Sabine Schiffners Gedicht „Das Familienwunder“

SABINE SCHIFFNER

Das Familienwunder

die vertraute stadt ist staubig
ganz anders so und fast
bleiben mir die kuchen im halse stecken
bin ich alleine im heim
flüstern und seufzen türen
spuren legt der wind aschespuren
hier auf die schwelle
und meine angst ragt hinaus
wenn der letzte schluck
getrunken ist bleibt
in den tassen ein
geflecht von dornen
anstandsblättern
kleine alte haufen staub legen sich
auf meine lider und
eine stimme überschreit
noch meinen schlaf
ich springe auf und nieder
der duft der großmutter ist tausend jahr
ketten legt sie auf mein haar

um 2000

aus: Lyrik von Jetzt. Hrsg. von Björn Kuhligk und Jan Wagner. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2003

 

Konnotation

Familiengeschichten, die über Generationen hinweg Lebensläufe prägen, haben die 1965 in Bremen geborene Sabine Schiffner seit Beginn ihres Schreibens beschäftigt. Um innerfamiliäre Traum- und Wunsch-Bilder kreist auch das Mitte der 1990er Jahre entstandene Gedicht mit dem programmatischen Titel „Das Familienwunder“. Seltsam traumverlorene Blicke locken den Leser in diesem und späteren Gedichten in eine scheinbar unversehrte Kindheits-Welt zwischen Kaninchengärten, Pflaumenbäumen und großbürgerlichen Wohnzimmern.
Aber das „Familienwunder“ findet nicht mehr statt, die heile Welt der „vertrauten Stadt“ ist zerbrochen, die Rückkehrerin wird von „angst“ überwältigt. Die Elemente der Kindheit sind in Unordnung geraten. Die magische Aufladung von Naturdingen wird nun gebrochen durch Erinnerungen an kriegerische Schrecken, die diese Kindheitslandschaften verwüstet haben.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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