Andreas Koziol: Frühjahre

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Andreas Koziol: Frühjahre

Koziol-Frühjahre

Am Ende hat die Zeit sich wieder eingekriegt.
Die Leute sagten: „Toll, daß es sie wieder gibt!“
Der Weg war breit genug, um ihnen auszuweichen,
den Leuten, die sich wie ein Loch dem andern
aaaaagleichen.
Die Horizonte sprangen auf wie Schädelzangen.
Es rollten Denkmalsköpfe auf des Volks Verlangen.

Am Seziertisch des gesellschaftlichen Fortschritts
stellten Wissenschaftler und ein Sinn für Inneres
Untersuchungen an allen Gliedern.
Pathologisch grinst dazu sein Wortwitz
wie ein Toter, der noch beinah richtig lachen kann
Und erzählt hier kurz vorm Schluß noch etwas Dümmeres:

Wie er dachte sich die herrlichen vier Jahreszeiten
als Haus im Himmel mythischer Gepflogenheiten.
Und daß dort die Natur die Preise macht.
Die Miete soll dort wie das Leben teuer sein.
Glückliche Tiere sind unsere Nachbarn
Und edle Wilde formen uns nach ihrem Bilde.

Dann haben sie die Mauer eingerissen.
Nichtgetürmte lagen flach vor Glück.
Subkulturen machten Busausflüge
Zu den Ozeanen ihrer Freiheitsliebe.

Tiefbewegte zwischen Macht und Wissen
wurden durchgewunken oder abgenickt.
Nur die zweckentfremdeten Paradekissen
Fühlten sich noch immer unterdrückt.

Der Rest sind so Geschichten,
die wir uns eine Leere sein ließen,
wie die eines Strands nach der letzten Saison.
Der Sand verrinnt dort in den Spuren,
die ihrerseits im Sand verlaufen.
Die Möwen wirken wie entfernte Widerhaken
In einem harpunierten Himmel,
der rot aus einer tiefen Sonne ausläuft.
Und dort wo ihren Untergang wir sahen,
zeigte eine halbe Stunde später
die Düne nur der aufgekommenen Dunkelheit
den Eindruck längst enthobner Hinterteile.
Da paßt ein Unwort wie Verarschung zu.
„Der Boden kann uns mal, der uns nicht hält.“
So hieß hier unser Aufenthaltsgesetz…

 

 

 

Der Band gibt einen Rückblick in neunzehn Verskapiteln

und einem Zusatz, worin Entsinnungsformeln gefunden und gesammelt werden, die den Kern einer Jugend betreffen. Verwunschenheiten werden aufgebrochen und Verwünschungen ausgesprochen. Wo sich die Sprache nicht selbst dient, dient sie nebenher dazu, den Blendungen der Ideologie mit versonnenen wiewohl etwas angeschlagenen Eulenspiegeleien zu begegnen. Eine aus dieser Gespaltenheit herrührende Energie treibt das „Erzählprojekt“ von einem fälligen Textbaustein zum nächsten, bis der Dominoeffekt eine Ebene sich selbst generierender Wortflußwellen erreicht.
Sein Protagonist durchgeht eine Anzahl von bisher unbeschriebenen Rückseiten seiner subjektiven Vergangenheit wie ein relativ unmöglicher Mensch. Da er sich in einem Widerspruch zu der von ihm als unwirklich empfundenen Realität findet und verklärt, fühlt er sich mit den Kräften ihrer Auflösung verbunden, ohne ihnen ernstlich dienen zu können.‘

H. G., Druckhaus Galrev, Programmheft, 2001

 

Wäre heute der publizistische Anspruch

auf ein kollektives Gedächtnis der geschluckten Deutschlandhälfte nicht so massiv zum einen und könnte ich zum zweiten aus dem vor Mythisierungen immer warnenden Charakter der Aufklärung wenigstens einen Bruchteil von Erkenntnis ihres eigenen Aberglaubens herauslesen, so hätte ich zum dritten wahrscheinlich ein vollkommen anderes Buch geschrieben, vielleicht so was wie eine Cut-up-Tirade aus superauthentischen Szeneschnipseln voll mit O-Tönen von betonsicherem Wiedererkennungswert.
Aber leider habe ich zu häufig das, was andere hier und heute für witzig halten, nur als lächerlich empfunden. Zudem glaube ich daran, daß die Poesie, seitdem sie von der Banane der Erkenntnis zwischen Gutversorgt und Schlechtversorgt gegessen hat, sich jeden weiteren Sündenfall in die Überzeugungssprachen der Marktgesellschaften (die ja nun nicht gerade die des Märchenerzählers auf einem Basar sind) reiflich überlegen sollte.
Also wandert das „Ich“ in diesem Text, einem Epos Null der Abrechnung mit dem, was über den „Osten“ gesagt war und ist, über die heraufdämmernde Landschaft der Erinnerungen wie ein Schatten, der seiner scheinobjektiven Morgensonne die Moral aller möglichen Dinge predigt, die, gleich ihm, von ihrem Licht verfehlt wurden.
Wie eine aus einer verdorbenen humanistischen Erbmasse gemodelte Comicfigur durchstreift es die Rahmen seiner von idealistischen Einfaltspinseleien gezeichneten Bilder und Einbildungen eines Lebens, das es zu einem Wortspiel auf eigene Rechnung machte, da es ansonsten den Versuchen der alten wie der neuen Verhältnisse, ihm ein Leben vorzuschreiben oder einzureden, die Antwort schuldig geblieben wäre.

Andreas Koziol

 

 

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Henryk Gericke liest am 28.6.2023 im Baiz.Berlin seinen Andreas Koziol-Nachruf „Inschrift“ und Robert Mießner schließt sich mit Andreas Koziols „Nachschrift“ an.

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Die A.koziol“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Andreas Koziol

 

Andreas Koziol liest 3 Gedichte zur Autorenlesung der Literatur- und Kunstzeitschrift „Herzattacke“ am 28.1.2016 im Roten Salon der Volksbühne.

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