– Zu Jane Hirshfields Gedicht „Am fünften Tag“. –
JANE HIRSHFIELD
Am fünften Tag
Am fünften Tag
verbot man den Wissenschaftlern
die die Flüsse studierten
über Flüsse zu sprechen
oder zu forschen.
Die Wissenschaftler, die die Luft erforschten
durften nicht mehr über die Luft sprechen,
und die, welche den Landwirten halfen
wurden mundtot gemacht,
ebenso die, die für die Bienen da waren.
Jemand tief aus den Badlands, der Verwitterungslandschaft,
verbreitete Tatsachen.
Den Tatsachen verbot man zu sprechen
und verbannte sie.
Die Tatsachen waren überrascht und schwiegen.
Jetzt waren es nur noch die Flüsse
die über Flüsse sprachen,
und nur noch der Wind, der über Bienen sprach,
während die pausenlosen tatsächlichen Blüten der Fruchtbäume
sich weiterhin in Richung Frucht bewegten.
Die Stille sprach laut über Stille,
und die Flüsse sprachen weiterhin
über Flüsse, Felsen und Luft.
An die Schwere gebunden, ohne Ohren und Zungen
sprachen die nicht mehr erforschten Flüsse auch weiterhin.
Autobusfahrer, Angestellte,
Programmierer, Mechaniker, Buchhalter,
Techniker, Cellisten hörten nicht auf zu sprechen.
Sie alle sprachen, am fünften Tag,
über die Stille.
(Übersetzung Ruth Klüger)
In der New York Times vom 23. April 2017 kann man nachlesen, wie die Verfasserin des vorliegenden Gedichts, eine angesehene Essayistin und Autorin von acht Gedichtbänden, sich anheischig machte, beim „March of Science“ in Washington – einem Teil des weltweiten Protests gegen die Missachtung und Einschränkung wissenschaftlicher Forschung – auch der Dichtung einen Platz einzuräumen. Verantwortliche Teilnahme schien das Gebot der Stunde. Eigens für den öffentlichen Vortrag im Freien schrieb sie das Gedicht „Am fünften Tag“ und rief Gleichgesinnte auf, es ihr gleichzutun – mit Erfolg. Gedichte zur Sache wurden beim Aufmarsch deklamiert und gehört.
Hirshfields Einsatz ist schon deshalb bemerkenswert, weil die Dichterin sich selbst als Introvertin und apolitisch bezeichnet und bekannt ist für ihre Naturgedichte und ihr Einfühlungsvermögen in die Nuancen der Gefühlswelt. Kein Geringerer als der Literaturnobelpreisträger Czesłav Miłosz lobte ihre Lyrik für das Licht, das sie auf die buddhistische Tugend der Innerlichkeit („mindfulness“) werfen. Doch die Gefahr, dass die amerikanische Regierung Maßnahmen im Schilde führt, die den wissenschaftlichen Fortschritt hemmen würden, hat eben nicht nur Akademiker und Computerfreaks auf die Beine gebracht, sondern auch die Humanisten und mit ihnen die Poeten.
„Am fünften Tag“ ist eine perfekte Verschmelzung von Naturliebe und politischer Aufklärung in einer Kundgebung, wo der Schlachtruf „Science not Silence“ zum Kampfwort wurde und auf dem öffentlichen Kampfplatz des Protestmarsches auch häufig zu hören war. Die Warnung ist klar: Wenn die Wissenschaft und mit ihr die Tatsachen schweigen müssen, dann sind wir alle ärmer, und die Gottesschöpfung des fünften Tages verstummt. Denn der Titel des Gedichts bezieht sich natürlich auf das erste Kapitel des ersten Buchs des Alten Testaments: Am fünften Tag schuf Gott alles, was im Wasser lebt und in der Luft fliegt, also auch die fliegenden Insekten, die uns sympathisch sind, wie die im Gedicht erwähnten Bienen. Die Landtiere und die beiden (sic!) Menschen kamen erst am nächsten Tag und im nächsten Vers.
So traurig der erste Teil des Gedichts anmutet, so regt sich im zweiten Teil der Widerstand gegen die Unterdrückung. Niedergeschlagenheit verwandelt sich, wird zurückgenommen, und das Gedicht zeigt uns, dass die Sprache, im weitesten Sinn, gar nicht ausgeschaltet werden kann. Die Natur siegt, die Flüsse fließen und rauschen weiter, der Wind weht, die Blüten sind unaufhaltsam auf dem Weg, Früchte zu werden. Tatsachen bleiben Tatsachen über alles Schweigen hinaus. Und dann, plötzlich, sind auch die Menschen da, Menschen aus allen Schichten und den verschiedensten Berufen, die sich zum Protest versammelt haben, die sich nicht mundtot machen lassen und durch ihr Sprechen die Stille widerlegen. Sie alle verdammen direkt und indirekt das von den Machthabern beabsichtigte Schweigen, das über die Forschung verhängt werden soll.
Und damit behauptet sich eben auch die Naturdichterin und rechtfertigt die Einmischung ihrer Kunst in die Politik. Die Stille, sagt die Buddhistin, hat ihre eigene Sprache. Unsere Aufgabe ist zweierlei: Sprecht und hört zu!
Ruth Klüger, aus Ruth Klüger: Gegenwind, Paul Zsolnay Verlag, 2018
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