Anne Duden: Zu Anne Dudens Gedicht „Motette für geschlossene Augen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Anne Dudens Gedicht „Motette für geschlossene Augen“.

 

 

 

 

ANNE DUDEN

Motette für geschlossene Augen
(nach Heinrich Isaac 1450–1517)

Das Geschundene
in der Pilgermuschel fratzenhaft gereckt
und erst die Gebirge draußen von lauter
Stauch-Gott umgeben.
Immer Freitags um drei das Totalgeläut
zum Gedenken neunter Stunden
und sommers dazu in den Tälern
der Schußapparate Widerhall.
Terrassen himmelhoch
als würde am Ende Schnee- Wolken- und Gipfelwein angebaut
über glühender Goldsuppe so hoch.
Von Block zu Block
gleitender Kehlchenschwirr
und eilende Wasserbreiten.
Nischen hier innen und unten
für lose Vogelzungen
für herausgetrennte Organherzen
und alles in Flammen
in Flämmchenregimentern
auf der Stelle züngelnd
gebunden tanzend
sich windend
wie in Kammern.
Vielleicht vom noch gestauten Wind im Gewölbe
vom durch die Kuppelgeburten
die Schenkelbeben
verursachten Zug bis hier runter.
Ausgehoben
genommen der Weltraum
im Extraloch
ins Meer des All
versinkende Sehfähre ohne Lid
abgekoppeltes nicht wieder einzuholendes Blickgerät
Zentrum der Rotunde
aus Kampf
Klima- und Imperialzonen
Wettern und Wolken.

Die rote Totenhaube des Herrschers mein Käppchen
ich will dich nicht
Innsbruck
ich muß dich lassen.

 

Totenbildnis Kaiser Maximilians I. Unbekannter Maler, nach 1519

Totenbildnis Kaiser Maximilians I. Unbekannter Maler, nach 1519 (Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck)

 

Zum Schluß erst, im Nachhinein immer,

und das ist fast schon Regel und Muster, fallen Aus-, Ein- und Auflösung ineinander und kommen so unter die Haube im und durch ein Bild, bringt sich alles selbst und wie von selbst auf den Punkt, den Treffpunkt, nach dem dann nichts mehr geht, nur noch Abhebendes, ab- und aufhebend Weitergehendes – und das kann man nachlesen und hören, also Musik.
Als wäre, zunächst, die ganze Aufmerksamkeit eines Tages, Aufmerk- und Empfindsamkeit, Empfind- und Sinnlichkeit, vor Ort und allein im Bild getroffen und aufzuheben, und einem Totenbildnis überdies. Und als würde Rot zuvorderst und zutiefst, die Glüh-, Blut-, Blumen- und Valentinsfarbe, ins Schwarze treffen, ans Herz greifen und an die Nieren gehen und wäre hier deshalb, an der Aufprall- und Einsinkstelle, zur letzten Unruhe mitten ins Karierte, in die geknautschte Rückendeckung und -stütze wie in ein gewelltes und verzogenes Schachbrett gesetzt und zur letzten, mißtrauisch aus dem toten Augenwinkel verfolgten Ruhe, dem Gekappten übergezogen.
Erst unter der Haube, die ich mir, durchaus rätselhaft und vermutlich durch den Schock und die Überraschung des Aufpralls, sogleich und umstandslos, aber doch erst im Moment des Schreibens, anziehe, wenngleich bescheiden verkleinert zum Käppchen, vielleicht auch ein wenig kokett, märchen- und mädchenhaft, sicher jedenfalls Standes- und standortgemäß, erst unter dieser Haube, der Haube und damit Geborgenheit eines Textes auch, entpuppt sich jene Aufmerksamkeit als Oberbegriff, als über- und umgreifendes, den Aufenthaltsort durchdringendes und -ziehendes Seh- und Hör-Begehren, das zu Beginn, zu allen Seiten des Flusses und noch auf den Brücken, sich versammelt und zugleich mit- und hinreißen lassen hatte von dem gletscher-, gebirgs- und frostgrünen Wasser, das wiederum Beweg- und Schwebstoffe der zuletzt gesehenen Flüsse Frankens und Südenglands und der Fluß- und Stromgedichte Mörikes und Hölderlins, allen voran, mitzuführen schien oder mit einfließen, einmünden ließ in das Ästuarium dieses eintägigen Fassungsvermögens in Innsbruck.

Rückwärts geht der Blick, ab- und aufwärts im barocken Stauraum, Stauch-Gotteshaus, und aus- und einwärts von hier an: Zwischen Krypta und Tambourkuppel, den Gewölbefresken des Cosmas Damian Asam und den vornehmlich von alten Frauen aufgestellten und entflammten Kerzenregimentern am Boden, vom geschundenen Apostel durch Welt- und Machtzonen bis zur Kuppelpupille im Unendlichen und der eigenen Augengier ein weites Gesichtsfeld.

„Wir haben Felsen in unseren Knochen“ sagte Gustav Theodor Fechner; und damit auch die Sedimente der Schwemmkegel (auf einem solchen liegt Innsbruck ja), die Spurenelemente der Stand- und Durchgangsorte, die Minuten und Stunden anderer Zeiten und das durch sie pulverisierte Wissen, wie auch die Pigmente der weltweiten Ausmalungen, bekennt der Text. Und im Überschwang des Schreibens zögert er Rückstau und -sturz, den Aufprall auf Haupt und Haube bis zum vorletzten Moment noch hinaus. Und läßt dann erst den gesamten Blick- und Denkvorgang des Durchlaufens, -ziehens und -messens in einer Verschiebung, Verrückung, ungleichen Gleichung, ja Behauptung zum Stillstand kommen. Hier, zwischen Auge und Bild, Ferne und Nähe, Vertikale und Horizontale, zwischen Abstand und Überwältigung, herrscht nur noch Blickwechsel, zwischen Damen- und Dreitage-Bart eines toten Kaisers, zwischen Bedeckung und Entblößtsein, Wehrlosigkeit und Abwehr, zwischen Sichtziel und abgerutschter Iris.

INNSBRUCK, ICH MUSS DICH LASSEN komponierte Heinrich Isaac, Maximilians Hofkomponist, dem beleidigten und vielleicht schon angeknacksten Kaiserherz hinterher oder entgegen. Weil die Stadt ihn, durchaus noch lebendig, schon nicht mehr haben wollte und daher auch sein von 51 Statuen umstandenes Grab, größtes deutsches Kaisergrab, in der geliebten Stadt leer bleibt.
Nach dieser endgültigen Schwäche, nach dieser Herzensentblößung unter Notenlidern, wollte, konnte, mochte ich Innsbruck nicht lassen, es sei denn im Text, in dem das Lied stehen und abrufbar, nachsing- und wiederholbar bleibt, mit oder ohne Mitspieler oder portable player.

Aus Manfred Enzensperger (Hrsg.): Die Hölderlin Ameisen, DuMont, 2005

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