Christa Melchinger: Zu Claude Vigées Gedicht „Winterweiden“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Claude Vigées Gedicht „Winterweiden“ aus Claude Vigée: Heimat des Hauches. –

 

 

 

 

CLAUDE VIGÉE

Winterweiden

Hinter versteinertem Bach
aaaaaDie starren Winterweiden.

Das Warten ohne Welt, das wir erleiden,
ist das noch wirklich Leben?
Wollen wir lebend das Leben meiden?

O tote Welt der Freuden
Nach der wir trostlos streben…
Hier wird uns nicht einmal der Tod
aaaaazum Scheiden.

Versteinerte Augen starr
aaaaaHinter den Winterscheiben.

 

Gedicht in fremder Sprache

Vigée – den Namen hat sich der Dichter selbst gegeben, dem Klang von j’ai vie (ich habe Leben) folgend. Leben haben ist für einen Mann, der 1921 mit dem Namen „Strauss“ geboren ist, keine Selbstverständlichkeit. Ist er gar noch als elsässischer Jude zur Welt gekommen, so wird dieser Name zum Programm: „Ich bin elsässischer Jude, also doppelt Jude und doppelt Elsässer“ – der Trotz, mit dem sich Vigée seinen Namen gibt, zeigt, daß er aus dieser doppelten Last doppelte Kraft geschöpft hat.
1940 mußte er aus dem Elsaß, 1942 aus Frankreich fliehen. Er lebte achtzehn Jahre lang als Emigrant in den Vereinigten Staaten. In diesen einsamen Jahren entstand das Gedicht „Winterweiden“. Es ist ebenso ein Bild für die Situation des Exils wie für das, was ihn dorthin gebracht hat.
Vigée hat sehr deutlich sein Leiden an Amerika, an der langen Emigrationszeit, ausgesprochen. In den Jahren, die er dort verbrachte, konnte er nie vergessen, daß dieses Land für ihn keine freie Wahl bedeutet hatte:

Die Wahl war zwischen Amerika und dem Konzentrationslager, dem Tod, und in diesem Sinn war es die Rettung. Ich habe mich aber in diesen langen Jahren, die ich in Amerika verbrachte, nie an das Leben dort gewöhnt, wirklich nicht. Äußerlich schon, ich war ja noch jung; englisch zu lernen, das war gar nichts, und im akademischen Leben sich durchzusetzen, das war sehr interessant: aber innerlich habe ich mich nie an die amerikanische Landschaft angepaßt.

So ist auch die Landschaft des Gedichts keine amerikanische. Der Bach und die Weiden weisen auf die elsässische Heimat. Aber der Bach ist versteinert, und die Bäume sind starr. Es ist Winter.
Eines der Bücher, in denen Vigée seine Erfahrungen in Amerika niedergelegt hat, heißt La Lune d’Hiver (Wintermond), und den Mond im Winter, in der Kälte, hat er als eine Chiffre des Exils bekannt:

… diese winterliche Landschaft, in der man die Zeit mit Warten und in der Langeweile verbringt.

In kaum einem anderen Exilgedicht lebt für mich so wie in diesem die grausame Erfahrung des aus der Heimat Vertriebenen: Lebensrettung ist nicht in jedem Fall die Alternative zu Todesgefahr. Leben und Tod sind für einen Emigranten wie Claude Vigée kein Gegensatz mehr, der die Welt erklärt.
Ich sehe den noch jungen Literaten aus dem oberelsässischen Städtchen, der, den Nazis entkommen, junge amerikanische Offizierskandidaten in französischer Sprache unterrichtet und sich fragt, was er eigentlich tut an diesem Ort. Überleben, ja gewiß. Aber die Gefahr ist da, in der „Leere und Richtungslosigkeit“ des bloßen Überlebens das Leben zu verlieren, „lebend das Leben meiden“. Claude Vigée hat uns wissen lassen, wie ihm die Rettung aus dieser hoffnungslosen Lage gelungen ist: es geschah so, wie es sich für einen Dichter gehört, mittels der Sprache. Vigée hat schon in früher Jugend Gedichte geschrieben, vorwiegend französische. Jetzt, abgeschnitten von seinen Ursprüngen, wird er auf die Sprache seiner Kindheit und Jugend, seine eigentliche Muttersprache, den elsässischen Dialekt, zurückgeworfen. Das große elsässische Requiem „Schwàrzi segessle flàkkere em wénd“ (Schwarze Brennesseln flackern im Wind) ist eine Frucht dieser Jahre.
Das Gedicht „Winterweiden“ stammt auch aus dieser Zeit. Es ist das einzige hochdeutsche Gedicht im Werk des Elsässers. Er hat das Hochdeutsche immer als eine Fremdsprache empfunden und hat es nur gelegentlich, zitatweise, innerhalb eines französischen Textes benutzt. Nun ist es die Sprache seiner Todfeinde geworden. Gut für ein Gedicht, aus dem die ganze Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit des Entwurzelten spricht.

Christa Melchingeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Elfter Band, Insel Verlag, 1988

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00