Barbara Frischmuth: Zu Bertolt Brechts Gedicht „Weihnachtslegende“

Im Kern

Im Kern

– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Weihnachtslegende“ aus Bertolt Brecht: Die Gedichte. –

 

 

 

 

BERTOLT BRECHT

Weihnachtslegende

Am heiligen Christabend heut
Sitzen wir, die armen Leut
In einer kalten Stube drin.
Der Wind geht draußen und geht herin.
Komm lieber Herr Jesus zu uns, sieh an:
Weil wir Dich wahrhaft nötig han.

Wir sitzen heute so herum
Als wie das finstre Heidentum.
Der Schnee fällt kalt auf unser Gebein:
Der Schnee will unbedingt herein.
Komm Schnee zu uns herein, kein Wort:
Du hast im Himmel auch keinen Ort.

Wir brauen einen Branntwein
Dann wird uns leicht und wärmer sein.
Einen heißen Branntwein brauen wir.
Um unsere Hütt tappt ein dick Tier.
Komm, Tier zu uns herein nur schnell:
Ihr habt heut auch keine warme Stell.

Wir tun ins Feuer die Röck hinein
Dann wird’s uns allen wärmer sein!
Dann glüht uns das Gebälke schier.
Erst in der Früh erfrieren wir.
Komm, lieber Wind, sei unser Gast:
Weil Du auch keine Heimat hast.

 

Komm, lieber Wind, sei unser Gast

Wer würde schon bei Bertolt Brecht – ohne mit der Nase darauf gestoßen zu werden – nach Weihnachtsgedichten suchen, erst recht nach so berührenden? Dennoch scheinen in der Sammlung Gedichte 1913–1926 ganze drei unter „Weihnachtsgedichte“ zusammengefaßte Poeme auf.
Der Ton der voranstehenden „Weihnachtslegende“ ist – wie oft bei Brecht – auf raffinierte Weise schlicht, und mit den Reimen verhält es sich nicht anders. Da darf, ja da muß es dann schon „han“ anstatt „haben“ heißen, weil das genau jene Bravheit (eine Mischung aus Biederkeit und Rechtschaffenheit) der armen Leute anklingen läßt, die Brecht, natürlich auch um des Reimes willen, mit dieser leicht künstlich wirkenden mittelalterlichen, noch in manchen Dialekten gebräuchlichen Form (deren sich übrigens auch schon Claudius, Bürger und Uhland bei Bedarf bedient hatten) unterstreicht.
Natürlich sind die armen Leute – zumindest die armen Leute bei Brecht – überhaupt nicht brav, es soll nur so klingen, als wären sie brav, wie man das von den armen Leuten eben so gewöhnt ist, vor allem in jenen Vor-, Zwischen- und Nachkriegszeiten des zwanzigsten Jahrhunderts. In Wirklichkeit sind die armen Leute nur arm, und zwar dermaßen arm, wie man das heutzutage nur mehr in der dritten, vierten und fünften Welt sein kann.
Daß Weihnachten ist, kommt erschwerend hinzu, das Fest der Liebe, wie es an jedem Kaufhaus geschrieben steht, das Fest der Familie, das Fest der Geschenke – das Christfest eben. Die Einladung ergeht allerdings an den lieben Herrn Jesus und nicht an das Christkind, denn das bringt den armen Leuten ohnehin nichts. Vom lieben Herrn Jesus weiß man zumindest, daß er einmal, vor langer Zeit, das Brot vermehrt hat. Aber daran erinnert er sich wohl nicht mehr. Noch dazu sitzen die armen Leute „heute so herum / Als wie das finstere Heidentum“ – eine wundersame Formulierung, die einen das Dumpfe, das sich bereits Verdinglichende dieser Armut zum Tode spüren läßt.
Das einzige an Weihnachten Gemahnende ist die Kälte. Wenn man nichts zu heizen hat, ist es gleichgültig, ob man draußen oder drinnen sitzt. Und wenn die Ritzen schon einmal so tief gehen, daß der Wind vor den Wänden nicht mehr haltmacht, nimmt es nicht wunder, wenn sich auch der Schnee seinen Weg in die frostige Stube bahnt. Nur ein Angenehmes ist noch vorhanden, nämlich ein wenig Branntwein, dessen Duft allein schon die Herzen einen Spaltbreit öffnet, auch wenn sie sich nicht mehr entsprechend erwärmen werden wie in dem alten Adventslied vom leise rieselnden Schnee (In den Herzen wird’s warm, / Still schweigt Kummer und Harm…) Wenigstens dehnen sie sich noch einmal zu einer Art kosmischem Mitleid, das auch den Schnee nicht ausschließt, geschweige denn das dicke tappende Tier (wohl ein Sinnbild aller Kreatur), das sich ähnlich ausgesetzt fühlen mag.
Der Branntwein macht zumindest innen drin ein wenig wohlig, dazu auch noch hellsichtig. Es gibt keine Hoffnung mehr, und wo nichts ist, hat bekanntlich der Kaiser das Recht verloren. Wozu also den Rock noch schonen, wenn das, was er vor der Kälte schützen soll, ohnehin erfriert, verhungert? Da schon lieber eine letzte Verausgabung mit einer letzten Wärme, selbst wenn es die Balken die sich ein letztes Mal biegen werden, kostet. Viel schein; von ihnen ohnehin nicht mehr da zu sein – so leicht wie es dem Wind fällt, ein flammenfachender Gast zu sein ein Heimatloser unter Heimatlosen, wie auch der Schnee als Himmelloser unter Himmellosen zu dieser Allianz der letzten Stunde gehört, einer Allianz, die anderntags bereits verweht sein wird.

Barbara Frischmuth, Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Bd. 25, Insel Verlag, 2002

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00