RÜHMT EUCH, IHR RICHTENDEN
Rühmt euch, ihr Richtenden, nicht der entbehrlichen Folter
und daß das Eisen nicht länger an Hälsen sperrt.
Keins ist gesteigert, kein Herz – weil ein gewollter
Krampf der Milde es zarter verzerrt.
Was es durch Zeiten bekam, das schenkt das Schafott
wieder zurück, wie Kinder ihr Spielzeug vom vorig
alten Geburtstag. Ins reine, ins hohe, ins thorig
offene Herz träte er anders, der Gott
wirklicher Milde. Er käme gewaltig und griffe
strahlender um sich, wie Göttliche sind.
Mehr als ein Wind für die großen gesicherten Schiffe.
Weniger nicht, als die heimliche leise Gewahrung,
die uns im Innern schweigend gewinnt
wie ein still spielendes Kind aus unendlicher Paarung.
Rainer Maria Rilke
DAS GESTEIGERTE HERZ
Die großen Dichter sind nur selten auch große Denker, obwohl es uns oft so vorkommt, weil sie das Stroh der Gemeinplätze in Gold verwandeln. Die anfängliche Aussage unseres Gedichts ist die konservative, wenn nicht reaktionäre Feststellung, dass man „vom grünen Tisch“ oder durch Gesetzgebung die Menschen nicht ändern und schon gar nicht bessern kann. Hier etwa: Nur weil ihr die Folter und die Todesstrafe (das Schafott) abgeschafft habt, bildet ihr euch ein, ihr seid euren Vorfahren überlegen? Ha! Wie falsch! – Hat man Dutzende Male gehört. Ist in der Politik ein fast ausgedienter Zankapfel.
Doch wenn man dieses Gedicht aus dem Jahre 1922 liest, so kann man nicht umhin, dem Dichter auf Anhieb recht zu geben und mit Beschämung an die fast unvorstellbaren Grausamkeiten zu denken, die in den 96 Jahren, seit er es schrieb, verübt worden sind. Es stellt die Errungenschaften der Aufklärung, anhand der Abschaffung der Folter, in Frage. Dazu fällt uns nebenbei ein, dass weiterhin in vielen Gegenden der zivilisierten und der unzivilisierten Welt gefoltert und hingerichtet wurde und wird. Es bedarf jedoch gar nicht der Folter, sagt der Dichter mit der Ironie des Nichtüberzeugten, um die Unzulänglichkeit menschlichen Mitgefühls, das oft nur „ein gewollter Krampf der Milde“, eine „zarte Verzerrung“ sei, nachzuweisen. „Keins ist gesteigert, kein Herz“ ruft sein Gedicht – die gewöhnliche Satzstellung: „Kein Herz ist gesteigert“ könnte gar nicht so, wie das hier nachgelieferte Subjekt, betonen, woran es bei dem, was wir Fortschritt nennen, hapert.
Es ist ein Thema, das für Jugendliche gesperrt sein sollte, und doch holt sich Rilke zweimal spielende Kinder als Metapher in einem fast erschreckenden Zusammenschweißen zweier Begriffe, die einander sonst fremd sind. Das erste Mal entledigt sich das Schafott, Symbol der alten Rückständigkeit, seiner verjährten Geburtstagsgeschenke, weil sie ausgedient haben. Nicht weil die „Richtenden“ des ersten Verses zu einem höheren Bewusstsein gelangt seien, sondern einfach, weil die Zeiten sich geändert haben. Das Schafott langweilt sich. Wie die Kinder zwischen zwei Geburtstagen ist es älter geworden. Tortur steht nicht mehr auf dem Programm. Die Welt hat andere unliebsame Werkzeuge als die Instrumente der Inquisition.
Der Dichter W.H. Auden schrieb über Rilke, er sei „der Weihnachtsmann der Einsamkeit“ („the Santa Claus of loneliness“), ein Anwalt der Innerlichkeit und der Verwandlung der materiellen Welt ins Geistige. Rilkes wohl berühmtester Vers ist der letzte Satz über den Archaischen Torso Apollos, der lautet:
Du mußt dein Leben ändern.
Die gewünschte Wandlung erfolgt durch einen ästhetischen Durchbruch. Man könnte meinen, wer so dichtet, weiß nicht recht, was um ihn und im öffentlichen Leben vor sich geht, und will es auch nicht wissen. Das ist, wie wir sahen, ein Irrtum. In unserem Gedicht kommt die Änderung des Menschen durch einen Gott, der Gewalt und Milde vereinigt, der mehr ist als ein Wind, der die großen, durch die moderne Technik gesicherten Schiffe vorantreibt (gesichert? Ist das ironisch gemeint? War die Titanic nicht erst einige Jahre vorher untergegangen?). Ein Gott, der paradoxerweise „weniger nicht“ als das Innenleben eines spielenden Kindes ist, also zum zweiten Mal unfertige, heranwachsende Menschen heraufbeschwört.
Angefangen mit dem Konjunktiv „er [der Gott] träte“, setzt Rilke dem von ihm angezweifelten äußeren Fortschritt einen schwierigen Gedanken entgegen, nämlich den einer fortschreitenden Genese, einer innerlichen Entwicklung, eines Umschwungs der Wahrnehmung, dessen Voraussetzung ein „thorig offene[s] Herz“ sein müsste. Die Worte „unendliche Paarung“ enthalten keine moralischen und eigentlich auch keine psychologischen, sondern eher entwicklungsgeschichtliche Überlegungen. Und so endet das Sonett nicht so sehr mit der anfangs angezweifelten Hoffnung auf „gesteigerte Herzen“ als mit einer Umformulierung der alten Frage, wie die Menschheit aus ihren Sünden und Verbrechen heraus- und in eine reinere Zukunft hineinwachsen kann, im Bild immer neugeborener und ewig spielender Kinder.
Ruth Klüger
Vorwort
Gedichte (auch die todernsten!) sind eine spielerische Gattung von Sprachexperimenten, die zwischen realistischer Weltbeschreibung und wortloser Musik akrobatische Kunststücke aufführen. Die Musik besticht, der Inhalt will belehren. Das reimt sich nicht immer zusammen, auch dort, wenn und wo gereimt wird. Gedichte sagen etwas aus, aber sie sind zu kompakt, um das Ausgesagte auch noch zu erklären. Denn ein Gedicht ist entweder ein Rätsel oder ein Geheimnis. Der Unterschied zwischen diesen beiden verwandten Möglichkeiten ist der, dass ein Rätsel gelöst werden kann, während ein Geheimnis immer etwas Verborgenes zurückhält und uns im Unklaren belässt. Ein gutes Beispiel für Letzteres ist das Gedicht von Ilse Aichinger über den Glauben, der so intim mit dem Zweifel verwandt ist (S. 47). Oder das von Hebbel, in dem aus einem verhinderten Unfall eine unheimliche Beschwörung alter Mythen entsteht (S. 17). Ein gedichtetes Rätsel hingegen hat einiges gemeinsam mit einem Kreuzworträtsel, bei dem wir den verschlüsselten Hinweisen langsam auf die Schliche kommen, aber dann doch am Ende mit kleinen weißen Quadraten steckenbleiben, nämlich da, wo die Rätsellöserin nicht weiterwusste. Im Gedicht sind das die Stellen, die man nicht versteht. In der Prosa kommen viel eher die notwendigen Ergänzungen hinzu. Im Gedicht will man sie oft gar nicht. Etwa in Kurt Tucholskys Gedicht über die Todesangst, aus dem nicht zu ermitteln ist, ob der Mut, ausgedrückt in humorvollen Bildern, siegt oder doch die Verzweiflung und die Angst die Oberhand behalten. Ein Schwebezustand, bei dem wir, als Leser, gerne auf die letzte Lösung verzichten (S. 38).
Solche Gegensätze sind wohl ein Grund, warum keine zwei Leser dasselbe Gedicht lesen. Sie lesen nur denselben Text. Und so hat jeder Interpret eines Gedichts mit mehr Widerstand seiner Lesart zu rechnen, als wenn es sich um Prosa handelte, die von der Gattung her zugänglicher ist. Und doch ist gerade dieser Widerstand anregend, denn er fördert das Gespräch, das die Lyrik braucht, um brauchbar zu bleiben. Diesen Widerstand nenne ich einen Gegenwind zum Gedicht selbst. Daraus entstehen Kommentare, in denen sich die Prosa einmischt, um dem Gedicht zu dienen.
Die Frankfurter Anthologie, in der die Gedichtinterpretationen im vorliegenden Band zuerst erschienen, veröffentlicht seit vierzig Jahren in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung jeden Samstag ein Gedicht mit einer kurzen Interpretation, alte und neue Gedichte, besprochen von alten und neuen Interpreten für ein zunehmendes und scheinbar nicht müde werdendes Publikum. Die Beiträge sind schnell zu lesen, intuitiv und nicht akademisch, ein Happen auf dem Weg von den politischen zu den finanziellen Nachrichten, das heißt, sie stehen mitten im Leben, und man kann den ganzen Tag und darüber hinaus davon zehren, ohne viel Zeit zu verlieren. Manchmal ist man verblüfft, wie anders ein Gedicht, das man zu kennen und zu verstehen meinte, eine andere Leserin berührt, man widerspricht dem Kommentar oder nickt in Zustimmung oder fühlt sich bereichert um einen neuen Gedanken. Man lernt neue Gedichte kennen. Man ruminiert, sagt vielleicht das Gelesene halb auswendig vor sich hin, um es auszukosten, wenn man allein ist, oder man redet mit Freunden und Kollegen darüber, das Gedicht macht die Runde, wie ein guter Wein.
Der Gründer der Anthologie, Marcel Reich-Ranicki, beschränkte die Auswahl auf ausschließlich deutsche Gedichte. Seit seinem Tod ist eine weitere Dimension hinzugekommen, nämlich fremdsprachige Verse in Übersetzung, also ein Schritt in die Weltliteratur. Das öffnet Türen zu neuen Gedankengängen, doch es konfrontiert uns auch mit neuen Schwierigkeiten, denn im Grunde kann man ein Gedicht gar nicht übersetzen. Man kann nur seinen oberflächlichen Inhalt wiedergeben und bestenfalls einen Geschmack seiner poetischen Eigenart andeuten. Und doch liegt der Reiz des Übersetzens gerade in der von vornherein eingesehenen Unmöglichkeit, dem Gedicht gerecht zu werden: etwas versuchen, was nicht gelingen kann. Wobei dann doch paradoxerweise etwas Eigenständiges entsteht, nämlich Einsicht in die Abhängigkeit und Verwandtschaft der Sprachen und Literaturen voneinander, eine Vermittlung und dadurch eine Annäherung ohne Vereinnahmung. Man denke zum Beispiel an das Brecht-Zitat im Gedicht von Adrienne Rich (S. 100). Richs Gedicht ist selbständig, aber die Dichterin stützt sich auf des deutschen Dichters Dilemma, zwischen Ästhetik und Aktivismus wählen zu müssen, und zeigt, wie der eine Weg zum anderen führt und die Länder und Sprachen in dieser Diskussion über Dichtung vereint.
Am besten, man setzt Original und Übersetzung nebeneinander, was dem Leser eine sofortige Übersicht und Einblick in die kritische Auseinandersetzung gewährt. Am Anfang meiner Kommentare kommt zunächst, wenn nötig, eine knappe Auskunft über den Dichter, nur gerade so viel, als für dieses bestimmte Gedicht notwendig ist. Denn es geht ja um die Dichtung, nicht um Literaturgeschichte. Der Reiz der Anthologie ist gerade die Kürze sowohl des Gedichts wie der Interpretationen. Reich-Ranickis noch immer geltender Maßstab und Vorschrift für die Maximallänge des Textes war Goethes Gedicht „Grenzen der Menschheit“, also höchstens 42 Verse und dann etwa zwei Seiten Kommentar.
Ich werde manchmal gefragt, wie ich mir die Gedichte aussuche, die ich interpretiere, die deutschen sowohl wie die aus dem Englischen, meiner Zweitsprache, übersetzten. Die Antwort ist, ich suche sie gar nicht aus, sondern sie sind mir sozusagen zugelaufen wie streunende Katzen, aus einer ganzen Menagerie von Versen, die mir im Kopf spuken oder mich aus Büchern, Liedern oder dem mündlichen Gemeingut anspringen, wie etwa die von Emma Lazarus auf der Freiheitsstatue verewigten Verse (S. 78), oder sogar aus der Zeitung, wie Jane Hirshfields Aufruf zum Kampf gegen den Klimawandel und die Verschmutzung unseres Planeten (S. 104). Manche habe ich lange mit mir herumgetragen, wie etwa Chamissos Heimweh, das er in einer Fremdsprache wiederaufleben ließ, die ihn zum Europäer stempelte, der in kein Land gehörte, weil kein Land ihm gehörte (S. 13). Ich habe sie mir einzeln vorgenommen, weil sie mich einzeln entzückten oder herausforderten, ohne an ihre eventuellen Gemeinsamkeiten zu denken. Obwohl meine Auswahl also auf keinem Plan oder Muster beruht, fällt mir auf, wie oft sie zwischen Außen- und Innenwelt wie die Seiltänzer balancieren. Immer wieder interessieren mich Zusammenhänge zwischen Politik und Poesie, wie in dem eben erwähnten Gedicht von Adrienne Rich oder in dem feinen psychologischen Porträt eines Mitläufers in Heinrich Deterings „Becher“ (S. 57) oder in Rilkes unerwartet politischem Sonett über die Todesstrafe in seinen (ausgerechnet!) Sonetten an Orpheus, in dem er davor warnt, die Abschaffung von Folter und Todesstrafe als humane Errungenschaft zu überschätzen, und stattdessen „gesteigerte Herzen“ fordert (S. 27). Diese merkwürdige Forderung ist beim Nachdenken gar nicht so sentimental, wie sie zuerst klingen mag. Weibliche Traumata tauchen in Grünbeins Gedicht über Vergewaltigung (S. 50) und in Anne Sextons über eine illegale Abtreibung (S. 94) auf und erinnern uns daran, dass solche Erfahrungen, obwohl ganz gewöhnliche Vorkommnisse in der Gesellschaft, in der Lyrik bis vor kurzem praktisch tabu waren und es weitgehend noch immer sind. Bei Grünbein ist der alte, erinnerte Schrecken eingebettet in eine poetisch/sprachliche Tradition, die in der harmlosen und so deutschen Silbe „ach“ aufscheint. Manche wieder ergänzen einander in überraschender Weise, wie zum Beispiel der Optimismus über eine Zukunft ohne Rassenvorurteile in Langston Hughes’ „Auch ich“ (S. 89) und dagegen die musikalisch ansteigenden Hetzereien gegen eine eingewanderte Eigenbrötlerin in Georg Kreislers gruseligem Lied „Die Hexe“ (S. 42); oder Stephen Cranes und Hermann Hesses pazifistische Gedichte (S. 83 & S. 35), das eine über die Toten und ihre Hinterbliebenen, das andere über Menschen, die sich von der Kriegserfahrung nie erholen konnten. Anders gesagt, das Nebeneinander dieser Gedichte ganz verschiedener Herkunft ergibt oft ein Miteinander von „Aha“-Momenten.
Die weitverbreitete Meinung, Lyrik sterbe aus, basiert auf Statistiken, die der Sache nicht gerecht werden. Wenn Lyrikbände nicht den Umsatz von Krimis haben, so kommt das daher, dass Krimis Wegwerfware sind. Dagegen sind Lyrikbände eine Art Dauerware. Goethe wird öfter aus dem Schrank geholt als ein vergilbter Agatha-Christie-Roman, wenn man einen solchen nach erstem Lesen überhaupt noch besitzt. Fast jeder von uns hat ein Lieblingsgedicht, und jeder kann irgendwelche Gedichtzeilen zitieren, mit der Prosa versucht man es meistens erst gar nicht. Die Klage über den Verfall der Lyrik wurde erst kürzlich widerlegt durch die Verleihung des Literaturnobelpreises an einen berühmten Liedermacher für seine Texte, also seine Gedichte. Lyrik lebt, die Frankfurter Anthologie ist ein Beweis.
Ruth Klüger, Vorwort
„Ich bin nicht losgekommen von der Lyrik“,
sagt Ruth Klüger, die berühmte Schriftstellerin und Germanistin. Gedichte haben ihr einst geholfen, das KZ zu überleben, die Verse von Goethe, Schiller, Heine, die sie während des stundenlangen Appellstehens im Stillen immer aufs Neue wiederholte.
Die Dichter und ihre Bücher umgeben sie bis heute, sie sind für sie „eine Art Dauerware“. Dieser Band sammelt erstmals Ruth Klügers Interpretationen, auch übersetzter Gedichte, aus den vergangenen zehn Jahren. Am Beispiel von Ilse Aichingers „Zeitlicher Rat“ zeigt sie die Meisterschaft der Verknappung, bei Friedrich Hebbels „Das Kind im Brunnen“ die Tücken der Harmlosigkeit und bei Georg Kreislers „Hexe“ das Böse von nebenan. Von besonderer Eindringlichkeit sind ihre Übertragungen der Gedichte von Anne Sexton, Adrienne Rich und Walt Whitmans „City of Orgies“.
Paul Zsolnay Verlag, Klappentext, 2018
Rätsellöserin
–Furchtlos: Ruth Klügers Gedichtinterpretationen. –
Ruth Klüger, Doyenne der amerikanischen Germanistik, hat eine Auswahl ihrer Lyrikinterpretationen aus der Frankfurter Anthologie zusammengestellt. Ein Dutzend deutscher Gedichte und neun englischsprachige Texte in Übersetzung deutet sie mit gewohnter Prägnanz. Gedichte sind für Klüger entweder lösbare Rätsel oder unergründliche Geheimnisse, ihre Entschlüsselung nennt sie bescheiden „Happen auf dem Weg von den politischen zu den finanziellen Nachrichten“. Statt mit ihrer großartigen Entdeckung „Die Blatternde“ des Barockdichters Hans von Abschatz setzt Klüger mit dem Exilanten Chamisso ein, der auf der Suche nach seiner verschütteten französischen Heimat zum weltoffenen Europäer wird. Schattenseiten des Daseins geht sie auch sonst nicht aus dem Wege, in Hebbels „Das Kind am Brunnen“ ist es eine nur knapp abgewendete Katastrophe, in Rilkes „Media in Vita“ ein memento mori, in Durs Grünbeins „Die Wachtel“ das Kriegstrauma der Vergewaltigung, in Anne Sextons „The Abortion“ die in dreifachem Refrain beklagte Grenzerfahrung, dass „Somebody who should have been born is gone“. Besonders sensibel ist Klüger für Politik in der Kunst und Kunstpolitik: Da meißelt Emma Lazarus schon 1886 ihr „Mother of Exiles“ als Kommentar zur Flüchtlingsfrage in den Sockel der Freiheitsstatue. Wenn Klüger Heinrich Deterings Verse über den „schwierigen Schwachen“ Johannes R. Becher liest, würdigt sie die Spannung zwischen kritisiertem „Mitläufertum“ und sympathischer „Grenzüberschreitung“, lässt sich das Zitat aus Büchners Lenz im letzten Vers aber entgehen:
so lebte er hin
So leben sie hin diese Gedichte und ihre erhellenden Kommentierungen, manchmal im Gegenwind, manchmal mit Rückenwind wie in „I, Too“ von Langston Hughes, der sich als „darker brother“ 1932 nicht länger in die Küche kommandieren lassen will:
I, too, am America.
kos
Ruth Klüger – Gegenwind
– In ihrem 2014 erschienenen Band Zerreißproben. Kommentierte Gedichte kommentierte und interpretierte die Lyrikerin und Literaturwissenschaftlerin, gefeierte Autorin, Feministin, Mutter, Großmutter, und Überlebende der Shoa Ruth Klüger ihre eigenen Verse über Gespenster, die sie heimsuchen. In Gegenwind deutete sie jeweils ein Gedicht älterer und moderner AutorInnen, von Adelbert von Chamisso bis Jane Hirshfield. –
„Wann hast du das letzte Mal ein Gedicht gelesen, einen Gedichtband in der Hand gehalten?“ Eine kleine Umfrage im Freundinnenkreis ergab kaum positive Antworten, immerhin wurde Bedauern geäussert darüber, da sich alle Befragte an „schöne“ Gedichte erinnern konnten.
„Die weitverbreitete Meinung, Lyrik sterbe aus, basiert auf Statistiken, die der Sache nicht gerecht werden. Wenn Lyrikbände nicht den Umsatz von Krimis haben, so kommt das daher, dass Krimis Wegwerfware sind. Dagegen sind Lyrikbände eine Art Dauerware. – Die Klage über den Verfall der Lyrik wurde erst kürzlich widerlegt durch die Verleihung des Literaturnobelpreises an einen berühmten Liedermacher für seine Texte, also seine Gedichte.“ (gemeint ist Bob Dylan) – so Ruth Klüger im Vorwort ihres im März 2018 erschienenen, schmalen Buches (so schmal, wie viele Gedichtbände).
Mich hat die Begeisterung für die sprachlichen Kunstwerke, die Ruth Klüger auswählte, angesteckt und manche Interpretationen haben mich überrascht, etwa dass wir in dem Gedicht „Das Schloß Boncourt“ von Adelbert von Chamisso (der uns als etwas „verstaubt“ erscheinen mag) entdecken können, dass Exil – damals wie heute – eine schwere, ja traumatische Last ist.
Die hier abgedruckte Gedicht-Auswahl von Chamisso, Friedrich Hebbel, Gottfried Keller, Rainer Maria Rilke, Franz Werfel, Hermann Hesse, Kurt Tucholsky, Georg Kreisler, Ilse Aichinger, Durs Grünbein, Hans Magnus Enzensberger, Heinrich Detering (oder Johannes R. Becher) sowie in deutscher und in englischer Sprache von Elizabeth Barrett Browning, Walt Whitman, Emily Dickinson, Emma Lazarus, Stephen Crane, Anne Sexton, Adrienne Rich und Jane Hirshfield kann natürlich nur beispielhaft sein. Anregend ist sie allemal, es geht in ihnen um existentielle Dinge und Ruth Klüger gibt uns durch ihre Interpretationen Mittel an die Hand, die Aussage der Gedichte (besser) deuten zu können:
Denn ein Gedicht ist entweder ein Rätsel oder ein Geheimnis. Der Unterschied zwischen diesen beiden verwandten Möglichkeiten ist der, dass ein Rätsel gelöst werden kann, während ein Geheimnis immer etwas Verborgenes zurückhält und uns im Unklaren belässt.
Die Interpretationen zeigen einmal mehr, dass es nicht schaden kann, sich mit Leben und Umfeld der VerfasserInnen zu beschäftigen, biographische Informationen können einen Zugang von zunächst „sperrigen“ Texten befördern. Zu jeder Person gibt es deshalb kurze Erläuterungen, es fallen hier und da literaturwissenschaftliche Begriffe wie Syntax, Subjekt/Objekt, das lyrische Ich. Diese fachlichen Bemerkungen halten sich in Grenzen, es geht um Inhalt, „Meisterschaft der Verknappung“, den Reiz der Wortkombinationen, um Rhythmus, Klang, nicht zuletzt um „Zusammenhänge zwischen Politik und Poesie“.
Für die 1931 geborene, mit Preisen geehrte Literaturwissenschaftlerin waren Gedichte früh Teil ihres Lebens und schon immer Überlebensmittel, um die stundenlangen, quälenden Appelle in Auschwitz durchzustehen:
Gedichte haben ihr einst geholfen, das KZ zu überstehen, die Verse von Goethe, Schiller, Heine, die sie während des stundenlangen Appellstehens im Stillen immer aufs Neue wiederholte.
Ich wiederhole dieses häufige Zitat und erinnere daran, dass es zahlreiche Beispiele dafür gibt, dass Gedichte (auch selbst verfasste) Gefangenen Trost, Halt, Hoffnung bedeuteten, hier sei nur Teofila Reich-Ranicki erwähnt, die im Warschauer Getto die Gedichte Erich Kästners abschrieb und illustrierte.
„Lyrik lebt“ betont Klüger und bezieht sich dabei auf die wöchentliche Veröffentlichung eines Gedichts mit kurzer Interpretation in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, und das seit 40 Jahren! Lyrikinterpretation lebt immerhin in Schulen als Teil des Deutschunterrichts, das Auswendiglernen von Gedichten allerdings scheint etwas aus der Mode gekommen zu sein. Lyrik lebt in Veranstaltungen zu Poetry Slam, es heißt, dass die Slam-Szene in Deutschland inzwischen die grösste sei. Lyrik lebt in den Texten von Pop- und Rapsongs.
AVIVA-Tipp: Lest Gedichte, ergründet alte und moderne Gedichte, rätselt, diskutiert und überwindet den Widerstand, den „Gegenwind“, den ein Gedicht auszulösen vermag. Lest Ruth Klügers Buch – es könnte ein Entschluss entstehen: Kein Tag ohne Gedicht, vielleicht auch ein eigenes.
Angelina Boczek, aviva-berlin, 11.3.2018
Ruth Klüger: Kein Tag ohne Gedicht – vielleicht ein eigenes
– Worin liegt die Lebendigkeit der Lyrik? Zum vor kurzem erschienenen neuen Gedichtband Gegenwind. –
Die Lyrik braucht das Gespräch, wer über Lyrik schreibt, muss mit dem Widerstand der Leser rechnen. Ruth Klüger nennt diesen Widerstand im „Vorwort“ zu ihrem neuen Buch den „Gegenwind“. Das Vorwort schließt mit dem Satz:
Lyrik lebt, die Frankfurter Anthologie ist ein Beweis.
Nein, sagt der Gegenwind. Auch wenn der Lyrik in der FAZ zwischen den Blöcken der journalistischen Macht- und Finanzpolitik weitere vierzig Jahre ein Platz eingeräumt wird, heißt das nicht, dass die Lyrik lebt. Darum ist es gut, dass die von Ruth Klüger ausgewählten Gedichte und deren Interpretationen und Übersetzungen, die zuerst in der FAZ erschienen sind, als selbstständiges Buch herausgekommen sind. Sofort haben sie begonnen, ihre Lebendigkeit zu entfalten.
In einem erfrischenden Internet-Eintrag (AVIVA-Berlin) heißt es aus Anlass des Erscheinens von Gegenwind und offensichtlich begeistert von Klügers Lyrik-Buch:
Lest Gedichte, ergründet alte und moderne Gedichte, rätselt, diskutiert und überwindet den Widerstand, den ,Gegenwind‘, den ein Gedicht auszulösen vermag. Lest Ruth Klügers Buch – es könnte ein Entschluss entstehen: kein Tag ohne Gedicht, vielleicht auch ein eigenes.
Die Lyrik war für die 1931 geborene Ruth Klüger schon früh ein Mittel der Lebensrettung. In ihrer Wiener Zeit, als sie als jüdisches Kind in eine große Einsamkeit hineingezwungen wurde, vertrieb sie sich die Zeit mit dem Auswendiglernen von Gedichten, dann, im Vernichtungslager, versuchte sie das, was sie im Lager „aufgetischt bekam“, wie sie mit der ihr eigenen Nonchalance schreibt, „zu bewältigen, indem [sie] darüber Reime machte“. Sie hat eines dieser damals geschriebenen Gedichte, „Der Kamin“, zum ersten Mal im Parlament in Wien vorgetragen und kommentiert.
Wenn man sich die Frage nach der getroffenen Auswahl der Gedichte stellt, findet man im „Vorwort“ dazu ein Beispiel von Klügers charakteristischem Flüchtlings- und Exilantenhumor. Sie habe die Gedichte – es sind 21, davon zwölf deutschsprachige und neun, meist von ihr übersetzte, englischsprachige – gar nicht ausgesucht:
Sie sind mir sozusagen zugelaufen wie streunende Katzen, aus einer ganzen Menagerie von Versen, die mir im Kopf spuken oder mich aus Büchern, Liedern oder aus dem mündlichen Gemeingut anspringen, wie etwa die von Emma Lazarus auf der Freiheitsstatue verewigten Verse.
Manche Gedichte habe sie lange mit sich „herumgetragen“, wie etwa Chamissos „Heimweh“, das er in einer Fremdsprache wiederaufleben ließ, die ihn zum Europäer stempelte, der in kein Land gehörte, weil kein Land ihm gehörte.
Diese zwei winzigen Beispiele aus der Reihe der interpretierten Gedichte zeigen, dass uns in Gegenwind Fundstücke vorgelegt werden von jemand, den das Emigrantenschicksal hellsichtig gemacht hat für das, was retten kann. Wir haben es in Klügers Kommentaren mit „Flüchtlingsgesprächen“ über Gedichte zu tun. Bertolt Brecht gehört ja zu den „Ahnherren“ ihres Denkens und Schreibens sowie, neben anderen, vor allem Sigmund Freud. Auf ihn hat sie in der Wiener Parlamentsrede hingewiesen, wenn sie den Prozess der Verdrängung erklärt, den sie in ihre hellsichtige „Gespenster-Poetik“ übersetzt und auf die Verleugnungsstrategien der Gesellschaft anwendet:
das, was geschehen ist, verschwindet ja nicht, es geistert nur.
Die individuelle dichterische Arbeit des Freierwerdens ist der rote Faden, der sich durch ihr Werk zieht, auch dort, wo es nur um die Auswahl der Gedichte für den Sammelband geht. Die in sich selber verschlossene traumatische Vergangenheit spukt einem im Kopf herum, springt einen an, läuft einem zu, man trägt sie mit sich herum, und plötzlich, wie nebenbei, ist man fähig, es zu sagen.
„Wir können, was gegen uns gerichtet ist, wenden, und die Welt geht uns wieder auf“ heißt es in „Das Erzählen in dieser Zeit“ (1952) von Ilse Aichinger, einer anderen Überlebenden des Holocausts. Ruth Klüger hat von ihr das Gedicht „Zeitlicher Rat“ in die Gegenwind-Anthologie aufgenommen. Es ist das Gedicht, das dem Verstehen die größten Schwierigkeiten entgegensetzt, und gerade diesem Gedicht, das sich jedem geläufigen, von den Bahnen der Sprache vorgespurten Verstehen entziehen möchte, spricht die Interpretin die Fähigkeit zu, „durch die Schwere des Alltags [zu] helfen“. Letztlich trifft sich diese Einsicht mit unserer aus dem Alltag gewonnenen Erfahrung, dass seiner „Schwere“ und seiner vertrackten Komplexität nicht durch die geläufigen Sprüche beizukommen ist, sondern eher, „an gewissen Tagen“, mit der Hilfe von „unwillkürlichen Ratgebern“, zu welchen die Gedichte werden können. Aichingers Gedicht „Zeitlicher Rat“ will dank seiner Widersprüche und trotz seines Titels nicht überzeugen. Weitaus tröstlicher, schafft es einen Schwebezustand, in dem wir uns „wiedererkennen“ – mit dieser feinen Nuancierung lässt Klüger die Kunst des Lesens von Gedichten in die schönste aller Künste, die Lebenskunst, übergehen.
Hans Höller, der Standard, 7.4.2018
Unaufhörlich lieben
– Lyrik half Ruth Klüger einst, das KZ zu überleben. Gegenwind ist eine Sammlung ihrer Gedichtinterpretationen. –
Manchmal begleiten sie uns ein Leben lang: Einzelne Wörter, Formulierungen oder ganze Gedichte. Sie werden mit uns erwachsen und bergen nicht selten für jede neue Phase unseres Lebens oder für besondere Momente kostbare Botschaften, verschüttete Erinnerungen. Verse als Vademecum, Verse als stille Begleiter durch den Alltag, ja, Verse mitunter auch als existenzielle Reflexionsflächen – davon gibt Ruth Klügers aktuelle Sammlung von Gedichtinterpretationen, die sie zuvor im Laufe der Jahre in der Frankfurter Anthologie veröffentlichte, kund. Die meisten dieser Texte seien ihr dem Vorwort zufolge „zugelaufen wie streunende Katzen“. Nun in einem Band unter dem Titel Gegenwind publiziert, ergibt gerade „das Nebeneinander dieser Gedichte (…) oft ein Miteinander von Aha-Momenten.“
Was die 1931 in Wien geborene Literaturwissenschaftlerin reizt, sind in der Gesamtschau immer wieder Poeme, die von Fremdheitserfahrungen berichten. So zum Beispiel „Das Schloß Boncourt“ von Adelbert von Chamisso, einem aus der Champagne geflüchteten Dichter, der seine Texte auf Deutsch schrieb. Der Blick des seiner Heimat Beraubten ist seinem Erinnerungsgedicht spürbar eingeschrieben: Noch einmal kehren wir in der Rückbesinnung des lyrischen Ich an dessen titelgebenden Kindheitsort zurück. Im Burghof erblicken wir einen Feigenbaum, eine „Sphinx am Brunnen“ und Wappenschilde.
Dass all die Schönheiten jedoch längst Vergangenheit und inzwischen lediglich noch pure Illusion sind, verdeutlicht das Ende. Wo einst das prächtige Gebäude stand, findet sich nun nur noch Ackerboden. Mit Bewunderung hält Krüger dazu fest:
Denn das, was „Das Schloß Boncourt“ so sympathisch macht, ist die unerwartete Versöhnlichkeit.
Dem Subjekt wohnt trotz des Verlusts kein Zorn inne. Im Gegenteil: Es hofft, dass der Boden jener erfüllenden Tage nun für die Zukunft fruchtbar sein mag.
Chamissos Ich scheint angekommen und mit sich selbst im Reinen zu sein. Anderen, den Nomaden und Flüchtenden unserer Tage, steht hingegen noch ein weiter Weg bevor. Als mahnende Geste für eine offene, humane Gesellschaft hebt die Freiheitsstatue vor New York ihre Fackel hoch. Auf ihrem Sockel steht seit jeher das Poem „Der neue Koloss“ aus der Feder von Emma Lazarus, das Klüger selbst übersetzt und deutet. Die Gebärde der in Stein gehauenen Dame gleicht keineswegs jener des griechischen Riesen von Rhodos. Statt mit Waffen und kriegerischem Gestus begegnet sie den Ankommenden mit einem leitenden Licht.
Wir lesen: „Den Abschaum schickt vom übervollen Strand. / Am Goldnen Tor erheb ich meine Hand“ – ein abschließender Reim, der sich wie eine schützende Hand um die Hilflosen schließt. Die Aktualität dieser Zeilen erweist sich aus Sicht der jüdischstämmigen Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger, welche selbst einstmals von den Nationalsozialisten deportiert wurde, als offenkundig. So seien alle „wohlhabenden Länder vor die Wahl gestellt: geballte Faust oder ausgestreckte Hand, Schwert oder Fackel?“
Auf reine l’art pour l’art mag man in diesen von der Autorin ganz persönlich erlesenen Gedichten kaum stoßen. Stets ist das Politische dem Poetischen mal mehr, mal weniger inhärent. Zu einer ungemeinen Vielschichtigkeit gelangt Gegenwind durch die intelligente Zusammenstellung, die einen Reichtum an Assoziationen und Querverweisen zu erkennen gibt. Wie ein Gewebe verdichten sich Themen wie Massenmigration, Kosmopolitismus, aber auch Rassismus und Menschenliebe zu einem polyphonen Echoraum unserer Gegenwart. Pathetische stehen neben nüchternen Texte. Jubel und Melancholie stehen in einer stimmigen Balance zueinander. Nachdem Hermann Hesses „Ich weiß von solchen…“ noch den nachhaltigen Schrecken von Krieg, Zerstörung und Hass anklagt, folgt wenige Seiten darauf Georg Kreisslers bitterböses Satiregedicht „Die Hexe“ auf eine Gesellschaft des Misstrauens, der Vorurteile und des Fremdenhasses. In der Nachbarschaft schlägt darin ein kritisches Beäugen einer neuen Bewohnerin bald in Gewalt um. Seit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ mag solchen Bildern und Erzählungen wieder eine traurige Brisanz zukommen.
Dass die Leserin Klüger auch für die ganz feinen Untertöne sensibel ist, liest sich an ihrer bravourösen Annäherung an Walt Whitmans Hommage auf sein New York Mitte des 19. Jahrhunderts ab: „Stadt der Orgien“ lautet dessen Titel, der schlichtweg das Programm dieses wilden Soziotops beschreibt. Allerdings rufen weniger die unzähligen Feiern oder die Lichter der Schaufenster die Begeisterung des lyrischen Ich hervor.
Nach all den Ruhm und Glanz der Küstenmetropole stilisierenden Anaphern („Nicht deine endlosen Häuserreihen… / Nicht das Gespräch mit Gelehrten…“) halten ihn nur die manchmal flüchtig vorbei eilenden Blicke des Begehrens und Verzückens, denn „Liebende, nur unaufhörlich Liebende, sind mein Lohn“. In treffendem Ton analysiert Klüger von dem Strom der Eindrücke, beschreibt Manhattan als ein „Sodom, das von einer Flut sinnlicher Wahrnehmungen überschwemmt ist“. Ausgehend von der sich im Text subtil abzeichnenden Homosexualität des Dichters wird man eines erotisierten Big Apple gewahr, das letztlich zum „Ort wie Objekt der Liebe“ avanciert. Klügers Auswahl erhebt keinen Anspruch, einen schlüssigen oder gar unanfechtbaren Kanon abzubilden, warum auch? Von ihrem Kompendium muss man sich einfach nur mitreißen lassen, sich ganz der Begeisterung für die Poeme hingeben und auch der innigen Anteilnahme ihrer Interpretin.
Neben dem Effekt, dass wir wie in allen Werken der Schriftstellerin einiges klarer über ihr Denken und Wesen erfahren, überzeugt in diesem Band vor allem die tiefe Empathie. Gedichte hatten ihr einst geholfen, das KZ zu überleben, Klüger zeigt uns, was Gedichte für sie sein können. Der Wahrnehmungsraum des Lesers öffnet sich und zeigt, wie Literatur, um es mit Hesse zu sagen, unser „Herz wieder liebesfähig“ werden lässt.
Björn Hayer, der Freitag, 14.4.2018
Lyrik neu
Gedichte (auch die todernsten!) sind eine spielerische Gattung von Sprachexperimenten, die zwischen realistischer Weltbeschreibung und wortloser Musik akrobatische Kunststücke aufführen“, so beginnt das Vorwort von Ruth Klügers neuestem Wurf Gegenwind: Erstmals sind sie gesammelt da, die Interpretationen und Übersetzungen von Texten bedeutender – wenngleich nicht immer bekannter – Dichterinnen und Dichter. In den vergangenen zehn Jahren entstanden, sind sie ein Zeugnis auch der Interpretin selbst, die mit Gedichten sogar das Schreckliche des KZ überstand. Außerdem sind Übertragungen von Texten englischsprachiger Autorinnen und Autoren dabei, etwa Walt Whitmans „City of Orgies“ oder Anne Sextons „The Abortion“ (wofür Klüger in ihrer deutschsprachigen Interpretation den vielsagenden Titel „Landschaft mit schwangerer Frau“ findet). Sehr fein die deutschsprachigen Dichter und Autorinnen: Etwa Ilse Aichinger mit „Zeitlicher Rat“, ein Text, der einen tröstlichen Schwebezustand erschafft, „in dem wir uns wiedererkennen“. Ein überaus bekömmliches Buch mit nachhaltiger Wirkung ist das geworden. Chapeau!
Nils Jensen, Buchkultur, Heft 178, 3/2018
Weiterer Beitrag zu diesem Buch:
Bettina Hartz: Kurz, knapp, brillant
fixpoetry.com, 10.4.2018
Brigitte Schwens-Harrant: Poesie, auch politisch
Die Furche, 26.4.2018
„Der Sinn des Lebens ist das Leben.“
Wir sind im Mai 2015 in ihrer Göttinger Zweitwohnung verabredet. Ruth Klüger ist 83 Jahre alt und für ein paar Tage aus Kalifornien herübergekommen. Seit 1988 bewohnt sie in der deutschen Universitätsstadt eine praktisch eingerichtete Wohnung mit Glastisch und schwarzem Ledersofa in einem modernen Rotklinkerbau. Jetzt will sie ihre Zelte in Göttingen abbrechen. „Wenn etwas zu Ende ist, ist es zu Ende“, sagt sie. Mein Besuch bei ihr ist so etwas wie der Schlussstrich unter dem deutschen Kapitel in ihrem Leben.
Dabei hätten die deutschen Leser die Germanistikprofessorin aus Irvine nie kennengelernt, wäre Ruth Klüger nicht Ende der achtziger Jahre wegen einer Gastprofessur nach Göttingen gekommen, wo sie von einem Fahrradfahrer umgefahren wurde und auf den Kopf fiel. Der Unfall war für sie buchstäblich ein Anstoß, endlich ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben: ihre jüdische Kindheit in Wien, die Deportation nach Theresienstadt und nach Auschwitz, die Ausreise nach Amerika.
Ihr Überleben verdankt sich einem unwahrscheinlichen Zufall. Im Theresienstädter Familienlager von Auschwitz sollten sich Frauen zwischen 15 und 45 zu einem Arbeitstransport melden. Ruth Klüger, damals erst zwölf, und ihre Mutter stellten sich nackt in die Schlange. Der SS-Mann winkte die Mutter bei der Selektion durch und wies die Tochter zurück. Die verzweifelte Mutter überredete sie, es noch einmal zu versuchen und sich diesmal als Fünfzehnjährige auszugeben. In einem unbewachten Moment reihte sich die Kleine wieder in die Schlange der nackten Frauen ein. Sie hatte Angst davor, sich älter zu machen. Doch neben dem Selektionsoffizier saß eine junge Schreiberin, ein Häftling. Sie kam dem in der Schlange wartenden Kind entgegen und sagte halblaut: „Sag, dass du fünfzehn bist.“ Das machte ihr Mut. Der SS-Mann fand sie zwar zu klein, ließ sich von der Schreiberin jedoch überzeugen. Sie war gerettet. Nur wenige Tage später wurden die anderen Kinder aus dem Theresienstädter Familienlager in Auschwitz-Birkenau vergast. Bis heute kann sie sich an ihre Gesichter erinnern.
Mutter und Tochter kamen ins Arbeitslager Christianstadt, ein Außenlager des KZ Groß-Rosen. In den letzten Kriegswochen konnten die beiden fliehen und untertauchen. Die Entscheidung der Mutter stand danach fest: Sie beantragte die Ausreise in die USA.
Bevor es dazu kam, studierte die inzwischen fünfzehnjährige Ruth Klüger jedoch noch ein bisschen Philosophie an der Universität Regensburg. Im Hörsaal saß sie neben einem aufgeweckten 19-jährigen Jungen: Martin Walser wurde ihr erster Freund in Deutschland. Die Freundschaft hielt 54 Jahre und endete, als der Freund seinen Roman Tod eines Kritikers veröffentlichte. In einem offenen Brief nannte Ruth Klüger den Schlüsselroman Walsers über den jüdischen Kritiker Marcel Reich-Ranicki ein „übles Buch“. Sie kann sehr deutlich werden, wenn sie sich verletzt fühlt. In dem Brief schrieb sie:
Als eine Jüdin, die sich beruflich mit deutscher Literatur befasst und sich mit Dir und Deiner Familie befreundet glaubt, fühle ich mich auch von Deiner Darstellung eines Kritikers als jüdisches Scheusal betroffen, gekränkt, beleidigt.
Seither haben die beiden sich nicht wieder gesehen.
Ihre Beziehung zu Deutschland und zu ihrer Wiener Heimat bleibt schwierig. Seit beinahe sechzig Jahren lebt sie in den USA, wo sie einen deutschen Professor geheiratet und zwei Söhne bekommen hat, mit denen sie bis heute kein Wort Deutsch spricht. Dennoch hat sie nach der Scheidung in Berkeley Germanistik studiert und ist eine berühmte Auslandsgermanistin geworden, die in Princeton und Irvine deutsche Literatur gelehrt hat. Ihr Erinnerungsbuch weiterleben, das sie in Göttingen auf Deutsch geschrieben hat, wurde ein Bestseller – nicht zuletzt dank der Hilfe Reich-Ranickis, der das Buch im Januar 1993 im Literarischen Quartett feierte.
Der zweite Teil der Autobiographie unterwegs verloren, der 2008 folgte, ist deutlich angriffslustiger als der erste Teil. Die Schonungslosigkeit, mit der Ruth Klüger darin auf ihr amerikanisches Leben, auf die Männer, die Kollegen, auf die eigene Familie und ihre Ehe zurückblickt, mag etwas mit den Minuten in der Schlange von Auschwitz zu tun haben. Wovor sollte sie danach noch Angst haben?
Die 83-jährige Ruth Klüger ist auf der Durchreise – gestern noch in London, übermorgen in Wien und dann in Paris. Obwohl sie inzwischen eine lässige Amerikanerin geworden ist, spricht sie ein warm klingendes Wiener Deutsch. Mit hochgezogenen Beinen und kurzgeschorenen weißen Haaren sitzt sie mir gegenüber und strahlt eine natürliche Gelöstheit aus. Gerade schreibt sie an ihrem ersten Roman, den möchte sie noch fertigstellen. Vielleicht reicht die Zeit auch noch für einen Aufsatz über Kleist. Und dann? Ja, dann möge ich doch bitte einen schönen Nachruf auf sie schreiben.
Iris Radisch: Unser Gespräch ist das letzte in einer Reihe von Lebensendgesprächen, die ich mit älteren Autoren geführt habe. Einige wie Julien Green, Reich-Ranicki und George Tabori waren zum Zeitpunkt des Gesprächs schon 90, andere wie Günter Grass, Martin Walser und Imre Kertész weit über 80 Jahre alt.
Ruth Klüger: Kertész hat vermutlich gejammert?
Radisch: Ja, sehr. Und Reich-Ranicki sagte, er sei nie in seinem Leben glücklich gewesen.
Klüger: Da ist es ihm schon sehr schlecht gegangen. In seinen letzten Jahren hat er nur noch ferngesehen. Und ganz zum Schluss nur noch Musik gehört.
Radisch: Er hatte damals bereits die meisten seiner Bücher weggegeben. Von dem, was ihm wichtig war, blieb am Ende beinahe nichts mehr übrig.
Klüger: Aber das war nicht der Fall bei Ihren anderen Gesprächspartnern?
Radisch: Nicht in diesem Ausmaß. Wie ist das Altwerden für Sie?
Klüger: Es ist schon eine Beeinträchtigung. Vor meiner Herzoperation konnte ich kaum noch gehen, jeder Schritt war eine Anstrengung. Danach kamen die besten Jahre meines Lebens. Ich bin jetzt so alt wie Goethe in seinem Todesjahr. Und das Erstaunliche ist, dass man nicht allein ist. Es gibt eine Generation von alten Leuten. Das hat es früher nicht gegeben. Goethe hat sehr darunter gelitten, im Alter allein zu sein, weil alle anderen schon weg waren. Ich habe gerade meine 91-jährige Freundin in London besucht, übermorgen kommt eine andere 86-jährige Freundin zu ihr. Im Januar hat mich meine 88-jährige Freundin in Kalifornien besucht. Wir sind vorhanden. Auch wenn ständig jemand stirbt, den man kennt.
Radisch: Ist es schwieriger, als Frau zu altern? In der Öffentlichkeit sieht man viele große alte Männer, aber wenige große alte Frauen.
Klüger: Das beste Geschenk für uns Frauen ist die Königin von England, die sich einfach altern lässt. Sie hat kein Makeup, kein Lifting. Sie ist einfach eine alte Frau, die ein Role Model und ein gutes Vorbild ist, besonders für junge Frauen. Sie tritt nicht ab, sie tut nichts mit ihrem Gesicht und ihrem Körper, sie bleibt sichtbar und versteckt sich nicht.
Radisch: Bedeutet das Altwerden eine größere Freiheit?
Klüger: Die habe ich, seit ich aus dem KZ weg bin. Jedes Jahr hat mir mehr Freiheit gebracht. Mein Leben war ein Kampf um Freiheit. Ich habe meine Ehe als ein Gefängnis empfunden. Oder wenn man kein Geld hat, ist man unfrei. Freiheit ist ganz wichtig.
Radisch: Aber im Alter verkürzen sich die Zukunftsperspektiven. Man kann Fehler nicht mehr rückgängig machen, man hat sein Leben entworfen und hat sich vielleicht geirrt.
Klüger: Das kann man nicht zurücknehmen. Man kann nur weitermachen und sich womöglich wieder irren.
Radisch: Aber was verändert sich, wenn man weiß, dass man nicht mehr so viele Würfe hat?
Klüger: Da kommt die Altersweisheit ins Spiel, die ja im Grunde genommen eine Alterswurschtigkeit ist. Es ist egal, man soll sich nicht einbilden, dass es die richtige Wahl gibt. Davon handelt auch der Roman, den ich noch schreiben will. Wenn alles determiniert ist, gibt es keine Freiheit. Wenn aber alles Zufall ist, was ich glaube, dann hat das den Vorteil, dass man frei ist, zu wählen. Deswegen muss man sich später keine Vorwürfe machen. Man weiß im Leben nie, was dabei herauskommt.
Radisch: Bereuen Sie es manchmal, zu viel Lebenszeit für Dinge verschwendet zu haben, die Ihnen heute nicht mehr wichtig erscheinen?
Klüger: Ich sage mir, ich habe mein Leben gehabt. Wenn mich jetzt der Blitz trifft, macht es eigentlich nichts aus. Das Gefühl habe ich ganz stark. Ich kann mich nicht mehr beschweren, irgendetwas nicht getan zu haben.
Radisch: Woher weiß man, dass das Leben sich erfüllt und dass man all seine guten Momente schon gehabt hat?
Klüger: Man erinnert sich. Ich habe Entscheidungen getroffen, zu denen ich stehen will. Und ich habe Entscheidungen getroffen, die mir leidtun. Aber das sind alles Dinge, die mir passiert sind. Was will man mehr vom Leben?
Radisch: Manch einer hat so viel erlebt, dass er den Überblick verloren hat. So ging es George Tabori, er hatte so viele Identitäten, dass er sich am Ende in seinem eigenen Leben nicht mehr zurechtfand.
Klüger: Mit Identität habe ich nie ein Problem gehabt. Das ist eine Max-Frisch-Sache. Ich weiß nicht, ob Identität ein Männerproblem ist. Aber ich habe schon das Gefühl, wenn ich keine Kinder gehabt hätte, wäre etwas Zerfahrenes in meinem Leben. Ich wusste immer, dass ich jemand bin. Obwohl einen die Männer, die männlichen Autoritäten, in vielen Lebenslagen dazu bringen wollen, dass man weniger von sich hält. Das ist ihnen auch manchmal gelungen. Interessant ist, dass ich in letzter Zeit so viel über die Vergangenheit nachdenke und meine Meinung über das, was geschehen ist, so oft ändere.
Radisch: Worüber ändern Sie Ihre Meinung zum Beispiel?
Klüger: Ich denke an meine Mutter, mit der ich im Streit lag. Ich hatte immer das Gefühl, dass sie mich überhaupt nicht liebt. Jetzt verstehe ich, wie wenig Entwicklungsmöglichkeiten sie gehabt hat. Eine Frau, die 1904 in eine Mittelstandsfamilie hineingeboren wurde. Die eine erste Ehe mit 19 Jahren in Prag einging, eine zweite mit meinem Vater, von dem ich den Verdacht habe, dass er uns hätte mitnehmen können, als er aus Wien geflohen ist, dass er uns vielleicht hätte retten können. Jetzt, als alte Frau, denke ich darüber nach, und es entsteht ein anderes Bild.
Radisch: Im Alter erzählen Sie sich Ihr Leben neu?
Klüger: Ganz neu. Ich beurteile Menschen anders, als ich sie vorher beurteilt habe. Das hat auch damit zu tun, dass ich weicher geworden bin.
Radisch: Was hätten Sie im Rückblick unbedingt anders machen sollen?
Klüger: Was mir am meisten leidtut, ist, dass ich in Amerika gelandet bin und nicht in Israel. In Israel hätte ich zu einer Mehrheit gehört. In Amerika wurde ich als fremd eingestuft. Ich habe das lange nicht einsehen wollen, dass man in Amerika niemanden haben wollte, der wie ein Mahnmal herumläuft. Ich hatte ja diese KZ-Nummer auf meinem Arm. Das ist mir nicht eingefallen, dass das so wirken könnte. Für mich war diese Nummer ein Teil meines Lebens, und ich kannte so viele Leute, die auch eine hatten. Nein, Amerika war das falsche Land.
Radisch: Fühlen Sie sich fremd in der Gegenwart? Der Holocaust und die seelischen Traumatisierungen, die bis in die Generation der Nachkriegskinder reichen, sind heute eine Geschichte neben vielen anderen Geschichten.
Klüger: Ja, die sogenannten „Millennials“, die ab den achtziger Jahren Geborenen, sind völlig von uns getrennt. Der Zweite Weltkrieg scheint für sie so unendlich weit weg zu sein. Als ich neulich einem jungen US-Soldaten sagte, ich sei 1947 nach Amerika gekommen, war das für ihn schier unvorstellbar lange her. Unsere Vergangenheit ist Geschichte geworden.
Radisch: Mit Ihrer Generation geht eine Epoche zu Ende, deren Nachbeben uns ein halbes Jahrhundert lang in Atem gehalten hat.
Klüger: Deswegen sind Sie ja hergekommen. Ich bin ein Stück Geschichte. Das ist natürlich nicht unbedingt angenehm.
Radisch: Sie haben Ihr Erinnerungsbuch über die Lager auf Deutsch geschrieben, in der Sprache der Täter. War Deutsch ein Problem für Sie?
Klüger: Die Schoah ist ja vor allem ein deutsches Ereignis. Und trotzdem sind die vielen Bücher, die darüber geschrieben wurden, selten auf Deutsch geschrieben worden, sondern auf Ungarisch, Holländisch, Hebräisch, Schwedisch, Polnisch und Italienisch. Ich bin mit sechzehn nach Amerika gekommen und wollte nie wieder Deutsch sprechen. Als ich dann Germanistik studiert habe, habe ich jüdische Freunde verloren, die mit dieser Teufelskultur nichts mehr zu tun haben wollten.
Radisch: Die Tragödie, geistig in einer Kultur beheimatet zu sein, die einen einmal auslöschen wollte, spielte auch in meinen Gesprächen mit Imre Kertész und George Steiner eine Rolle. Beide sind der Auffassung, Auschwitz habe es nicht trotz, sondern wegen der deutschen Kultur gegeben. Dennoch lieben beide die deutsche Kultur und sind überzeugt davon, dass der Nationalsozialismus vor allem eine österreichische Angelegenheit war.
Klüger: Das stimmt natürlich. Hitler ist in österreichischen Schulen und in österreichischen Kirchen erzogen worden. Das lässt sich nicht wegwischen. Braunau liegt in Österreich. Aber was soll das sein in der deutschen Kultur, das zu Auschwitz führt? Ich glaube nicht an Daniel Goldhagens These, dass es eine Art Vorausbestimmung für den deutschen Antisemitismus gibt. Ich denke eher, dass diese ganze Nazi-Geschichte ein Zufall war, der nicht hätte kommen müssen, wenn man statt auf Rot auf Schwarz gesetzt hätte. Hitler war nicht notwendig. Er war total unnötig.
Radisch: Kertész geht noch weiter. Er sagt, es habe bis heute nichts gegeben, dass Auschwitz widerlegt hätte.
Klüger: Das ist richtig. Denn wenn Auschwitz, wie ich glaube, ein Zufall war, dann können Zufälle immer wieder geschehen. Die Hochkultur schützt uns nicht davor. Sie verhindert auch nicht die weltweite Sklaverei und die weltweite Verarmung.
Radisch: Dann ist die Hochkultur aber nur ein Spiel, ein wunderbarer Freizeitvertreib für Eliten.
Klüger: Diesen Schluss könnte man aus den Konzentrationslagern ziehen.
Radisch: Wie denken Sie heute an Ihre Zeit im Konzentrationslager zurück?
Klüger: Die Erinnerungen aus der Lagerzeit sind festgefroren. Für mich war das alles völlig sinnlos. Auch dass ich gerettet wurde, war reiner Zufall. Eine Sache von 15 Minuten, weil ich mich in Auschwitz zwei Mal in die Schlange gestellt habe. In diesen Tagen denke ich oft daran. Dieser Zufall kann zum Albtraum werden. Vorhin habe ich gesagt, ich dachte immer, ich bin wer. In letzter Zeit habe ich aber das Gefühl, ich bin überhaupt nicht durchgekommen. Das war wie ein schwarzes Loch, womöglich mit Pech bestrichen wie im Märchen, in dem sind alle Kinder aus Theresienstadt, meine Altersgenossen, die mit mir im Familienlager in Auschwitz waren, untergegangen, während ich da irgendwie rausgekrochen bin oder auch nicht. Ich rechne mich irgendwie dazu zu den toten Kindern. Ich fühle mich nicht schuldig, aber es ist ein metaphysisches Gefühl, als hätte ich überhaupt nicht überlebt. Ich gehörte zu diesen Kindern, und Tage später sind sie umgekommen.
Radisch: Warum mussten Sie beinahe sechzig Jahre alt werden, um Ihre Erinnerungen aufzuschreiben?
Klüger: In der ersten Zeit und viele Jahre nach dem Krieg haben sich vor allem Männer zu Wort gemeldet. Sie schienen diejenigen, die etwas zu sagen hatten. Ich bin mir da nicht wichtig genug vorgekommen, ich war damals ja noch ein Kind und hatte nur die Kinderperspektive. Für mich hat dann die Frauenbewegung mit reingespielt, die ungeheuer wichtig war für mich.
Radisch: Werden Frauen in der Literatur noch immer unterschätzt?
Klüger: Ganz unglaublich sogar. Ich glaube, es ist nach wie vor so, dass Männer Bücher von Frauen nicht lesen. Das geben sie nicht zu, aber fragen Sie mal Männer, was das letzte Buch von einer Frau war, das sie gelesen haben. Sehr viele bedeutende Autorinnen sind mit ihren Werken unter den Tisch gefallen. Niemand kennt sie.
Radisch: Sie haben jetzt fast zwanzig Jahre lang zum Teil in Deutschland gelebt, hier in Göttingen. Ist das eine Art Wiedergutmachung?
Klüger: Nein. Diese Vergangenheit steht im Raum und ist nicht lösbar. Das habe ich nicht auf einen Nenner gebracht. Es ist einfach ein grauenhafter Zufall gewesen.
Radisch: Ihre Freundschaft zu ihrem Jugendfreund Martin Walser war immer ein Gradmesser für Ihr Verhältnis zu Deutschland. Inzwischen ist diese Freundschaft beendet.
Klüger: Solange ich mit ihm befreundet war, mochte ich ihn. Aber ich sehe, dass ich einen Fehler gemacht habe, indem ich nicht richtig eingeschätzt habe, wie er zu Juden steht. Was er in Tod eines Kritikers geschrieben hat, ist so ungut, dass ich mit ihm nicht wieder an einem Tisch sitzen möchte. Auch Reich-Ranicki hat sich furchtbar über diesen Roman aufgeregt. Und jetzt entdeckt Walser die jüdische Literatur, das ist verrückt. Für mich ist es eine große persönliche Enttäuschung. Deutsche und österreichische Freunde, die ich jetzt habe, sind fast ausnahmslos Freundinnen. Die ganze nationalsozialistische Bewegung hat die Frauen viel weniger miteinbezogen.
Radisch: Aus Ihrer Sicht muss es besonders merkwürdig aussehen: Von den beiden bedeutendsten deutschen Nachkriegsschriftstellern schreibt der eine den Tod eines Kritikers, und der andere war in der Waffen-SS. War die lange verschwiegene SS-Mitgliedschaft von Günter Grass die zweite große Enttäuschung für Sie?
Klüger: Ich habe ja von Haus aus keine so gute Meinung von Deutschen. Dass jemand so etwas verschweigt, verstehe ich sehr gut. Das Peinliche daran ist ja, dass er anderen Leuten vorgeworfen hat, sie hätten sich nicht dazu bekannt. Aber er hätte im Leben nicht den Nobelpreis bekommen, wenn das bekannt gewesen wäre. Für eine Million Euro verheimlicht man einiges. Das waren Angst und Berechnung. Aber ich habe die deutsche literarische Szene nicht so hierarchisch gesehen mit den beiden als beherrschenden Figuren an der Spitze. Mich haben auch immer die Frauen interessiert. Die, mit denen Sie gesprochen haben, Mayröcker, Kirsch und Aichinger. Und Leute wie Tabori, die an der Grenze von Deutsch und Englisch angesiedelt sind.
Radisch: Marcel Reich-Ranicki hat Ihnen den Weg nach Deutschland geebnet, als er Ihr erstes Buch in seinem Literarischen Quartett lobte.
Klüger: Zu meinem Verleger hat er gesagt, ja, es sei schon ein gutes Buch, aber diese schrecklichen feministischen Anflüge hätte man doch besser rausstreichen sollen. Aber in der Sendung gab es dann überhaupt keine Kritik.
Radisch: Fühlten Sie sich im Nachkriegsdeutschland je missbraucht als Vorzeigefigur einer leerlaufenden Gedenkkultur? Imre Kertész nennt sich in seinen Tagebüchern im Rückblick einen Holocaust-Clown.
Klüger: Ja, der Kertész ist gut. Holocaust-Clown ist fabelhaft. Ich würde das unterschreiben. Ich habe dieses Gefühl auch jetzt noch. Mir geht diese Rolle als letzte Überlebende ungeheuer auf die Nerven. Alle fragen mich: Was machen wir, wenn die letzten Überlebenden nicht mehr da sind, um uns etwas zu erzählen?
Radisch: Im Grunde haben Sie, von dem Göttinger Zwischenspiel einmal abgesehen, Ihr Leben in Amerika verbracht. Hatten Sie den Traum, dort neu anzufangen, weit weg vom Kriegstrauma Europas?
Klüger: Ich wollte überhaupt einmal anfangen. Ich hatte ja noch gar kein Leben gehabt, als ich in Amerika ankam. Ich habe nicht gewusst, was sich gehört in einer ordentlichen Gesellschaft. Ich habe keine ordentliche Kindheit gehabt und bin danach in ein fremdes Land gekommen, wo andere Regeln herrschten, die mir nicht gepasst haben. Aber wenn wir aus Europa nicht weggegangen wären, wäre das Leben stehen geblieben. Es wäre ein Fehler gewesen, in Europa zu bleiben.
Radisch: Sie sind dann zum Studieren nach Kalifornien gegangen und haben Ihre Mutter, mit der Sie im KZ waren, in New York zurückgelassen.
Klüger: Das hat man mir übel genommen. Eine Tochter, die ihre Mutter im Stich lässt. Aber ich habe mich mit meiner Mutter schlecht vertragen. Sie ist 96 Jahre alt geworden. Im Alter haben wir uns besser verstanden, weil ihr Verfolgungswahn und ihre Paranoia abgenommen haben.
Radisch: Der israelische Autor Amos Oz sagte mir, dass man seine toten Eltern niemals loswird. Man erbt ihre Traumata und ihre Träume und trägt sie weiter. Seine Eltern waren von Europa verstoßene Europäer, die diese Verletzung nicht verwinden konnten. Vielleicht ging es Ihrer Mutter ähnlich?
Klüger: Schon möglich, und vielleicht habe ich deswegen Germanistik studiert, obwohl ich eigentlich alles hinter mir lassen wollte. In dem Roman, an dem ich gerade schreibe, geht es darum, dass man seinem Vater sein Leben lang nachläuft. Mir begegnet das ständig, wenn ich mit Menschen spreche, wie wichtig ihnen die Väter sind, auch wenn sie nichts Gutes für einen getan haben. Man schleppt seine Väter und Überväter sein Leben lang mit sich herum. Auch die Kinder von Amos Oz werden ihn wieder mit sich herumschleppen.
Radisch: Wäre es nicht gut, die Überväter am Ende doch noch loszuwerden, die sich im Inneren breitmachen? Und tiefer und intensiver im eigenen Leben anzukommen?
Klüger: Sich in sich selbst versenken? Dann landet man vielleicht in einem Schneckenhaus.
Radisch: Wie Sarah Kirsch, die sich in ihr Haus hinterm Deich zurückgezogen hat. Oder Friederike Mayröcker in ihren Zettelgebirgen in Wien. Was wäre in Ihren Augen eine gute Endstation?
Klüger: Sie meinen den Sinn des Lebens? Ich finde, wenn man wissen will, was der Sinn des Lebens ist, muss man sich eine Katze ansehen. Eine Katze, die den ganzen Tag schläft. Da weiß man, dass der Sinn des Lebens einfach das Leben ist.
Aus Iris Radisch: Die letzten Dinge. Lebensendgespräche, Rowohlt Verlag, 2015
Ursula März: Nur Unversöhnlichkeit hilft weiter, Die Zeit, 9.10.2008
Zum 85. Geburtstag der Autorin:
Claudia Schülke: Ruth Klüger wird 85
Jüdische Allgemeine, 31.10.2016
Uwe Wittstock: Gedichte aufsagen beim Appell in Auschwitz-Birkenau
blog.uwe-wittstock.de, 30.10.2016








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