Bela Chekurishvili und Sabine Schiffner (Hrsg.): Säe den Weizen, Ukraine

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Bela Chekurishvili und Sabine Schiffner (Hrsg.): Säe den Weizen, Ukraine

Chekurishvili und Schiffner (Hrsg.)-Säe den Weizen, Ukraine

ZEIT DER GETÖTETEN

Wie ruhig liegt der Tote im Eingang vom Flur.
Er liegt in der Ecke,
um den Hereingehenden und Herausgehenden den Weg freizugeben.
Er war für’s Sterben scheinbar gut vorbereitet.
Er hat alles vorher genau berücksichtigt:
Er hat sich warm angezogen, die Mütze fest aufgesetzt,
eine Erkältung darf er nicht bekommen,
niemand hat jetzt Zeit für seine Pflege.
Er darf niemanden stören,
der Verstorbene hat doch die Pflicht, die anderen zu schonen,
zu anderen gnädig sein.
Und er trägt diese Verantwortung ohne Widerworte.

Die Lebewesen gehen an diesem Ort hin und her,
ein alter Mann mit einer Plastiktüte in der Hand,
eine hungrige Katze zwischen glühendem Eisenschrott
und auch ein Hund läuft in der Nähe.

Wenn nach einiger Zeit der Körper zu verwesen beginnt,
ist dies nicht sein Wille
vielleicht ist es ihm lieb, hier zu bleiben
und schnell zu verfaulen, bevor das Haus zerfällt.
Er muss es schaffen, schnell zu verwesen,
sich schnell in Staub zu verwandeln
und mit dem Wind zu verwehen,
zu verstreuen,
zu verschwinden.
Seine Knochen sind das Einzige, was mit den Wänden wetteifern kann.

Aus den Geschichtsbüchern wissen wir,
dass Knochen sich Jahrhunderte halten können.
Der Verstorbene zieht durch die Zeit.
Das Leben verweht wie der Wind,
es anzublicken ist bisher noch niemandem gelungen,
nur Folgen sind zu sehen, wie die Wäsche vom Wind, die von Nachbars Balkon
gerissen wird
und herunterfällt.

Wie trotzig ist dieser Verstorbene,
selbst der Hund blickt traurig drein.
Der Hund verlässt bald diesen Ort
und geht zu anderen Leichen,
die von echten Verstorbenen sind.
Echte Verstorbene sind nicht so eigensinnig.

Lela Kurtanidze
Übersetzt aus dem Georgischen von Bela Chekurishvili
Nachdichtung Sabine Schiffner

 

STATEMENT

Ich bin Bürgerin eines Landes, von dem 20 Prozent von Russland besetzt ist. Krieg ist für mich ein globaler Stress, ein totales Gefühl der Gefahr, aber hier entdecke ich auch eine große Stärke in mir – eine Stimme der Wut, die für den Rest meines Lebens der Idee der Freiheit dienen wird.

Lela Kurtanidze

 

 

 

Poesie in immer neuer Optik

Die meisten Texte dieser Anthologie wurden nach dem Beginn einer neuen Phase des russisch-ukrainischen Krieges oder in Bezug auf diesen Krieg verfasst. Dies sollte aber den Leser nicht davon abhalten, dieses Buch mit guter zeitgenössischer Poesie zu lesen, die von der Wirklichkeit, die die Autoren umgab, nicht losgelöst ist.
Diese Poesie näht die zerrüttete Wirklichkeit zusammen. Die ukrainische Poesie hat sich immer damit befasst, Lücken in Zeit und Raum zu füllen und Epochen zu verbinden. Vermutlich tut es jede gute Poesie. Wenn man aber in einem Land lebe, wo das Erinnern lange Zeit verboten war, erscheint diese Eigenschaft der Poesie besonders wertvoll.
Wenn man einmal etwas über den Kontext erfährt, kann man ihn bei der Interpretation nicht mehr ignorieren. Ein Kontext bestimmt die Literatur nicht, hilft aber, sie und ihren Platz im globalen Diskurs zu verstehen. Nach dem 24. Februar 2022 bewundern viele internationale Leser den ukrainischen Mut und entdecken für sich die bisher unentdeckte ukrainische Kultur. Warum ist sie unentdeckt? Nur ein Kontext kann es erklären.

***

Die ukrainische Kultur wurde doppelt marginalisiere. Innerhalb des Landes wurde sie von den Besatzern aus Moskau unterdrückt und außerhalb des Landes hatte sie keine Vertretung: keine Botschaften, Kulturzentren, Lehrstühle an den Universitäten. Für diese Kultur wurde gekämpft, sie wurde weiterentwickele für den Fall, dass die staatliche Souveränität nicht realisiert werden kann, die kulturelle Souveränität auf dem höchsten Niveau beizubehalten. Im 20. Jahrhundert vollbrachten bestimmte Kulturvertreter eine Heldentat, indem sie in Weltsprachen den Stalin-Terror, die Geschichte der Ukraine und einen Ursprung der ukrainischen Sprache lange vor dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Ukraine erklärten. Ich denke an jene, die vor mir waren. Ich erinnere mich etwa an den Literaturwissenschaftler und Professor Jurij Luzkyj. Der war ein Ukrainer, der an der Columbia-Universität in New York seine Doktorarbeit 1953 verteidigte. In dem Jahr starb Stalin. Das Thema seiner Dissertation war die sowjetische Literaturpolitik 1917–1934. In seinen Memoiren beschrieb er diese Aufgabe als anspruchsvoll:

wie kann man diese Niederschlagung dokumentieren.

In seinen Erinnerungen schrieb Luzkyj, dass „sein Interesse am Thema jemand als lunatic fringe – ein Narrensaum bezeichnete“. Luzkyj promovierte und führte somit ukrainische Literatur im sozialpolitischen Kontext in den englischsprachigen wissenschaftlichen Diskurs ein. Als nächstes erinnere ich mich an den Literaturwissenschaftler Jurij Lawrynenko, der 1959 die Anthologie hingerichtete Wiedergeburt (Instytut Literacki, Paris) herausgab. In der Bibliothek meiner Alma Mater nehme ich diese Anthologie in die Hand und blende in das Jahr 1959 zurück. Lawrynenko schrieb, dass 1930 ganze 259 ukrainische Schriftsteller veröffentlicht wurden und nach 1938 nur noch 36. Wo und warum verschwanden die 223 Schriftsteller? Diese Frage stellt sich der Herausgeber:

Nach groben Einschätzungen lässt sich die Zahl von 223 ukrainischen Schriftstellern, die in der UdSSR verschwanden, wie folgt entschlüsseln: 17 wurden erschossen; 8 begingen Selbstmord; 175 wurden verhaftet, in Straflager verbannt sowie durch andere polizeiliche Maßnahmen aus der Literatur entfernt; 16 wurden vermisst; 7 starben durch einen natürlichen Tod.

Lawrynenko gehörte zu den Geflüchteten, die von Moskau unterdrückt wurden und die durch ein Wunder überlebten. Er schrieb über die Säuberung der ukrainischen Bücher:

Die Materialien, aus denen man die Auswahl für die Anthologie traf, wurden nach 1933 vernichtet und aus dem Leben derart gründlich gestrichen (nicht nur in der Sowjet Union, sondern auch in den öffentlichen Bibliotheken von westlichen Hauptstädten), dass es genauso schwierig ist, sie jetzt zu finden, wie die Ausgrabung von Denkmälern in Pompeji, nachdem sie von der Lava des Vesuvs bedeckt worden waren.

Das Ziel Russlands sei die Provinzialisierung der Ukraine, schrieb Lawrynenko. Heute ist es nicht anders. Seit Beginn des groß angelegten Krieges im Februar vernichtete Russland mehr als hundert Bibliotheken. Mehr als zwei hundert sind beschädigt. In den besetzen Gebieten wird die ukrainische Literatur beschlagnahmt und vernichtet. Am 7. Mai zerstörten Russen zielgerichtet das Museum von Hryhorij Skoworoda, einem zentralen Philosophen und Dichter der ukrainischen Barockzeit, mit einer Bombe. Seit Ende März berichtet die Hauptdirektion für Nachrichtendienst ständig von der Beschlagnahmung und Vernichtung der ukrainischen Bücher aus den Bibliotheken in den vorübergehend besetzten Gebieten. Zu diesem Zweck setzt Russland die Einheiten der Militärpolizei ein, die nicht nur repressive, sondern auch ideologische Aufgaben erfüllen.
Was für eine Verzweiflung musste in den Herzen der Menschen geherrscht haben, die sich in den 1950er Jahren an die Literatur ihres Landes erinnerten und dabei feststellten, dass im eigenen Land nichts übriggeblieben ist. Vernichtet, verbrannt, ausgestrichen. Das Erinnern wurde verboten. Die bedeutendsten Namen wurden ausradiert und zensiert. Die Anthologie hingerichtete Wiedergeburt von Jurij Lawrynenko umfasst mehr als 40 der bedeutendsten Autoren, die 1917–1933 noch tätig waren und deren Werke nach dem Stalin-Terror verboten wurden. Die vierzig bedeutendsten Stimmen des Landes sind nach jedem Maßstab sehr viel. Eine verbotene Stimme wäre bereits zu viel.
Ich denke an die Sprache, in der wir über das Unglück sprechen. Ich denke an diese Namen und Texte, über die Lawrynenko unglaublich sachkundig und mit offensichtlichem Schmerz schrieb. Er hob die Bedeutung der Literatur auch für jene Zeit vor, in der es keinen Anlass gab zu glauben, dass diese Stimmen in den Diskurs zurückkehren. Die Katastrophe wird zu einer historischen Tatsache, Witwen und Kinder sterben, die Erinnerung ist nicht mehr individuell, aber die Literatur bleibt. Als ich die Texte las, konzentrierte ich mich vor allem auf die poetischen Stimmen. Sobald man aber alles erfährt und begreift, kann man sich diese Literatur ohne Kontext nicht mehr vorstellen. Heute erfinden ukrainische Autoren eine Sprache, in der man über das Schwierigste und dennoch über das Universelle schreiben kann. Über das, was die Literaturgeschichte erzählt: die Fragen nach Leben und Tod.

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Die Gedichte in dieser Anthologie gehören zu Dichtern unterschiedlicher Generationen. Das ist ein einzigartiges Beispiel für die ukrainische Poesie, wenn die Stimmen aller Generationen frei und zeitgleich erklingen. Viele Texte wurden nach dem 24. Februar verfasst, denn man kann ein Gedicht im Bunker, unterwegs, an einem Kontrollpunkt oder letztendlich im Schützengraben schreiben. So etwas kann man mit einem Roman nicht machen. Die zahlreichen ukrainischen Dichter, die sich sowohl in der Armee als auch in ständiger Freiwilligenarbeit befinden, verteidigen heute das Recht zum Schreiben, so wie vor hundert Jahren. Als Redakteurin des ukrainischen Mediums The Ukrainians bestelle ich ständig Essays, die mir die Militärautoren aus Schützengraben zusenden. Die kulturelle und die staatliche Souveränität sind wiedervereint. Der Erfolg der ukrainischen Armee wurde zum besten Förderer der ukrainischen Kultur und zu einem offensichtlichen Anreiz, die Optik der Entkolonialisierung anzuwenden. Diese Optik einer entkolonialisierten Sichtweise der Ukraine wird zum ersten Mal in der Weltgeschichte eingesetzt. Ich bin überzeugt, dass diese Sichtweise zum Trend wird, der eine neue und nicht von Russland eroberte Kultur für die Welt offenbart.

Bohdana Neborak, September 2022, Kyiv, Vorwort
Aus dem Ukrainischen übersetzt von Julia Metka

Eine ukrainisch-georgische Beziehung

In Georgien ist man sich bewusst, dass die Ukraine nicht nur für sich, sondern für alle postsowjetischen Länder kämpft, vor allem aber für Georgien. Dieser Krieg ist nicht allein ein Überlebenskampf der Ukraine gegen den Angriffskrieg und die hegemonialen Bestrebungen Russlands, er ist auch ein Ergebnis des Zerfalls der Sowjetunion und der Selbstvergewisserung und des Wiederfindens der kulturellen Wurzeln der ehemaligen Sowjetvölker.
Nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine erschienen in sozialen Medien zunehmend Gedichte georgischer Autoren und Autorinnen, die den russischen Angriff auf ein friedliches Land und seine Bevölkerung reflektierten. Seit mehr als dreißig Jahren gibt es bei kriegerischen Handlungen mit Russland zerstörte Städte und Dörfer, vertriebene Familien, getötetes Leben und Vernichtung kultureller Werte und Institutionen.
Die Kriege in Abchasien 1992–93, in Südossetien (Samatschablo) 1991–92 und nicht zuletzt der Krieg in Georgien im Jahre 2008 haben sich in die Köpfe der Menschen eingebrannt. Für zahlreiche ukrainische und georgische Dichter*innen ist das auch eine eigene individuelle Erfahrung: Die ukrainische Autorin Oksana Sabuschko hat darauf in ihrem „Diyptychon aus dem Jahr 2008“ reagiert, dem Gedicht, das diese Anthologie eröffnet. Und es gibt noch eine weitere Dimension: der in diesem Band vertretene ukrainische Dichter Vasyl Machno gehörte im Dezember 2016 zu den Unterzeichnern des Aufrufs des Internationalen Literaturfestivals Berlin „Schluss mit dem Massenmord in Aleppo!“, der gegen den „Bombenkrieg des russischen Präsidenten Putin in der syrischen Stadt Aleppo“ protestierte.
Unter den georgischen Autor*innen stammen überdurchschnittlich viele aus den noch heute von Russland okkupierten Gebieten, aus denen sie mit ihren Angehörigen fliehen mussten. Manche waren damals Kinder, andere aber auch Soldaten. Der Krieg ist ein permanentes Thema, ein Trauma in ihrer Dichtung. Als der Nestor der georgischen Lyrik, Besik Kharanauli, sein Gedicht „Aufruf“ schrieb, zitierte er als Epigraph eine Zeile des ukrainischem Dichter Taras Schewtschenko aus dem 19. Jahrhundert. Die junge georgische Dichterin Sophia Tsulaia zitiert in ihrem Epigraph den zeitgenössischen ukrainischen Autor Serhij Zhadan. In Georgien kennt man die ukrainische Literatur und ihre Vertreter bestens. Vor dem Krieg waren die Kontakte sehr eng, man traf sich auf Literaturfestivals, es gab eine gewachsene literarische und historische Tradition. Ukrainische Literatur gehört in georgischen Schulen schon lange zum Curriculum.
Im Frühling 2022 erschien in Georgien ein Gedichtband zeitgenössischer ukrainischer Autoren über ihre Kriegserfahrungen, in dem sie ihren Alltag mit dramatischen Worten beschrieben, herausgegeben von dem Lyriker Shota Iatashvili.
Zur selben Zeit habe ich auf meinem Autorenblog Bela Chekurishvili’s Corner Kriegsgedichte von georgischen Autor*innen gesammelt, mit dem Ziel auch deutsche Leser*innen zu erreichen. Mit der Dichterin Sabine Schiffner, einer erfahrenen Nachdichterin aus dem Georgischen, begann ich erste Übersetzungen auf meinem Blog zu veröffentlichen. Da sich immer mehr georgische Dichter*innen ihre Gedichte beteiligten, entstand gemeinsam mit dem georgischen Schriftstellerhaus in Tbilisi und dem KLAK-Verlag die Idee zu diesem Zeitdokument, das ein Zeichen der Solidarität und Unterstützung für die ukrainischen Dichterkolleg*innen sein soll: „Säe den Weizen, Ukraine“ – dessen Titel aus dem Gedicht der Georgierin Eka Kevanishvili gleichzeitig als Leitmotiv für das Buch steht: ein leidenschaftlicher Appell für die Freiheit und Souveränität der Ukraine.
Die poetische Aufarbeitung dieses Krieges, seiner Ursachen und Folgen, wird sicher noch über Jahrzehnte ein Thema in der Literatur Georgiens und der Ukraine sein, so wie es bei allen einschneidenden Kriegen war. Von ihren Erfahrungen werden zukünftige Gedichte und Prosatexte Zeugnis ablegen. Die Perspektiven werden sich mit zunehmender Distanz verändern. In dieser aktuellen Anthologie, sind mitten im Geschehen jeweils mit einem Gedicht und einem persönlichen Statement die bekanntesten zeitgenössischen Dichterinnen und Dichter der Ukraine und Georgiens versammelt.

Bela Chekurishvili, Vorwort

 

 

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Porträtgalerie: Dirk Skibas Autorenporträts

 

Bela Chekurishvili liest aus ihrem Gedichtband Wir, die Apfelbäume.

 

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Sabine Schiffner liest ihr Gedicht „Mit voller Wonne“ am 3.11.2021 im Amphittheater von Ephesos.

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