966er Sammlung dem Gedicht „Brief“ von Heinz Czechowski entnommen ist, greift Hans Bender für den Titel der von ihm herausgegebenen Anthologie auf die Zeile „In diesem Lande leben wir“ aus Wolf Biermanns Gedicht „Das Hölderlin-Lied“ zurück. Am Schluss der ersten Strophe dieses Gedichts heißt es klagend und anklagend zugleich: „In diesem Lande leben wir wie Fremdlinge“. Die Erfahrung, fremd im eigenen Land zu sein, wurde für eine Reihe von Autoren nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976 – Helga M, Novak war bereits 1966 die Staatsbürgerschaft der DDR aberkannt worden – zur unlebbaren Realität. Thomas Brasch, Sarah Kirsch, Günter Kunert, Reiner Kunze, um nur einige zu nennen, verließen die DDR und zogen in die Bundesrepublik. Durch das Land ging, wie es Hans Bender in seinem Nachwort formuliert, ein Riss. Seine Anthologie hätte in der DDR nicht erscheinen können, weil sie auch Gedichte dieser „Abtrünnigen“ enthielt. Zu tief waren die politischen Gräben. Bender hatte für seine Anthologie Gedichte ausgewählt, in denen gesagt wird, was „nicht stimmt“ und „was nicht sein kann“. Doch es ging ihm um mehr. Er wollte nicht nur die Unterschiede ausweisen, sondern auch die auffälligen Gemeinsamkeiten zwischen den Ost- und West-Autoren herausstellen. Während die von Endler/Mickel ausgewählten Gedichte aus einem Zeitraum von mehr als zwei Jahrzehnten stammen, sind die 250 Gedichte von 111 Lyrikern, darunter 20 Lyrikerinnen, die Hans Bender in seine Anthologie aufgenommen hat, in den letzten vier Jahren entstanden.
Unsere Anthologie resümiert das dichterische Schaffen der letzten zwanzig Jahre in Deutschland. Historisch gesehen sind zwei Dezennien ein kurzer Zeitraum. Sieht man sich allerdings die Entwicklung der Lyrik an, dann fallen bemerkenswerte Veränderungen auf. Wir haben 101 Autoren aus Ost und West in die Anthologie aufgenommen, wobei es unser Anliegen war, das Spektrum durchaus weit zu fassen, um möglichst viele lyrische Ausdrucksformen in der Anthologie vorstellen zu können. Von jeder Lyrikerin, jedem Lyriker haben wir vier Gedichte ausgewählt, die in den letzten zwanzig Jahren entstanden sind. Auf den ersten Blick sind vier Gedichte nicht viel. Ruft man sich allerdings in Erinnerung, dass Gottfried Benn der Meinung war, dass keiner „der großen Lyriker unserer Zeit […] mehr als sechs bis acht vollendete Gedichte hinterlassen“ hat, markieren ,vier, Gedichte eine vertretbare Zäsur. Wichtig war uns, dass die ausgewählten Gedichte durch ihre ästhetische Qualität überzeugen und so einen Eindruck vermitteln, was im Medium der Sprache geformt werden kann. Um noch einmal Gottfried Benn zu zitieren: „Ein Gedicht muss entweder exorbitant sein oder gar nicht“. Ernst Jandl sprach vom Gedicht als „Rache der Sprache“. Als Rächende wollen sich Kurt Drawert, Gerhard Falkner, Robert Gernhardt, Kerstin Hensel oder Rainer Kirsch nicht verstehen, wenn sie Dialoge mit Goethe, Heine, Hölderlin oder Petrarca eröffnen. Sehr bewusst stellen sie sich in eine bestimmte Traditionslinie.
Entscheidend für unsere Auswahl war es nicht, dass die Gedichte Defizitäres benennen. Wir haben die Eigenarten dichterischen Sprechens respektiert und keine Ausschlusskriterien von außen an die Gedichte herangetragen. Ausgewählt haben wir Gedichte, die uns in ihrer eigenwilligen sprachlichen Gestaltung besonders gelungen erschienen. Liebesgedichte sollten mehr zur Sprache bringen als verzücktes Gestammel und politische Gedichte mehr artikulieren als gefällige Überzeugungen. Gründlich muss – so jedenfalls erscheint es uns – der Eindruck korrigiert werden, bestimmte Themen würden in der deutschen Gegenwartslyrik ausgespart werden. Wer genau hinschaut, findet alle Formen und Aspekte lyrischen Sprechens in beachtlicher Qualität. Auch deshalb schien es uns geboten, diese Anthologie thematisch und ästhetisch breit aufzustellen und Landschafts- oder Weltanschauungsgedichte ebenso aufzunehmen wie Verse, die zur konkreten oder visuellen Poesie zählen. Es war also weder an einen politischen Chorgesang noch an einen landschaftsinspirierten Rundgesang gedacht, sondern die Anthologie versteht sich als ein heterogenes lyrisches Ensemble. Weder die Gedichte noch ihre Verfasser sollten einem Auswahlkriterium genügen, Uns hat interessiert, wie in diesem Land in den letzten zwanzig Jahren gedichtet worden ist, und wir wollten jene Gedichte herausheben, von denen wir überzeugt sind, dass sie bleiben werden. Verzichtet haben wir darauf, die Gedichte nach thematischen Gesichtspunkten zu gliedern. Eine solche Anordnung wäre Gefahr gelaufen, die inhaltlichen Kriterien stärker als die ästhetischen zu betonen. Wir haben uns für eine alphabetische Anordnung nach den Autorennamen entschieden. Die Gedichte Henning Ahrens’ stehen am Anfang, die von Gerald Zschorsch am Schluss des Bandes. Durch diese Anordnung vermag sich die Intensität einer lyrischen Stimme intensiver Gehör zu verschaffen, im günstigsten Fall gelingt es darüber hinaus, dass die vier Gedichte untereinander einen Dialog eröffnen.
Es war unser Wunsch, jedes in die Anthologie aufgenommene Gedicht mit seinem Entstehungsdatum zu versehen, weshalb wir die Lyrikerinnen und Lyriker, ihre Erben, Nachlassverwalter und ihre Verlage gebeten haben, die Gedichte zu datieren oder uns bei der Datierung behilflich zu sein. In den meisten Fällen ist es uns gelungen, diese Angaben einzuholen. Dass nicht unter jedem Gedicht das Entstehungsjahr vermerkt ist, liegt allerdings nicht nur daran, dass einige Autoren ihre Gedichte nicht datieren.
In der Anthologie In diesem besseren Land sind Adolf Endler und Karl Mickel ebenso vertreten wie Heinz Czechowski, Volker Braun, Sarah Kirsch, Rainer Kirsch und Günter Kunert. Gedichte dieser Lyriker finden sich auch in dem von Hans Bender herausgegebenen Band In diesem Lande leben wir, und sie sind nun auch in unserer Anthologie vertreten. Das spricht für diese Dichter, deren Namen seit Jahrzehnten ebenso genannt werden wie die von Helga M, Novak, Oskar Pastior, Durs Grünbein, Peter Rühmkorf oder Robert Gernhardt, wenn von den wichtigsten lyrischen Stimmen dieses Landes die Rede ist. Ihnen, die damals zwischen 30 und 40 Jahre alt waren, stehen mit Steffen Popp, Jan Wagner, Ron Winkler oder Uljana Wolf Lyrikerinnen und Lyriker zur Seite, die heute in vergleichbarem Alter sind. Während einige der älteren Schriftsteller drei politische Systeme erlebt haben, blieben den jüngeren vergleichbare Zäsuren in ihrem Leben erspart. Dennoch findet sich kein Hinweis, dass diese Generation deshalb unpolitischer wäre. Es gibt überhaupt erfreulich wenig Grund, sich um die Dichtung dieses Landes zu sorgen. Um die Lyrik ist uns gar nicht bang, ließe sich ein Gedichttitel Wolf Biermanns abwandeln.
Michael Lentz / Michael Opitz, April 2010
Seit es dieses Land gibt,
ist Deutschland in der Dichtung gefeiert und verflucht worden. Hymnen von einzigartiger Schönheit stehen neben Gedichten, die die deutschen Verhältnisse schonungslos anprangern. Deutschland war und ist den Dichtern Heimat und Trauma zugleich. An ihm haben sie sich die Stirn wund gerieben, und es lässt ihnen weiterhin keine Ruhe. Als nach achtunddreißig Jahren die Mauer fällt und am 3. Oktober 1990 ein neues Land entsteht, gibt es neben großer Euphorie auch tiefe Skepsis. In den zwanzig Jahren seines Bestehens verändert sich das wiedervereinigte Deutschland. Die gegenwärtige Lyrik beschreibt es und erfasst seine Umbrüche. Entstanden ist das Porträt eines jungen Landes und seiner aktuellen Dichtung, ein umfassendes Dokument der jüngeren Lyrikgeschichte.
Lyrik aus einem neuen deutschen Land
Ein neues Land entsteht am 3. Oktober 1990. Ein gemeinsames Deutschland, das sich in zwanzig Jahren tiefgreifend verändert. Seismographisch erfasst die Dichtung sein utopisches Potential und die vielfältigen Realitäten.
Über 400 Gedichte von 101 Autorinnen und Autoren zeichnen ein facettenreiches Porträt Deutschlands nach der Wiedervereinigung und dokumentieren ein breites Spektrum poetischer Positionen. Ein Standardwerk der jüngsten Lyrikgeschichte.
S. Fischer Verlag, Klappentext, 2010
Wo sind EJ und FM abgeblieben?
Während es im Vorwort von Der Große Conrady heißt, daß man, vor allem (aber nicht nur) im Kompartiment der zeitgenössischen Gedichte eher auf Dokumentation als auf Kanonbildung aus sei, da wohl erst die Nachwelt mit naturgemäß distanzierterem Blick feststellen könne, welche Verse die Zeiten überleben, schlagen Michael Lentz und Michael Opitz als Herausgeber der Anthologie In diesem Land. Gedichte aus den Jahren 1990 bis 2010 (bewußt an Adolf Endlers und Karl Mickels In diesem besseren Land von 1966 sowie Hans Benders In diesem Lande leben wir von 1978 anklingend) den umgekehrten Weg ein und betonen, daß sie Gedichte ausgewählt haben, von denen [sie] überzeugt sind, dass sie bleiben werden.
Während meiner Non-stop-Rundfahrt durch In diesem Land lese ich dieser Aussage zum Trotz eine Reihe von Gedichten, die ich nicht so geglückt finden kann, um davon auszugehen, daß sie in 25, 50 oder 100 Jahren noch gelesen werden. Ich wette jedenfalls: nein. Davon abgesehen, stellen die fulminanten, originellen, schönen In-diesem-Land-Gedichte locker und wie selbstverständlich die absolute, nein, totale Mehrheit – schon der energisch zupackende, erdige Auftakt mit Henning Ahrens’ Bekenntnis ist verheißungsvoll, und Jürgen Becker, Elke Erb, Gerhard Falkner, Heiner Müller, Thomas Kling, Helga M. Novak, Brigitte Oleschinski, Oskar Pastior, Ernest Wichner, ach, es ist müßig, sie alle aufzuzählen, folgen mit zum Teil spektakulären Versfolgen.
LANDNAHME
der briefkopf schmerzt: mein land hat mir geschrieben
zu allem überfluß. aus den papieren
fallen stellungskrieger auf mein plastparkett.
wie du einst laufen lerntest, wird nun abgefragt:
verjährtes kommen und verwehrtes gehen. dazwischen nichts.
gesätes fernweh, das nach landflucht schreit,
hat nirgends echo. an den grenzen
steht nun ein andrer schlag und bettelt.
mein land hat einen schlußstrich angezettelt,
den keiner spürt, der ganz im innern schläft.
sehr fremder worte ist die sprache voll, und
was sie deutsch bezeichnet, wächst hier nicht:
eskorten. eskapaden. eßkastanien.
was weiß denn ich, was wirklich aus mir spricht.
es ist egal, mein land hat mir geschrieben:
zu allem überfluß gefaltet das papier: ein kleines boot,
und, wie gesagt, längst voll. mein land
beschreibt sich, gut. nur weiß ich längst,
daß ich dran hänge. fescher süßholzgalgen.
Kathrin Schmidt
Die Gedichtsammlung ist, für sich betrachtet, über weiteste Strecken eine abenteuerreiche, rasante, mit zahlreichen Gipfelpunkten ausgearbeitete Lesereise, dabei empfinde ich die Auswahl, entgegen den Worten im Nachwort, die Auswahl thematisch und ästhetisch breit aufzustellen, durchaus auf lange sowie historisch-politische (Deutschland-)Gedichte fokussiert – aber wo bleibt da Paulus Böhmer, frage ich mich, der Meister des deutschen Langgedichts, der u.a. mit den Kaddish-Büchern für soviel Furore sorgt? Die Auswahl wirkt herausfordernd, zwingt mich in den Infight, beschert mir begnadete Lesemomente und drängt mir lauter Fragen auf: Repräsentativ? Exemplarisch? Resümee? Überblick?
Die Herausgeber verzichten auf manche Stimmen, Themen und Formen: Die eigentliche, vor Farben und Formen nur so strotzende, gleichsam überbordende Vielfalt dieser mit all ihren verschiedenartigen Gruppierungen, Stilen, Strömungen, Szenen, Subkulturen, Hinterlandnischen und Zentren der letzten 20 Jahre (in entsprechenden Abschnitten vereint) wird mir in ihrer Totalität nicht gezeigt, auch wenn auf den heißen, zumeist freimetrisch und endreimlos gemeißelten Stein der eine oder andere konkrete, gereimte, visuelle Tropfen fällt. Habe ich nicht aufmerksam gelesen? Im Nachwort heißt es: Wer genau hinschaut, findet alle Aspekte und Formen lyrischen Sprechens in beachtlicher Qualität. Von guten Ausnahmen abgesehen, finden in erster Linie die durch Preise und Feuilleton-Präsenz bekannten Autorinnen und Autoren Berücksichtigung: Auf einen schnellen ersten Blick wirken die 101 Namen von Ahrens bis Zschorsch wie ein Who-is-Who der deutschen Lyrik.
Offenbar ohne Not und überzeugende Begründung an den bundesrepublikanischen Grenzen halt- und kehrtzumachen, das verstehe, wer will (ich nicht): Die in der Schweiz und in Österreich und entstandene Lyrik haben wir nicht berücksichtigen wollen – Oswald Egger, Eugen Gomringer, Gerhard Rühm werden trotzdem aufgenommen, hoppla, wie denn das, ach so: Sie leben seit vielen Jahrzehnten in Deutschland – Donnerwetter, was für ein teutonischer Ritterschlag, denke ich (und frage mich, ob die von Lentz und Opitz getroffene Aussage auf Oswald Egger zutreffen kann). Jedenfalls: Gedichte kennen keine Grenzen, sie sind per se und in nuce universal, und deutsche Gedichte sind nichts als Gedichte in deutscher Sprache verfaßt, fragen nicht danach, ob sie in Berlin, Eupen, Luxemburg, Wien oder Zürich geschrieben werden.
der buchstabe ist tot
auch der buchstabe ist tot
das buch ist tot
auch das buch ist tot
alle bücher sind tot
alle buchstaben sind tot
das wort ist tot
auch das wort ist tot
Ernst Jandl
Notgedrungen verzichten muß ich auf Gedichte von, beispielsweise, Andreas Altmann, Erika Burkart, Franz Josef Czernin, Michael Donhauser, Hans Eichhorn, Walter Helmut Fritz (seine Absenz schmerzt), Marjana Gaponenko, Felix Philipp Ingold, Ernst Jandl, Axel Kutsch, Christoph Leisten, Friederike Mayröcker (Gala // das sind die blonden Tage der Seelenvogel schwingt vorüber / Schneeflocken bei Sonnenschein und angefachte Primel im / Fenster vis à vis die blanke Kanne der Himmel sinket in / die Wälder nieder das süsze Hirngespinst und Donau Äffchen an andern Tagen schon 1 biszchen alte Tante // 28.2.06 · dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif), Jürgen Nendza (das lange Gedicht Hinterland bleibt meine Nummer 1 nach 2000), Hellmuth Opitz, Jan Volker Röhnert, Christian Saalberg (what a poet, what a poet), Walle Sayer, Ferdinand Schmatz, Raoul Schrott (mit Beyer, Grünbein, Kling und Papenfuß einer der besonders innovativen und großen Einfluß auf die phantastische Entwicklung der deutschen Lyrik nehmenden jungen Dichter der 90er Jahre), Ludwig Steinherr, Sandra Trojan, Raphael Urweider, Guntram Vesper, Richard Wagner oder Annemarie Zornack. Keiner und niemand ist aus der starken Riege der nach 1980 Geborenen vertreten, die in den vergangenen drei bis vier Jahren prächtige Lyrikfunken schlägt.
Sind 101 Autoren etwa zu wenig für den im Nachwort formulierten Anspruch? Meine Lyrikberechnung: Von den rund 2.000 Autorinnen und Autoren, die in den Jahren 1990 bis 2010 Eingang in die anerkannten Anthologien bis zünftigen Zeitschriften gefunden bzw. mit lesenswerten Einzeltiteln aufgewartet haben, nehme ich zunächst 500 für eine erweiterte Auswahl, von denen wiederum die 150 markantesten exemplarisch als Querschnitt und Bandbreite des Lyrikschaffens im deutschen Sprachraum in dieser Zeit bestehen mögen.
Sind bis zu rund 10 Seiten pro Autor, bei jeweils vier Gedichten, womöglich zuviel für einen Überblick dieser Art mit einem Umfang von nahezu 650 Seiten und dem Anspruch, daß unsere Anthologie das dichterische Schaffen der letzten zwanzig Jahre resümiert und das Spektrum durchaus weit zu fassen? Gewichtungen von einer bis fünf, sechs Seiten hätten viel freien Platz schaffen können für das Drittel, das 50 Lücken schließen würde. Denn auch Gedichte von C. W. Aigner, Beat Brechbühl, Ann Cotten, Guillermo Deisler, Peter Engstler, Ludwig Fels, Franzobel, Nora Gomringer, Hadayatullah Hübsch, Sabine Imhof, Ulrich Koch, Jean Krier, Karl Krolow, Nadja Küchenmeister, Thomas Kunst, Philipp Luidl, Rainer Malkowski, Jörg Neugebauer, Andreas Okopenko, Vera Piller, Hendrik Rost, Helmut Salzinger, Robert Schindel (Die Lyrik hat es schwer, aber sie wird nicht untergehen), Johann P. Tammen, Christian Uetz, Günter Vallaster, Christoph Wenzel und Ulrich Zieger wären alles andere als fehl am Platz in einer mit repräsentativem Anspruch antretenden Lyrikauswahl deutscher Gedichte der Jahre 1990 bis 2010.
Lauter Gedichte, die bleiben werden? Können die hier abgedruckten Gedichte von Elisabeth Borchers, Rainer Kunze, Doris Runge oder Walter Werner (die ihre besten Gedichte in früheren Jahrzehnten schrieben) als maßgebliche Lyrik der Jahre 1990 bis 2010 bestehen? Matthias Polityckis witziger, letztlich jedoch epigonaler Aufguß des a-car-is-a-car-is-a-car-Sonetts von Karl Riha, das in Der Große Conrady zu betrachten ist? Die Songtexte Herbert Grönemeyers? Von Peter Rühmkorf werden ausschließlich Gedichte aus Paradiesvogelschiß, des Dichters letztem und mich schmerzlich wenig bloß fesselnden Band (der vom Feuilleton allerdings in höchste Höhen katapultiert wurde) auswählt – die Gedichte in, beispielsweise, Rühmkorfs wenn – aber dann sind von deutlich schwererem Kaliber.
In diesem Land ist ein windschiefes Lyrikhaus mit löchrigen Wänden und einer Reihe fehlender Ecksteine, die den ganzen Bau auf riskante Art und Weise in Umsturzgefahr bringen. Aber – in einem solchen Haus, in dem ich so manches Erwartete nicht vorfinde und in dem der Boden unter den Füßen nachgibt, halte ich mich immer wieder gern auf, no risk, no fun, lobe den Hausherrn über den grünen Tee und führe entflammte Gespräche. Gell, Edith?
Theo Breuer, poetenladen.de, 29.9.2010
Um die moderne Lyrik ist uns gar nicht bang?
Michael Lentz und Michael Opitz, den Herausgebern der Lyrikanthologie, geht es darum, herauszufinden, wie Lyriker das wiedervereinigte Deutschland in ihren Versen vermessen haben. Die Anthologie resümiert deutschsprachiges dichterisches Schaffen aus der Zeit zwischen 1990 und 2010. 101 Autoren aus Ost und West – jeweils mit 4 Gedichten – sind in die Anthologie aufgenommen worden
Das geht von Jürgen Becker, Wolf Biermann, Sarah Kirsch, Reiner Kunze und Herta Müller bis zu Steffen Jacobs , Björn Kuhligk, Christian Lehnert, Steffen Popp u.a.
Die meisten Gedichte erschließen sich einem nur schwer. Ich denke da z.B. an die Gedichte von Dieter M. Gräf, Wulf Kirsten, Franz Mon, Jose F. A. Oliver, die wohl ohne germanistisches Seminar nicht zu verstehen sind.
In andere Gedichte, wie z.B. denen von Biermann, Czechowski, Kunze, Politycki, Rathenow und auch – ich gebe es zu, ich mag ihn besonders gern – Reiner Kunze, kann man sich auch als Nicht-Germanist hineinfühlen.
Sicher macht die Gegenüberstellung den Reiz aus.
Dennoch:
Diese Lyrik ist keine leichte Kost, die man mal ebenso „konsumieren“ kann. Es findet sich wenig Eingängiges und mit einmaligem Lesen erschließt sich nur Weniges. Zeit ist gefragt. Und ohne gründliche Auseinandersetzung – auch Diskussionen – bringen einem die Verse kaum Etwas. Wohl dem, der diese Gesprächspartner hat oder findet!
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Michael Lentz – Performance wie es früher war beim PROPOSTA-Festival Barcelona im November 2002.
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