Antonio Skármeta: Zu Pablo Nerudas Gedicht „Die Pension der Calle Maruri“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Pablo Nerudas Gedicht „Die Pension der Calle Maruri“ aus dem Band Pablo Neruda: Das lyrische Werk – Band 2. –

 

 

 

 

PABLO NERUDA

Die Pension der Calle Maruri

Eine gewisse Calle Maruri.
Die Häuser blicken sich nicht an, sie lieben sich nicht.
Dennoch, sie stehen beieinander.
Mauer an Mauer, aber
ihre Fenster
blicken die Straße nicht an, sie sprechen nicht,
sind Schweigen.

Ein Fetzen Papier fliegt wie ein schmutziges Blatt
vom Baum des Winters.

Der Abend verbrennt ein Abendrot. Ruhelos
verbreitet der Himmel flüchtiges Feuer.

Schwarzer Nebel überflutet die Balkone.

Ich schlage mein Buch auf Ich schreibe,
glaube, ich sei
in der Höhlung
einer Kohlenmine, eines feuchten
verlassenen Stollens.
Ich weiß, jetzt ist niemand da,
im Haus, in der Straße, in der bitteren Stadt.
Ich bin bei offener Tür
mit der offenen Welt Gefangener,
bin der traurige, in der Dämmerung verlorene Student
und steige hinauf zur Nudelsuppe
und steige hinab ins Bett und bis in den folgenden Tag

 

Im Laufe der Zeit

schuf Neruda immer wieder facettenreiche Selbstporträts. Zuweilen unter chronologischen Gesichtspunkten, manchmal, indem er eines seiner Abenteuer schilderte oder private und öffentliche Ereignisse kommentierte; und einmal, in Festlaune, beschrieb er sich als „dumm wie Bohnenstroh“, so vergnügt, dass es seinen erbitterten Rufmördern die Sprache verschlug.
Keines der autobiografischen Gedichte und auch kein Chronist der Jugendjahre Nerudas, als dieser noch mit melancholischer Miene und feuchten Augen in seinem Umhang eines romantischen Poeten durch die Regenschauer lief, gibt Wahrheit und Atmosphäre jener Epoche besser wieder als dieser Text.
Den stoischen Worten, der sparsamen Beschränkung auf zwei oder drei Bilder von wesentlichen Dingen des Lebens („Haus“, „Straße“, „Nudelsuppe“, „Bett“), gelingt die Projektion der beklemmenden Einsamkeit und Leere auf die gesamte Stadt. Woran im Übrigen nicht die Welt schuld ist, denn die ist da, steht großzügig offen, doch lassen der Dunst von Armut und Traurigkeit das Abendrot verblassen.
Wenn Neruda von der Abenddämmerung in der Calle Maruri erzählte, fühlten sich viele an einen zauberhaften Ort versetzt, dachten ans Polynesien Gauguins, an braune Eingeborenenmädchen in grün oder gelb bedruckten knappen Lendenschurzen und einen fernen Sonnenuntergang in spektakulärem Technicolor.
Weit gefehlt. Die Calle Maruri ist eine Straße in einem bescheidenen Stadtviertel nördlich des Flusses Mapocho; die Anhänger des Pferdesports nehmen sie, wenn sie zum Hipódromo Chile gehen, um auf ihre Favoriten zu setzen. Als der Dichter jung war, bekam man dort in manchen Häusern, die im trüben Abendlicht nicht gerade einladend wirkten, für ein paar Pesos eine dünne Suppe und ein Nachtlager.
Dieses Abbild der Introvertiertheit, der in alles Schweigen der Welt eingeschlossenen Seele, ist der emotionale Boden, der die Zwanzig Liebesgedichte hervorbringen sollte. Heute liegen die Studentenviertel von Santiago anderswo, doch noch immer kommen Tausende junger Leute vom Land mit winterlichen Schnupfennasen, Schuppen in den Brauen und abgegriffenen Heften, auf der Suche nach einem Beruf und einer Braut.
Etliche von ihnen erkoren die Billigausgaben von Nerudas ersten Gedichten zu ihrer Lieblingslektüre.

Antonio Skármeta, aus Antonio Skármeta: Mein Freund Neruda, Piper Verlag, 2011

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00