KONS
Grimmiger Herbst kommt.
Die Sterne sind zynisch.
Eins, zwei, drei, vier, fünf,
ein jeder verdammt,
wir alle in der Reih
eins, zwei, drei.
Weißer Zaun,
schattige Villa.
Den taunassen Vorhang
hast du weggezogen.
Mein Gedanke
leuchtet stärker als die Sonne.
Ziellos geh ich
und dein Hund
bellt mich an.
Dieses Buch erscheint zum 100. Geburtstag des slowenischen Dichters und Avantgardisten Srečko Kosovel. Es folgt seinen Worten: Mein Gedicht ist mein Gesicht. Doch mein Gedicht ist Karst. – Ein Porträt des Œuvres in physiognomischer und topographischer Lektüre.
Kosovel hat kein Buch veröffentlichen können, wohl aber ein erstes vorbereitet. Es gibt keinen Hinweis auf den Inhalt, im Vorwort erwähnt er samtene Lyrik, von der er sich gerade verabschiedet hat; nicht vorgesehen waren offenbar in den letzten zwei Jahren verfasste modernste Gedichte, die er auch vor Freunden geheim hielt: Sie sollten erst 40 Jahre später ans Leselicht gelangen. Die Geschichte der Herausgabe seiner Werke ist eine windungsreiche, immer wieder verzögerte und nach Abschluss der fünfbändigen Werkausgabe 1977 – noch immer nicht abgeschlossene…
Auch dieses Buch kann sich nicht auf eine historisch-kritische Erforschung des gesamten Nachlasses stützen oder eine aktualisierte Biographie dieses Klassikers nicht nur der slowenischen Literatur. Dennoch, wiederholte Wanderungen ins kaum überschaubare Bleistift- und Federgebiet zeitigen Bekanntes in neuem Licht, Unbekanntes, nicht nur am Rande – ErFindung einer orphischen Landschaft.
Kosovels Werk zeigt sich uns mehr noch als in der edierten Form im handschriftlichen Nachlaß als eine Landschaft, ein einzigartiges Wortland, im Reichtum an Kontrasten, (über)irdischer Gegensätze und unterirdischer Höhlen, Strömungen gleicht es dem Karst, jenem Hochland zwischen Triest und dem Berg Nanos unweit des Meeres. Der Mensch sucht sein Gesicht. Karst. So ist dieses Buch des Dichters vom Karst selbst Karst und mag so zu lesen sein. Der Dichter versenkt sich in Landschaft, und diese quert ihn, Bild der Erinnerung, erinnertes Bild, Versprechen. Jedes Erlebnis ist ein Stück Seelenlandschaft, die Teil des Lebens ist.
Die Gedichte, Verse, Prosa(fragmente), Essayauszüge sind in Kreisen, Orten situiert wie Karst, Triest, Ljubljana, Europa, Poetik, Zeitläufte – sie korrespondieren in Konstellationen und Konfrontation… Am Rand wie auch im Nachlaß verstreut: Einfälle, Aperçus, Notizen. Tagebuchnotate, Briefzeilen fließen (chronologisch) als Timav/o (unterirdischer Karstfluss, mündet bei Duino in die Adria) auf dem Grund der Seiten. Linien, Zeichnungen lichten/schatten die rhythmisch gesetzten Spuren der Texte im Weiß.
Verräumlichung, Geraum der dichterischen Wahrnehmung (Mystik des Raums) und Bannung im Wort entsprechen mallarméschem espacement de la lecture. Ins Wortland gehen, es ergehen, er-finden, Invention. Jeder Felsen, jeder Baum, ein jedes birgt seine Erzählung… Die Präsenz der Dinge, Lebewesen, Resonanz im Dichter u. u., Anklang in allem und kosmisches wie sinnliches Erleben, animistische Zwiesprache & Beschwörung in wiederkehrenden Epiphanien an Orten der Schwelle, pentimenti der Stimmungen sind orphisch wie auch: Der Mensch kommt aus des Dunklen Herz und zeigt sich im apollinaireschen Orphismus, Prisma von Licht- & Farbkontrasten, im diaphanen wie im dunklen Wort… Lichtblauer Kristall / ist mein Herz.
Zur Dichtung
Kosovel spürte nach impressionistischen, symbolistischen Anfängen bald eigene Wege des dichterischen Ausdrucks, charakteristisch für die kurze Schaffenszeit sind die Gleichzeitigkeit, Parallelität verschiedener Verfahren, Stile; lyrischer Anhauch und Sprachneuerung, Reime und (Bild-)Konstruktionen sowie ihre Verankerung in seiner karstgeprägten Lebenssicht und jähem Sinn für Widerspruch (Das Paradox weckt den Geist).
Weltlose Formalismen sagten dem empfindsamen und von einer Arbeit, Kunst und Leben einenden Ethik getriebenen Dichtergemüt nicht zu, auch nicht futurischer Maschinenkult und zenitistische Strudel. Der Dichter suchte nach einer Synthese, in der (Natur-)Erleben, existentielle Erfahrung (sein Leben wird zunehmend von Krankheit, Todesahnung überschattet) und gesellschaftliche Widersprüche seiner Zeit in neuen literarischen Formen (Montage, Verfremdung, piktorale, typographische Elemente) zusammenfließen und im komplexen Gedicht aufgehen. Singulär im Kontext europäischer Avantgarde (Kosovel vielfach bekannt) die auch KONS genannten Gedicht-Gebilde: Konstruktivistische Verfahren (Disparates zueinandergefügt, oft im Bild-Dreisprung) werden nicht einfach übernommen, sondern mit der Karsterfahrung der Kontraste und Eigenheiten slowenischer Kultur-, Sprach- wie Literaturtradition verbunden… nekdo: integral / ein Mensch: Integral.
Doch ein Ideal für neue Dichtung gibt es nicht, und Membran des Dichters bleibt unteilbare Einsamkeit, samo samota, – die (zerrissen) schöne Seele, die Verse nicht aus dem Ärmel schüttelt, vielmehr (er)lebt, in Leid und Überschwang, kaltem Grimm, bitterm Gram, hrepenenje / Sehnsucht und Witz; … was die Seele spürt. Das ist meins. Die Spur des Anderen im Antlitz spricht, leuchtet auf. Das Ich und seine Doubles (die Föhre / erzittert / da sie mich erkennt) erneuern sich in poetischen Epiphanien, aufgehobene Dauer im Bild und Kunst als Doppelgesicht der Wiedergeburt. Letzte Worte im letzten Tagebuch: Materialisation der Phantasie…
Ich bin ein Torso / ohne Karst – Erinnern und Anrede des Karstes, dem Dichter Inbild seiner Dichtung und Maquis der Zuversicht, als Erneuerung von Form und Leben gegen Chaos und Tod: Steine & Sonne, Föhrenrauschen, ihr Brand im Abendrot, der lösende Karstwind, packende Bora, die weiße Straße, Wege am Rain, Stille im Hain, die fruchtbaren Dolinen, rote Erde, Teranwein & unterirdische Wasser, Licht im Fenster, die Schärfe des Halms… in all den Kontrasten gewahrt der Dichter auch Dissonanzen, Harmonien, Widerspruch & Behauptung der menschlichen Existenz. Die Schärfe des Karsts und der Zeit schärften ihm Sinn und Feder. Dichtend wird und schafft er Welt, öffnet sich und kommt zu Wort. Wurzeln vertrau’n dem Licht und Licht findet Wasser. Wo der Dichter sein Wort spricht, erblinden die Spiegel des Todes. Und immer wieder tiŝina / Stille – Wortlaut der Stille ist Kosovels Dichtung. Die Abend- & Morgenlinie des Horizonts, zwischen den Kerben der Karsthügel dämmert es: Verstehe. Langsam kommt Umschwung auf.
Das Jahrhundert drängt, bis zum Hals zu / steh ich im Regen, als wär’s nicht ich. Aufgewachsen in Schärfe – Zeit, Widersprüchen, deren Folgen seine Kindheit kappten (und immer noch Kriege auslösen), ließen ihn revoltieren gegen das Ir-ren-ha-us Europa und bösartigen Berechnungsgeist allerorten – Nihilomelancholia. Doch vor allem als Künstler empfand er: mein Leben ist slowenisch, heutig, europäisch und ewig. Und sein Werk wirkt. Mehr denn je. Wenn Europa weiter & zu sich kommt, mit den hereinbrechenden Rändern seiner künstlerischen Aufbrüche. Kosovel hatte sie in sich.
ÜBERSETZEN ist lesendes Nahen, Lektüre eines Begehrens nach Wiederholung, das eine geht im andern Wort auf. Arkaden und (einander) Wandeln. Wortschattentauchen. Kosovels dichterischer Duktus, sein unvergleichlicher Ton, sind trancehaft, kaskadisch, Worte, Verse, Bilder treiben (sich) in A- und Dissonanzen weiter, oft ins Unvollendete, in Pantomimen des Ungeschriebenen, Unschreibbare, schwingen (aus), brechen (ab). Fehlende, markante Interpunktionen betonen Gesten, Gebärde. Reime (bei Kosovel oft „fürs Auge“, aus Grammatik) zu übertragen wurde zumeist verzichtet, Rhythmus, Metrum zu entsprechen, Farben, Ton, Gedichtgestalt zu wahren versucht. Inhalt = Form u.u. Harte Fügungen, jähe Wendung statt Glätten oder Gedrechsel öffnen dabei Räume ins Bild. … Übersetzen, wie Wege sind, Er-Dichtung, Um- & Abwege, Queren, Hang. Überfuhr.
Srečko Kosovels Poesie – Integral der Schatten, die wir werfen. Vom Anfang des vorigen Jahrhunderts in den Anfang des neuen.
(Dieses Buch wurde erwandert in Kosovels Wortland, auf dem Karst, in Ljubljana und an der Donau, von der es bei den Alten hieß, sie münde, unterm Karst fließend, unweit von Duino.)
Ludwig Hartinger, Tomaj, Oktober 2003, Nachwort
Der vorliegende Band ist die 2. Auflage des 2004 erschienenen Buches: Srečko Kosovel, Mein Gedicht ist mein Gesicht (Edition Thanhäuser). Es wurde überarbeitet, um einige Texte ergänzt, aber im Konzept belassen. Es ist die Sicht auf das so vielseitige, zugleich singuläre (in so kurzer Lebenszeit entstandene) Œuvre des Dichters vom Karst und von Weltrang: Entdeckung, Erfindung einer orphischen Landschaft – wie sie in mehr als drei Jahrzehnten Lektüre ergangen wurde und sich immer wieder neu eröffnet hat. Für die Neuauflage schuf Christian Thanhäuser wieder Holzschnitte, Federzeichnungen…
Wann und wo begegnete ich Srečko Kosovel? „Seltsame Konstellation“ (S. K.). Ich war grad zwanzig Jahre alt und in Paris; der zwanzigjährige Dichter hatte ein Gedicht mit „Morgen ab nach Paris“ beendet, kam aber nie hin … Nahe des Pont Neuf sah ich bei einem Bouquinisten ein markantes Gesicht auf einem grünen Büchlein (Kosovels Gedichte auf Französisch, von Marc Alyn übersetzt, Poètes d’aujourd’hui, 1965). Ich erstand es, blätterte darin an der Seine und las: „Lézarde tu seras le désir“ (Zerrissen wirst du dich sehnen) und andere Verse:
überall ist Stille, auf dem Feld, am Himmel,
in den Wolken, nur ich fliehe, brenne
in meinem Feuer
und kann die Stille nicht erreichen
Etwas leuchtete tief in mir auf, dachte an Rimbaud:
Ich schrieb Schweigen.
Doch ich verlor damals den Dichter aus den Augen, war ganz in französische Poesie versunken …
Als ich Jahre später den slowenischen Karst entdeckte, erinnerte ich mich wieder an Kosovel, kaufte ein Büchlein seiner Gedichte und begann am Rande einer Doline zu übersetzen: „Allein / durchs Dorf…“ und wusste sogleich, das ist deine Dichtung. Ich lernte Slowenisch, in slowenischen Wortlandschaften. 1987 erschien eine kleine Auswahl von Kosovels Gedichten in meiner Übersetzung, die ich auch Peter Handke auf dem Karst vorgelesen hatte; zum 100. Geburtstag des Dichters, 2004, studierte ich monatelang den gesamten Nachlaß in Ljubljana; es erschien das vorliegende Buch (1. Auflage) sowie Ikarjev sen (Der Traum des Ikarus), ein Album mit Fotografien, 150 Faksimiles, Zeugnissen, hrsg. von Aleš Berger und Ludwig Hartinger. Diese Bücher bewirkten auch, dass weitere Publikationen aus dem Nachlaß in Slowenien erschienen und immer wieder Übersetzungen weltweit; zuletzt auf meine Anregung hin eine 1. Ausgabe von Gedichten Kosovels auf Chinesisch…
„100 Jahre nach mir wird keine Rede mehr von mir sein“, schrieb Kosovel in sein Notizbuch.
Das Werk, entsprungen den Gegensätzen, Kriegen, gesellschaftlichen wie künstlerischen Aufbrüchen seiner Zeit, erlebt nach langwierigen Herausgeberschaften ungebrochen publizistische, wissenschaftliche Aufmerksamkeit und Aufnahme bei jüngeren Generationen.
Nun erscheint eine neue Ausgabe im Otto Müller Verlag, auch literarische Heimstatt eines anderen großen Dichters und beinahe Zeitgenossen des ebenso viel zu früh erloschenen Kosovel, Georg Trakl; sein Vers: „Dich singe ich wilde Zerklüftung“ charakterisiert gut das immer neu zu entdeckende Werk des slowenischen Poeten…
Ludwig Hartinger, Saalfelden am Steinernen Meer, 27. Mai 2022, Nachwort
eröffnet ein lesendes Wandern in Wortlandschaften eines dichterischen Werks, das einzigartig in seiner Tiefe, Vielfalt und Ausstrahlung bis ins Heute wirkt. Srečko Kosovel, geprägt vom kontrastreichen slowenischen Karst oberhalb von Triest, suchte eine Synthese, in der Naturerleben, existenzielle Erfahrung (Krankheit, Todesahnung) und gesellschaftliche Umbrüche (Krieg, faschistische Okkupation), künstlerische Aufbrüche in neue literarische Formen (Montage, Verfremdung) zusammenfließen und aufgehen – im komplexen Gedicht; lyrischer Anhauch und radikale Bildsprünge, Grimm und Gram, Witz und Revolte, bildsame Melodie von Dissonanzen, die in zufällige Harmonie übergeht; der Dichter sucht bewegliche Bilder / Fakten verjagen die Kunst; die Schärfe des Karsts und die Schärfe der Zeit schärften ihm die Feder. Kosovels Poesie wirkt vom zerrissenen Anfang des vorigen Jahrhunderts in das zunehmend dramatisierte neue; Die Zivilisation ist ohne Herz. / Das Herz ist ohne Zivilisation … Im handschriftlichen Nachlass erwandert, ist dieses Buch – eine Auswahl von Gedichten, Prosa-, Essayfragmenten, Auszügen aus Notizbüchern, Briefen samt Federzeichnungen und Holzschnitten – Er-Findung einer orphischen Landschaft.
Otto Müller Verlag, Ankündigung
„Du bist ein Torso / ohne Karst“, sagte Srečko Kosovel, der Dichter des Karstes. Jenes Hochlandes zwischen Triest und dem Berg Nanos, wo das Meer nicht mehr weit ist. Sein Karst ist gleich Kruste, Kontur und Konterfei. Sein Konterfei: „Nekdo integral“. Jeder ist ein Integral. Somit ist seine Dichtung eine Dichtung vom Menschen. Eine Dichtung zwischen Leben und Tod. Aus dem Körper wird Asche. Darüber „stecken alte Berge die Köpfe zusammen“, Srečko Kosovel hinterließ über 1.400 Gedichte, 80 Prosatexte, Theaterentwürfe, Essays, Briefe und Tagebücher, als er 1926, knapp 22jährig starb.
1927 publizierten Freunde einen ersten Lyrikband. Zum 100. Geburtstag erschien diese Anthologie, die Einblick in das gesamte Schaffen dieses slovenischen Lyrikers bietet. So sind neben Gedichten und Gedichtskizzen auch Traumnotate, betrachtende Prosa und Tagebuchaufzeichnungen vertreten, die politische Geschehnisse dieser Zeit kritisch hinterfragen. Notate, quasi als Begleittext zum Gedicht. Denn „Der Rhythmus des Gedichts entspringt Gehen, Atmen, den Gesten des Menschen“. So wird außer dem literarischen Text das Bild der Persönlichkeit des Srečko Kosovel erkennbar. Die Texte wurden ausgewählt und exzellent aus dem Slowenischen nachgedichtet von Ludwig Hartinger. Hinzugefügt sind Holzschnitte und Federzeichnungen von Christian Thanhäuser, die zwischen Gedichten und Notaten überleiten, Gedankenpunkte bilden. Gedankenpunkte bilden auch einige Kopien seiner handschriftlichen Gedichte, Fotos, eine ausführliche Biografie und nicht zuletzt das betrachtende Nachwort des Nachdichters, in dem er Kosovel „Beschwörung in wiederkehrenden Epiphanien“ bescheinigt. Nicht zuletzt hat seine Dichtung nichts an Aktualität eingebüßt. Und seine Worte über das sterbende Europa liefern ein bedrückendes Bild von den Gegebenheiten unserer Zeit.
Róža Domašcyna, Ostragehege, Heft 37, 2005
Daniela Strigl: Srečko Kosovel: Mein Gedicht ist mein Gesicht
lyrik-empfehlungen.de, 2024
Kirstin Breitenfellner: Es gibt keine Wunder, alles Bestehende ist Wunder
poesiegalerie.at, 11.7.2023
Marie Luise Knott: Im Lachen liegt eure Zukunft
Srečko Kosovel – Virgilio Giotti: zwei Äpfel, zwei Kartoffeln, zwei Dichter.
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