Almut Armélin und Ulrich Grasnick (Hrsg.): Abwerfen der Last, die uns hindert am Gehen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Almut Armélin und Ulrich Grasnick (Hrsg.): Abwerfen der Last, die uns hindert am Gehen

Armélin und Grasnick (Hrsg.)-Abwerfen der Last, die uns hindert am Gehen

1. Preis

TOTENSONNTAG

Ein Kirchgang
nach langer Zeit.
Novembermenschen.
Novembermäntel.
Novembergesichter.

Dein Gesicht,
vertraut, fremd,
dein Blick,
der Bäume liebte,
gerodet
im aseptischen Licht.

Deine Stimme,
dem Nachtfrost gleich,
Stimme,
die mich rief,
bei mir blieb,
aus Lederstrumpf las.

Mit jedem Besuch
tritt der Tod,
den Hut in der Hand,
ihn leise drehend,
einen Schritt näher.

Dein Körper,
darin die Nordsee rauschte,
Gestell aus Schläuchen, Gestank,
Gewissheit.
Stunde,
die keiner entziffert.

Dein Kopf,
Papierlaterne,
aus Kinderhand geweht,
getreten ins Laub,
darüber die Hunde gehn.

Dein Mund,
zahnstarrend,
als wolltest du mir
noch etwas sagen,
mich noch einmal ermahnen,
als bestelltest du, wie immer
ein Bier.

Ich sitze hinten.
Die Bank, karg
wie die Speise des Johannes,
hart wie die Worte,
die ich sprach im Zorn.

Hier,
in dieser Kirche im November,
das Gesangbuch
nutzlos in meiner Hand,
höre ich zum letzten Mal
deinen Namen.

Peter Frank

 

 

ZUM PRÄMIERTEN GEDICHT „TOTENSONNTAG“ VON PETER FRANK

Es ist ein Gang, den wir, willentlich oder nicht, zuletzt allein antreten müssen: den in den Tod. Der sich anschließende in einer Art Parallelverschiebung, der Nach-Gang, wird für uns gegangen: zu Kirche und Grab. Mit unseren Überresten, des Willens nun bar.
Ob zudem in ein anderes Leben, verschließt uns Peter Franks Text. Nichts mehr ist zu entnehmen diesem „Blick / der Bäume liebte, / gerodet / im aseptischen Licht“. Einen sehr säkularen Blick gewährt die in diesem Bild gezeichnete Keimfreiheit – in einem allen Lebens enthobenen Dämmer von Palliativstation, Pathologie, angerichtetem Sarg.
Redundante Spätfolge ist der – alljährliche – „Kirchgang / nach langer Zeit“ am Totensonntag, diesem Jour fixe eines Memento mori, an dem „Novembermenschen“ in „Novembermäntel[n]“ „Novembergesichter“ zur Schau tragen. Deren Distanz zum Geschehen, zum Geschehenen, als Ehrfurcht auslegbar, konterkariert die des lyrischen Ich, die Abkehr von der Welt für die Momente der Zeremonie heißt.
Und Einkehr – die einstige Beziehung zu einem verstorbenen Menschen lebt auf. Dessen Gesicht, Blick, Stimme, gebetartig beschworen, dessen Körper, Kopf, Mund bilden das Inventar an Erinnerungsartefakten, die das Ich auf sich selbst zurückwerfen, auf die – noch nicht eigene – innere Begegnung mit dem Tod (welche die textliche Mitte bildet) zur „Stunde, / die keiner entziffert“.
Dieses sein Assoziationsvermögen ist mithin begrenzt. Es bedarf der beobachteten Details im noch Sichtbaren bleibt insofern moment- und körperabhängiger Erinnerungsflash, imaginatives Event.
Und Privatsache. Denn die Kirche, in ihrer Randrolle (von Peter Frank ihr für das Gedicht zugewiesen, sie bildet den rein institutionellen – exoskelettartig auch den textlichen – Rahmen), die Kirche schweigt. Totensonntag. Toter Sonntag. Die Verbindungen sind gekappt:

Ich sitze hinten […] das Gesangbuch,
nutzlos in meiner Hand

Welcher Wirklichkeitsbezug zu einem Überzeitlichen lässt sich dartun, wo „die Speise des Johannes“ – als „karg“ apostrophiert – nicht nährt, die Evangeliumsbotschaft schal wird, als „hart wie die Worte, / die ich sprach im Zorn“ begriffen? Die zeitlichen Namen mögen getrost erlöschen. „Sie lesen die Toten vor.“ Es ist diese Lakonie des Arrangierens mit dem Status quo, die persönlichen Gram auf Psychohygiene reduziert, Rückblicke instrumentalisiert. Oder auf sie ablenkt. Und damit von der Absenz des Danach. So wird selbst das geliebte Du zum zu verabschiedenden Gepäck. In der Konsequenz „höre ich zum letzten Mal / deinen Namen“.
Peter Franks Text feiert auf hintersinnig ironische Weise die maximale Leichtigkeit der Last des Verlusts. Er tut dies in unaufdringlichen eindringlichen sprachlichen Bildern, zu denen die Jury gratuliert.

York Freitag

 

 

 

Liebe Leserinnen, liebe Leser! Liebe Autorinnen und Autoren!

Mein Grund- und Leitgedanke für die Ausschreibung 2019 zum Thema „Schritte“ lautete:

Abwerfen die Last, die uns hindert am Gehen –
dass wir nicht
am Ziel erst begreifen,
wieviel Gepäck ohne Wert
wir mit uns schleppten.

Ein Auszug aus meinem gleichnamigen Gedicht – „Schritte“. Wir tendieren dazu, uns mit einer Aura aus Wertlosem und Unnötigem zu umgeben, und vieles an Ballast, mit dem wir uns tagtäglich beschweren, ist verzichtbar. Erlebtes und Erlittenes gehören gewiss nicht dazu.
Ist Kultur nicht auch immer von Erfahrenem und Zugestoßenem geprägt? Das Gedicht ist geeignet, dies auf besondere Art zur Anschauung zu bringen. Es ist daher selbst kein verzichtbares Stück Gepäck. Mit Sprache durch ein Fenster schauen und in Distanz gehen, durch Sprache uns wieder annähern und auf das Sein hinblicken, vielleicht hinwirken – es macht uns leicht, denn es ist auf eine gewisse Art ein Die-Gegenwart-verlassen-und-zu-Hause-wieder-Ankommen. Alle Einsendungen zum Lyrikwettbewerb sprechen davon.
Der Jury des 3. Ulrich-Grasnick-Lyrikpreises 2019 gehörten an: York Freitag (Vorsitz), Ingrid Gorr, Michael Manzek, Marcus Neuert (1. Preisträger des UGL 2017), Magnus Tautz (2. Preisträger des UGL 2018) und Dr. Martin A. Völker. Sie trafen ihre Entscheidung in einem anonymen Verfahren.
Als Gewinner des Lyrikwettbewerbs wurden ermittelt:

Peter Frank (1. Preis)
Kathrin B. Külow (2. Preis)

Für den Preis nominiert waren darüber hinaus folgende Autorinnen und Autoren:

Thomas Barmé
Marlies Blauth
Rolf Blessing
Leonie Köhler
Britta Lübbers
Christina M.A. Schößler
Volker Sieber
Lean Malin Wejwer

Anerkennung gebührt allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern an dem Wettbewerb. Aus ihrem Wortmaterial leuchtet der poetische Gedanke, wahrnehmbar gemacht für unsere Zeit. Ich danke allen, die es vermochten, der Ausschreibung 2019 Tiefe und Bedeutung zu geben.
Poesie berührt dort, wo die Zeit einen Schritt macht, wo sie Ballast zurückgelassen hat. Die in der Wettbewerbsanthologie versammelten Autorinnen und Autoren finden zu entsprechenden Bildern, beschreiben Orte des Rückzugs und des Aufbruchs, Stolpersteine, die ihnen unterwegs begegnen. Und weisen auf Möglichkeiten, von Dingen zu lassen: von Mühen, dem nackten Jetzt. Insofern schließt der vorliegende Band – der dritten Runde des Wettbewerbs – auch würdig an die beiden Vorgänger an, ist erneut Spiegelbild formenreicher poetischer Sprache.
„Diese Zeit, das Jetzt, / ist es nicht mehr / oder ein noch nicht?“, fragt Günter Bach aus Berlin zum Beispiel und gibt zu bedenken:

Noch nie war das Morgen
so wenig gewiss
und das Gestern so fern.

Und Raoul Eisele aus Wien findet zu diesem Schluss:

Wenn wir einander ausstrahlen
uns vor- und zurückspulen
vor-und zurück-
stolpern und zwei Leben wieder in Echtzeit spielt
ist es besser den Fernseher leiser zu DREHEN.

Herzlichen Glückwunsch an die Preisträgerin Kathrin B. Külow und den Preisträger Peter Frank!

Ulrich Grasnick, Vorwort

 

Der Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis

Schritte – es braucht manchmal eine Strecke zurück, um das Orientierungszeichen neu zu setzen. Es liegen herum, Steine für einen Anstoß, Worte als Impuls für einen Schub neuer Verse. Gedichte sind Bausteine.
Ulrich Grasnick

Der Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis wird jährlich an zwei AutorInnen für ein Gedicht in deutscher Sprache mit hohem künstlerischem Anspruch vergeben. Diese und andere Wettbewerbsbeiträge werden im Anschluss veröffentlicht. Die Prämierten des Wettbewerbs 2019 sind Peter Frank mit seinem Gedicht Totensonntag und Kathrin B. Külow mit ihrem Gedicht nie war das grüne tiefer.

Mehr unter: www.ulrich-grasnick.de

Quintus Verlag, Ankündigung

 

 

Fakten und Vermutungen zur Herausgeberin + Facebook

 

Zum 80. Geburtstag des Herausgebers:

Marko Ferst: Inspiriert von Chagall
neues deutschland, 4.6.2018

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope
Porträtgalerie: deutsche FOTOTHEK

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00