Andreas Okopenko: Zu Andreas Okopenkos Gedicht „Seltsame Nacht“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Andreas Okopenkos Gedicht „Seltsame Nacht“. –

 

 

 

 

ANDREAS OKOPENKO

Seltsame Nacht

Blaukalter Maiwind
aus mondbraunen Wolken gasend.

Buschende Baumspitzen treibende
Allee Kastanien Wald

Es will bis jetzt nicht Regen anlangen.

 

Aufgefordert, ein Gedicht zu erläutern

Ich schrieb dieses Gedicht am Abend des 26. Mai [1950]. Gern hätte ich einen beispielhaften Maitag gehabt, wie jenen, an dem ich gesagt hatte:

Er ist so brennend, so viel, der Mai, daß man ihn nur verdünnt erträgt, wenn man allein ist.

Statt dessen stand der Mond in Wolken, ließ sie in seinen zwei Farben – blau und braun – aufleuchten; es war kalt; der Wind trieb die Baumspitzen, aber die erwartete Regenfront rückte nicht an. Die Menschen, die erregenden Menschen des Frühlings, bleiben an solchen Tagen verkrochen. Alles zeigt seine Rückseite. Wettermantel und Regenschirm nützen nur bei Leuten, die unterwegs sein müssen. Wir selbst gehen nicht aus. Wenn wir gehen müßten, würden wir trachten, rasch ans Ziel zu kommen. Aber?
Es könnte sein, daß wir uns mit einem Mal über den Auftrag freuen. Der uns ausgesandt hat, hat es besser mit uns gemeint als wir selbst. Diese Landschaft zu erleben, ist ein Glück. Wir haben es mit kleinen Unbequemlichkeiten erkauft. Das hat sich gelohnt. Es fällt uns schwer, zu entscheiden, was suggestiver ist: dieser Tag oder ein warmer Maitag, an dem sich die Gerüche leicht heben und alles erfüllen und in dessen Luft man baden kann, hinausschwimmen scheinbar unbegrenzt. „Freilich: was da blüht, geht so seinen Weg; freilich: wie uns ist, sagt so nichts“ schrieben wir einmal, an einem Regentag. Und an einem anderen:

Du spürst die frierende Haut deines Wettermantels. Der Wettermantel ist ein packendes Gedicht, ein vom Regen beprasseltes Packpapier rauh und naß.

Auch in diesem Wetter kann sich unser Leben ändern, selbst wenn wir heute nicht beim Erfrischungsstand der Infinita Vera begegnen werden und selbst wenn wir heute keinen Freund auftreiben werden, der mit uns spazieren und ein Stückchen von der Welt deuten wird. Für dieses Mal genügt der Mond in den Wolken; er läßt sie in seinen zwei Farben – blau und braun – aufleuchten; es ist kalt, der Wind treibt die Baumspitzen, und die erwartete Regenfront rückt nicht an.

*

Gefühle haben unsere Beobachtung bestimmt. Das urtümliche Jahreszeiten- und Wettergefühl, das Gefühl, das Erinnerungen an ähnliche Tage bringt, das Gefühl schlecht genutzter Zeit, das Gefühl, an einer ausgesuchten Stelle im Kalender zu stehen, das Gefühl, das braune Wolken und treibende Baumspitzen aufrufen, und Gefühle um die Verbindung mit Menschen und Dingen. Alles aber mündete in das eine Gefühl, das Erleben des Augenblicks.
„Geschmack, Wärme, Farben, Vorher, Nachher, Umgebung in einen Punkt verdichtet. (Was alle Menschen zum Reden oder Weinen treibt.)“, schrieb ich und „Die kleinen Analysenstreifchen, die ich nach dem Zerlegen des Punktes je greifbar hatte und aussagen konnte, wie wenig sind die“.
Weswegen wirkt der Augenblick? Wir erkennen in ihm das Sein. Die Freude am Existenten und am Existieren schlägt durch alle engeren Gefühle hindurch. Dennoch ist das Einzelne nicht egal. Ohne das Einzelne gibt es keine Existenz. Der Bauplan verwirklicht sich in den Baustoffen. Die Existenz ist nur begrifflich eins, wie der Zorn eines alten Mannes um gestohlene Äpfel und der Zorn einer Zwölfjährigen, die gekränkt wurde. Die begriffliche Einheit kommt aus der Ähnlichkeit des Affektes. Der Affekt geht aber mit der Erkenntnis der Situation stets einen Komplex ein. Die zornige Wallung und die Äpfel sind eins, die zornige Wallung und das Schimpfwort und die zwölf Jahre sind eins, wie weit ist da Zorn noch Zorn?
Weil das Einzelne nicht egal ist, hebt die Freude an der Existenz auch nicht die Werte auf. Es ist nicht einerlei, ob ich das Erlebnis der Existenz im Galgenhof habe oder während eines Gewitters an der Seite einer alternden Dame oder im Kurort nach einem Tag der Langeweile. Daß im Abwurf einer Brandbombe der Weltplan dramatische Dichte erreicht, daß mit dem Verlassen der Gefährtin ein reiches Musikstück eingeleitet wird, ändert nichts an der sittlichen Eindeutigkeit, die durch die Umstände gegeben ist.
Die Problematik des Galgenhofes, des Alterns, der Langeweile, aber auch das Aussehen des Galgenhofes, der Blitzwolken, des Kurparks bleiben wichtig. Daß die Konstruktion des Galgens sinnreich und schön gegen den Vieruhrhimmel ragt, selbst daß ich von der Todesangst her einen Impuls zum Lieben des Lebens bekomme, ist in der einen Wirklichkeit genau so enthalten wie, daß es Anmaßung bedeutet, über einen Menschen den Tod zu verhängen, und daß der Vollzug unvergeßlich mies ist. All das hebt sich nicht auf. Daß das Krokodil gut aussieht, wird niemanden dazu bewegen, sich von ihm beißen zu lassen. Und das Krokodil hebt sich nicht auf.
Die Werte und die Fülle der Welt machen die Eine Wirklichkeit aus. Die Wertaspekte sind verschiedene Schnitte durch die Welt. Alle müssen auf ein Einziges hindeuten, auf die Eine Wirklichkeit. Die Freude im Galgenhof kann nur darin bestehen, daß ich mich ins Leben verliebe, selbst wenn es mich in diese Situation gebracht hat. Am Hängen werde ich keine Freude haben.
Wir haben eine „Freude am Arbeitsplatz“ mitbekommen. Diese Freude wird aber kaum dazu bestimmt sein, uns von der Arbeit abzuhalten.

*

Magischer Realismus ist eine Tautologie. Die Dinge sind magisch.
Durch ihr Sein. Durch ihre unendlichfältigen Beziehungen. Möglichkeiten.
Durch die Assoziationsmöglichkeiten im menschlichen Gehirn. Ihre Verbindung mit dem Gefühlsleben: Erinnerung und Wünschen.
Man sieht die Dinge richtig, wenn man sie sieht,
wie man die Stadt nach einem Gewitter sieht oder
eine Landschaft bei seltsamer Beleuchtung oder
nach dem Winter im Tauwetter
oder wie ein Liebender die Gegenstände des Schlafzimmers seiner Geliebten sieht
oder wie ein Halbwüchsiger, der die Geheimnisse der beleuchteten Fenster, der Straße, des Herumzigeunerns spürt; der nicht weiß, was er tun soll, deshalb eine Zigarette raucht oder Gewürze nascht.
Die Dinge sind von Natur aus magisch; der Mensch kann sie nur negativ verzaubern, nämlich entzaubern.

Der gelangweilte Mensch wird denken, Wahrscheinlichkeitssätze aufstellen und sagen: Was wird es schon Besonderes sein, was wird schon los sein hinter diesen beleuchteten Fenstern. Der interessierte Mensch wird fühlen, die Möglichkeiten empfinden und selbst, was der gelangweilte Mensch als fade Wahrscheinlichkeit errechnet hat, noch interessant finden, da es in Wahrheit interessant ist. Man denke an Chagalls „Sabbath“. (So wie der Wissenschaftler einen Tropfen voll Wasserflöhe ebenso interessant findet wie seines Kollegen Fernrohr voll Milchstraßen.) In Wahrheit ist alles interessant, siehe manche Kafka-Typen. (Freilich möchte man für den eigenen Bedarf eine Gefährtin, die mit einem zusammen die Welt interessant sieht, und nicht eine, die man höchstens als Objekt interessant finden kann unter dem Vorbehalt, daß letztlich auch sture Menschen interessant sind.)

*

Wir haben uns etwas gehen lassen. Oder nur scheinbar? Ja; nachdem wir uns zum Konkreten bekannt haben, sind auch Autoren keine Kraftfelder, die Gedichte blitzen, sondern Leute, die von weltüblichen Sorgen bewittert werden; und darunter spielen die Kontaktsorgen eine große Rolle, um so mehr, je sensibler so ein Autor ist, und wenn er nicht sensibel ist, haben wir ihn ja nicht nötig.
Wenn er aber Kontaktsorgen hat, kommt die Umgebungsmagie leicht in Gefahr. Und weil damit die Literatur in Gefahr kommt – übrigens ihre Lieblingsbeschäftigung –, können wir noch einen Abschnitt lang bei der Einsamkeit bleiben.
Wenn man „intensiv“ angelegt und gestimmt ist, reizt einen das Seiende, man empfindet es „magisch“. Dieses Empfinden bejaht in jedem Fall das Sein. Die Beglückung durch das Seiende ringsum bringt einem aber fehlendes Glück aus menschlicher Gemeinschaft zum Bewußtsein. Man reagiert darauf ego- oder logozentrisch. Erstenfalls wird einem die Umgebung „kalt“, „verschlossen“, nachdem sie keinen Menschengefährten ersetzen kann (Welche Überforderung!). Zweitenfalls objektiviert man, rückt die eigenen Anliegen fort, zumindest so weit, daß ihre Unerfülltheit die Welt nicht verschattet. Der erste Fall führt bis zur Interesselosigkeit an der Außenwelt, zum „privaten Weltuntergang“. Wenn man aber zu objektivieren bereit ist, lohnt es einem die Umgebung mit vielen Reizen und mit ganzheitlicher Befriedigung.
Die Umgebung enthält den Wert des Seins schlechthin, das Wesen ihrer Dinge, deren unendlichfältige Beziehungen, untereinander und zu Menschen, alle Möglichkeiten, das Wesen und Unwesen ihrer Menschen, deren unendlichfältige Beziehungen, untereinander und zum Ich. Die Schau darein enthält alles bis auf Aktivität, und die zu ersetzen ist sie nicht da. Wo einem Aktivität versagt bleibt, etwa das Schmetterlingfangen am Boden des Meers, muß man sie für sein Heil entwichtigen. Was hier von der Sehnsucht nach einer wesensnahen Gefährtin gesagt ist, gilt sicherlich auch für andere Unzufriedenheiten, etwa auf Grund der tragischen Perspektiven. In jedem dieser Fälle verlangt man von der Umgebung zu viel, hier Menschenseele, liebende, dort Wunder oder Lebenssinn. (Und auf Wunder zu verzichten, muß man lernen, den Lebenssinn muß man selbst bekennen.)
Gegenstände nicht voll zu nehmen, ist das ärgste Zeichen der egozentrischen Verrückung. Aber auch als Gegen-Stände voll genommen und dabei tragisch fremdbleibend, sind sie nicht richtig gewürdigt; über ihr Kraftfeld stehen wir mit ihnen im Austausch.

*

Fehlt die Sortenbezeichnung. Die „Seltsame Nacht“ ist ein Fluidumgedicht. In der Praxis spreche ich schon lange von einem Fluidum. Ich möchte es gern definieren, damit auch die anderen Leute wissen, was damit gemeint ist, denn das Fluidum ist eines meiner wichtigsten Anliegen in der Dichtung und einer meiner Akkumulatoren im Leben, von dem ich immer wieder Kraft und Genugtuung beziehe.
Fluidum ist Gefühl mit existentieller Resonanz, oder vor unendlichem Horizont, grundsätzlich immer möglich, auch nachholbar zu gegebenem engen Gefühl. Wir finden das Leben interessant, es ist, als würde uns der Reiz des Daseins offenbar. An eine Erinnerung schließen sich andere, wir erinnern uns gern und leben uns in die alte Zeit ganz hinein. In einer reizvoll empfundenen Gegenwart schauen wir gern um uns, und ein Gegenstand steckt den anderen mit Reiz an. Wir fühlen auch, wie alles voll von Möglichkeiten und Bezügen ist. In Gegenwart und Erinnerung spüren wir die Lebensfreude und Einverständnis mit der Welt, wir fühlen, wie wir leben und in all das hineingehören, und nehmen alles, was wir sehen, wichtig. Das Fluidum läßt uns das Wesen der Welt ahnen, ihr Allgemeines und ihre stetige Besonderung. Sein, Werden, Werte, es läßt uns alles Besondere und alles Mögliche lieben. Es mahnt uns aber auch zum wesentlichen Leben und alarmiert uns, wenn wir daran sind, uns zu verdämmern und zu vergeuden. Es mahnt uns zur Übereinstimmung mit den Werten und zur Einfügung des überwuchernden Ich. Je nach unserer Beziehung zur Existenz kommt es daher, daß wir im Fluidum glücklich sind oder leiden, friedvoll oder unruhig werden.
Etwa kommt eine große Ruhe und ein Gefühl von Deutlichkeit über uns. Wir gewinnen Zusammenhang mit Punkten aus früheren Stadien unserer Entwicklung, unser Leben wird aus etwas Dumpfem zu einem Plan, als liefen durch dreckige Gebiete tags unsichtbare Radiumlinien, die nachts zu leuchten beginnen und das Gebiet zu einer Generalstabskarte ordnen. Unser Leben von jetzt (dieser Moment) nimmt Verbindung auf mit anderen Momenten unseres Lebens, wesentlichen, und es erscheint uns, daß wir neben dem kontinuierlichen Alltagsleben ein ebenso zusammenhängendes wesentliches Leben führen; auch in zweiter Ebene sind wir „im Fluß“, „in Geschichte“.
Das Fluidum mag uns trösten und uns ein Gefühl von Unangreifbarkeit geben. Es ist ein Gefühl wie das Anzengrubersche „Das alles gehört zu dir und du gehörst zu all dem; es kann dir nichts geschehen“.
Das Fluidum ist einzigartig und spiegelt subjektiv die Einzigartigkeit des Augenblicks. Es schlägt ein. Es ist im Augenblick, da es verspürt wird, schon vollständig. Die Bestandteile des Momentes werden im Fluidum als eine Ganzheit und nicht als eine Anhäufung von Einzelnem empfunden. Das Fluidum ist ein Erlebnisintegral im Zeitdifferential.
Trotz der Einzigartigkeit des Fluidums ähneln alle eigenen Fluiden einander, und eigene und fremde Fluiden ähneln einander, da jeder einzigartige Augenblick dem anderen und jede Psyche der anderen ähnelt. Künstlerische, fluidische Mitteilung: Eine Lebensfreude alarmiert die andere.

Andreas Okopenko, Wort in der Zeit, Heft 10, 1963

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