Cosima Hohl: Zu Durs Grünbeins Gedicht „Vita Brevis“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Durs Grünbeins Gedicht „Vita Brevis“ aus dem Lyrikband Durs Grünbein: Nach den Satiren. −

 

 

 

 

DURS GRÜNBEIN

Vita Brevis

Kurz und bös, ich bin groß geworden im öden Schlamassel,
Der allem droht, was sich verkennt. Unter Spatzen und Spitzeln
War ich auf leerem Appellplatz tollkühn, schweigsam in stummer Masse.
Ein Clown, siebenzüngig, ein Chorknabe, scharf auf die zynischen Witze.
Ungefragt sprechend wie andere spucken, beiseite
Hab ich die Schocks der Ohnmacht verleugnet mit schwarzem Humor.
Denn die Historie war mir von Nachteil, des Menschen Pleite.
Dort wo ich aufwuchs, kam Größe nur in Legenden vor.

Gleich mit dem Lesen hab ich Verstellung gelernt, in frühen Etüden
Unter Frömmlern den Thomas, vor Ketzern Sankt Petrus gespielt.
Ich sah die Null hoch dekoriert, unter Zwergen den Riesen ermüden.
Der geborene Deserteur: lieber tot als auf Herzen gezielt.
Ich hab aus Panzern gekotzt, in Kasernen mich in den Schlaf geheult,
Im Zeltlager überm Kübel mein schiefes Grinsen rasiert.
Mehr als mein Knie vom Fußball war bald die Seele zerbeult.
Oft kam ich heim mit dem Meineid „Schon gut. Nichts passiert.“
Ich habe Akten gestempelt vorm Reißwolf, Bäume grün angepinselt,
Phantasiert über alles und manches, was es im Traum nicht mal gibt.
Utopia zum Beispiel… Seit Morus spielt das auf rauhen Inseln.
In den Neubausteppen hab ich den ersten mageren Körper geliebt,
Lang vor den Lilien den Müllwind geschnüffelt, die Dünste
Aus Kantine und Schlachthof und den Gestank voller Züge.
Ein Palast in Betongrau, das war die Schule der Schönen Künste.
Und aus den Klassen sang es: Ihr Musen vergebt, wenn ich lüge…
Alle Bedenkzeit der Welt hab ich gehabt, doch es gab nichts
Was das Kopfschütteln lohnte. Die neuen Bibeln warn das Papier
Nicht mehr wert, und fürs Leben die einzige Lehre: die des Verzichts.

Eine Knastlitanei. Lang ists her, und sieh da, ich bin immer noch hier.
Wo Staaten wie Sandburgen rutschten, die Illusion hoch im Kurs stand
War es Instinkt, die Musik lauter zu stellen und leise
Die zwei, drei Zeilen zu summen, die dieses Land
Unter Wasser setzten. So ging ich allein auf die Reise,
Zurück durch die Brennesselfelder, die Dörfer, entgegen den Trecks,
Im Ohr noch den russischen Laut des Sergeanten: „Dawai, dawai!“.
Nostalgie, eine fistelnde Stimme, empfahl mir Bevor du verreckst
Irgendwas Fernes. Die Brandung am Strand von Hawaii?

 

Endstation Weltflucht?

Von der vita brevis, der Endlichkeit der Einzelexistenz, spricht der Titel des Gedichts von Durs Grünbein. Mit diesem Thema wandelt der Dichter auf breit belustwandelten Pfaden literarischer Tradition: Bereits Horaz und Seneca diagnostizierten mit dem Aphorismus „ars longa, vita brevis“ den zeitlich begrenzten Erfahrungshorizont, die vanitas subjektiven Wissens. Diese rhetorische Formel überführt der Faust’sche Famulus als dramatisches Inkarnat der Grenzen des Intellekts in die geläufigen Fürbitten: „Ach Gott! die Kunst ist lang! / Und kurz ist unser Leben“ und: „Zwar weiß ich viel, doch möcht’ ich alles wissen.“ Grünbein verkürzt den antiken Topos zu „vita brevis“, was dem biografischen Bericht einen bissig-lakonischen Beigeschmack gibt: „Kurz und bös […]“ – die Essenz des Einzellebens ist bitter und schnell erzählt. Unter diesen auf subjektives Bewusstsein beschränkten Rückblicken schimmert das gestrichene „ars longa“ jedoch als ironischer Durchschlag des Textes hervor, dessen Gedichtform ihn bereits als Produkt der Kunst postuliert.
Das Ich beschreibt in seinem autobiografischen Bericht nicht nur aus der zeitlichen Distanz der Nachwendezeit heraus in gewählten Momenten seine Kindheit und Jugend, es konturiert auch die Psychopathologie des Bürgerkollektivs in einem Überwachungsstaat. Das Ich – wie Grünbein selbst ein Nachgeborener – entwickelt sich als Reaktion auf die individuumsfeindliche Zellenpolitik der DDR zum Künstler und geistigen Deserteur, den die Vergangenheit bis in die Gegenwart verfolgt. Erinnerungen aus Grünbeins Kindheit in der DDR und Aussagen zu seinem Schaffen legen ein gemeinsames Erfahrungsfundament von Autor-Ich und Text-Ich nahe. Als Echo mit VITA BREVIS verbunden, stehen diese autobiografischen Markierungen ergänzend hinter der Selbstbeschreibung des Ichs. Das Ich – Chronist seiner selbst – geht induktiv vor und folgt der linearen Struktur von Einleitung, Ausführung und Zusammenfassung. Vom ersten bis zum achten Vers verortet sich das Subjekt als opportunistischer Rebell des Geistes in der Zeitgeschichte und resümiert:

Denn die Historie war mir von Nachteil, des Menschen Pleite.

Diese Feststellung wird bis Vers 29 wiederholt, in der erneuten Überblendung von individuellem Mikro- und staatlichem Makrokosmos. In der Ausführung des Ichs ist die Frage nach dem didaktischen Mehrwert dieser Zeit movens und semantische Fassung: „die [Lehre] des Verzichts“. Das Gedicht selbst als hermetischen Erinnerungsraum durchbricht das lyrische Ich erst, indem es sich und dem Leser seine Gegenwart in Erinnerung schreibt: „und sieh da, ich bin immer noch hier“. Dieser Zäsur folgen die Bestandsaufnahme von Langzeitfolgen aus Kindheit und Jugend und schließlich der Eskapismus, das Ablassen von der Nabelschau, als offener Schluss des Gedichts: Im ideologischen Trümmerschutt der in der DDR zerbrochenen Utopien, dem „jeweils nächste[n] hässliche[n] Paradies“ sucht das Ich als Fluchtpunkt „etwas Fernes“. Es ist nicht der einzige „Genosse“, der die utopiefreie Endzeit formuliert: Bereits Heiner Müller, der Grünbein 1987 an Siegfried Unseld empfahl, schwang in der Mitte der siebziger Jahre das apokalyptische Zepter:

ALLEIN MIT DIESEN LEIBERN
Staaten Utopien
Gras wächst
Auf den Gleisen
Die Wörter verfaulen
Auf dem Papier
Die Augen der Frauen
Werden kälter
Abschied von morgen
STATUS QUO

Sowohl Müllers als auch Grünbeins Gedicht beschreiben Gegenwart als Zukunftslosigkeit, die Geschichte als perpetuum mobile naturae, das, vom Subjekt unbeeindruckt, auf immer gleichen zyklischen Bahnen kreist.

Ansichten eines Clowns – das Ich als zoon politikon
Das Ich in VITA BREVIS formuliert dies deutlich und quittiert die Einsicht der Hilflosigkeit gegenüber der Geschichte mit Lakonie: „ich bin großgeworden im öden Schlamassel / Der allem droht, was sich verkennt“. Es selbst ist gefangen innerhalb der Geschichte als ewiger Wiederkehr des Gleichen bestimmt durch die menschliche Fehlbarkeit, die „Verkenntnis“. Das Gedicht macht hier auf zwei Ebenen eins deutlich: Die Historie des menschlichen Versagens ist nicht nur dem Ich von Nachteil, sie ist, war und wird „des Menschen Pleite“ bleiben. Diese Erkenntnis ereilt das lyrische Ich unter den Augen einer (sozialistischen) Bewusstheit – und Äußerungszensur. Die „Polizei der Aussagen“ programmiert die vita des Ichs als ein entindividualisiertes Opportunistendasein und versucht politische Integration unter negativen Vorzeichen zu leisten. Die Grenzen von Öffentlichkeit und Privatem zerfließen, das Ich ist gefangen zwischen der Wahrheit, die Spatzen von den Dächern pfeifen, und einer heimlichen, strafbaren Meinung. Es bekennt sich als funktionierendes Rädchen, das den Anforderungen des Systems nach quasireligiös überhöhtem Gleichklang nachkommt und im privaten Raum gefahrlos gedanklichen Widerstand leistet:

War ich auf leerem Appellplatz tollkühn, schweigsam in stummer Masse.
Ein Clown, siebenzüngig, ein Chorknabe […].

Unter dieser sicherheitspolizeilichen Überwachungspolitik werden beide Haltungen in Bezug aufeinander zum reaktiven Spiel zum Bühnengeschehen. Doch das Ich ist allein beim Blick hinter die Kulissen, in seiner Flucht in die „zynischen Witze“. Die „Chronifizierung“ selbstständiger Reflexion treibt das intellektuelle Ich wie Don Quichotte zumindest ins Abseits der Isolation, wenn nicht in die Realitätsverweigerung. Der „schwarze Humor“, die systemkritische Leerlaufhandlung, trägt folgerichtig Bühnencharakter: Das Ich spricht „beiseite“ von der Differenz zwischen der Größe in Legenden und der Wirklichkeit und trainiert so schon früh das Vokabular aus Gehorsam und heimlichem Trotz, das ihm zu überleben hilft. Der Anpassungszwang – die ideologischen Mühlen beginnen endgültig zu mahlen mit dem Eintritt in die Schule – wird resigniert kommentiert: „Gleich mit dem Lesen hab ich Verstellung gelernt“, „fürs Leben die einzige Lehre: die des Verzichts“. Die religiösen Implikationen verweisen leitmotivisch auf den quasireligiösen Charakter der Konformismusdoktrin: Die Figur des Thomas von Aquin, der im Mittelalter die Theologie der Wissenschaft zuführte und als Theoretiker der Inquisition die Hinrichtung von Ketzern forderte, ist unter Frömmlern genauso Scherenschnitt wie die zwiespältige Figur des Petrus vor den Ketzern: Zwar war er Führender der Jünger Jesu, gleichzeitig machte er sich der Verleugnung Jesu schuldig.
Diese Verstellung des Ichs begründet sich aus einer parteipolitisch modifizierten Wahrnehmung der Wirklichkeit, einer verkehrten Welt, in der selbst noch die Größe aus Legenden demontiert wird:

Ich sah […] unter Zwergen den Riesen ermüden.

Der gleichzeitige Gegensatz von staatlich verordneter und erfahrener Realität wirkt als Double-Bind, als Situation, in der sich das Ich, unabhängig von jeder Entscheidung, nie vollständig ,richtig‘ verhalten kann. Diese Zensur der Wirklichkeit, diese Bedeutungsverwaltung hat paradoxe Folgen: Als Reaktion lernt das Ich die Relativität jeglicher Wirklichkeit und mittels dieser Erkenntnis entflieht es aus beiden Wirklichkeiten in ein Paralleluniversum – die Phantasie, die noch jenseits des Traumes liegt.

Ich habe Akten gestempelt vorm Reißwolf, Bäume grün angepinselt
Phantasiert über alles und manches, was es im Traum nicht mal gibt.

Oder anders: die Fähigkeit zur Negation jeglicher absoluten Realität – durch die politischen Umstände, das schizophrene Angebot von Wirklichkeiten erst hervorgebracht – ist die einzige Möglichkeit, ihrer Parallelwahrnehmung und der Subjektspaltung momentweise zu entgehen, sich durch eine eigene Wirklichkeit als Subjekt zu konstituieren. Die verordnete kollektive Illusion bringt eine neue subjektive Illusion hervor. Eine aktive soziale Einbindung in Schule, Spiel, Zeltlager erfordert eine flächendeckende Selbstüberwachung und -korrektur, die Schere im Kopf:

im Zeltlager überm Kübel mein schiefes Grinsen rasiert
[…]
Oft kam ich heim mit dem Meineid „Schon gut. Nichts passiert“.

Explizit wird in VITA BREVIS die politische Übernahme des Privaten in der passiven ideologischen Verweigerung von Krieg und Kriegsübungen:

Der geborene Deserteur […] Ich hab aus Panzern gekotzt, in Kasernen mich in den Schlaf geheult.

Als Jugendlicher in die Nationale Volksarmee zu Sozialistischer Wehrertüchtigung eingezogen oder als rückblickende Überblendung subjektiver Wahrnehmung mit einem Kollektiv in und nach dem Zweiten Weltkrieg, der Staat des Ichs gründet auf militärischer Macht, die nach außen und innen wirken muss. Es ist in ihn hineingewachsen, hineingeworfen in eine Welt, deren Entstehen es nicht erfahren hat.
Utopia zum Beispiel“ bietet vordergründig einen gedanklichen Ausweg: Diese programmatische Schrift über die Notwendigkeit gemeinschaftsbildender Grundwerte einer Gesellschaft stammt vom 1478 geborenen Philosophen Thomas Morus. Jedoch ist dieser Traum des idealen Gemeinwesens für Morus nur als Reagenzglaswerk, als Utopie in vitro im Exil auf einer „rauhen Insel […]“ möglich. Der Körper des Ichs ist an die Gegenwart das Double-Bind fixiert und seine Gedanken finden auch in der Zukunft, in der Utopie als dem „Zauberwort aller linken Erlösungshoffnung“, wie Grünbein schreibt keinen Halt. Es weiß um die Unumsetzbarkeit seines Gedankenspiels:

ich habe […] phantasiert über alles, und manches, was es im Traum nicht mal gibt.

Die Utopien sind als ganzheitliche Lehre des Auswegs, der Alternative für das Subjekt zerbrochen. Ein Restmoment an negativer Utopie verbleibt allerdings in ihm seIbst, wie der interpunktionell und inhaltlich offene Schluss andeutet. Durs Grünbein kommentiert seine Reaktion auf die zerbrochene Utopie DDR als movens seines Schaffens:

[…] als wichtigstes Instrument für den jungen Autor erwies sich die Allergie: Allergie […] gegen die trägen Hoffnungen auf Utopia, […] instinktive Hygiene, das Sichfortstehlen von allem, was als verordnet und historisch notwendig galt.

An die Stelle der rauen Inseln als Utopie von Morus tritt der negativ konnotierte Bewusstseinsraum Großstadt, in dem das Ich seinen Überlebenskampf führt:

In den Neubausteppen hab ich […] Lang vor Lilien den Müllwind geschnüffelt.

Grünbein skizziert mit wenigen Substantiven die Großstadt als Moloch, als pervertierte Zivilisation, deren Unnatürlichkeit und Hässlichkeit die rhythmische Oberflächenästhetik des Gedichtes sprengt und den Leser mit einem klammen Gefühl von Schmutz und Ruß zurücklässt. Einzig Natur und Körper scheinen Fluchtlinien aus der Welt ziehen zu können, in der „Bäume grün angepinselt werden“: Das zweite Subjekt des Gedichts wird durch seinen Körper charakterisiert und somit erkenntlich als beliebiger Anfang in einer Reihung von vielen, wird zum Objekt. Das animalische Restprogramm, der Überlebensinstinkt produziert Natur – am Schluss die Brandung – als fragilen Ausweg aus der Betonwüste. Entsprechend passt sich die unumgehbare Bewusstseinsschmiede – „die Schule der Schönen Künste“ – in die Künstlichkeit des geografischen Raums: Der „Palast in Betongrau“ leert den Begriff der Kunst um jeglichen vormaligen Sinngehalt. Sie wird nur mehr instrumentalisiert, um das vorgegebene Bewusstsein zu verfestigen:

[…] Ihr Musen vergebt, wenn ich lüge…

Als Reaktion auf diese Zweckentfremdung ist dem Ich nicht einmal mehr das Kopfschütteln als Zeichen von Resignation oder aktiver Verweigerung möglich. „Alle Bedenkzeit der Welt“ zu haben weist erneut auf eine zyklische Wiederholung des Geschichtsverlaufes hin; das Ich darin steht exemplarisch für die Fehlbarkeit aller Menschen. Als einzig erlaubte quasisakrale Ikone leuchtet die neue (kommunistische) Doktrin:

die neuen Bibeln warn das Papier
nicht mehr wert.

So lebt das Subjekt im Spannungsfeld zwischen Erwartung – „Illusion“ und der Hoffnung auf deren Erfüllung. Grünbein entwirft eine entwertete Welt, „fürs Leben die einzige Lehre: die des Verzichts“. Seine Jugend resümierend, konstatiert das Ich in Rückbezug auf den neunten Vers den Verlust der sozialistischen Utopie, deren instabile staatliche Simulation sich zur Zelle für Ich und Kollektiv entwickelt. Folgerichtig bezeichnet es diesen Determinismus als „Knastlitanei“, den Knast als Bewusstseinsraum, eine Erinnerung, die es nicht verlassen kann: „und sieh da, ich bin immer noch hier. Wo Staaten wie Sandburgen rutschten, die Illusion hoch im Kurs stand“. Das Leitmotiv der Sandburg verweist hier und im Folgenden auf die Brüchigkeit des staatlichen Konstruktes: Das Ich setzt es durch subversiv-heimliche Kritik „unter Wasser“, als Gegenwehr wird ihm die welthöchste „Brandung am Strand von Hawaii“ empfohlen. Es hinterfragt im privaten Rückblick die staatliche Illusion – mittels der Sprache:

[…]
die Musik lauter zu stellen und leise
[…]
zwei drei Zeilen zu summen
[…].

Die Notwendigkeit der vorherigen Isolation allerdings nimmt den Worten ihre Wirkung, der subversive Akt verblasst vordergründig zum passiven Dachstubenaufstand. Die „Reise“ des Ichs führt zurück in die militärische Geschichte, die als Bezugsrahmen seiner Welt seine Jugend geprägt hat.
Das substantivisch gesetzte, militaristisch gefärbte Vokabular verweist auf Bewusstseinsdrill und Omnipräsenz staatlicher Gewalt. VITA BREVIS bestimmt die Macht als zeitunabhängige Matrix für kollektives und subjektives Bewusstsein auch durch die Zeitschichten hindurch, indem es exemplarische Erinnerungsbruchstücke des Ichs mit politischer Landesgeschichte überblendet. Das Ich regrediert zu staatsphilosophischen Wurzeln der DDR, die nur mehr als Rechtfertigung für den status quo eingesetzt werden – „Zurück durch die Brennesselfelder, die Dörfer“, hin zu „Trecks“ und dem „russischen Laut des Sergeanten“. Die Entstehungsgeschichte der DDR und deren Vorlauf sind von einer Vertreibung durch den späteren Großen Bruder gekennzeichnet.
Die Suche nach seinem (politischen) Ursprung führt das Ich durch die Illusion der neuen sozialistischen Heimat hindurch zu den kriegsschwangeren Vorwehen der DDR. Diesem Erinnerungsprozess ist das Ich nicht gewachsen, wie es in aller ironischen Schärfe formuliert: „Nostalgie, eine fistelnde Stimme, empfahl mir, Bevor du verreckst / Irgendwas Fernes“. Mit dieser dritten Kursivsetzung schließt die innerhalb des Gedichtes nochmals skelettierte Rückschau: „Utopia“, „Schule der schönen Künste“, „Bevor du verreckst“. Der Schluss des Gedichtes sieht den Eskapismus, die Flucht vor der gebrochenen Illusion und der Erinnerung neben dem schwarzen Humor als einzige Möglichkeit, das Jugendtrauma zu überleben. Das Ich erhofft sich die absolute Zerstörung der Sandburgen durch die Brandung, was nie möglich war und sein wird. Entsprechend formuliert Grünbein:

Ich sehe keinen Grund für Nostalgie, und wenn doch, so können wir sie ganz schnell überwinden. Es gibt kein Zurück, das wissen wir alle. Die Verluste von gestern sind dieselben Verluste, die uns in der Zukunft erwarten. Ich glaube, dass die Erfahrung von Verlusten, je früher man sie macht, einen für Zukunftsideologien weniger anfällig macht. Ich sehe darin sogar einen Entwicklungsvorsprung.

Die Geschichte ist für das Ich doppelte Demarkationslinie – im physischen und gedanklichen Raum. Neben einem Ausreiseverbot der damaligen DDR steht die Ferne durch Fantasie und Sprache, Abgrenzung vom Bestehenden der Gegenwart mittels der „immerfort fluchtbereiten Gedanken“, die eine Knastlitanei als möglichen Fluchtpunkt bestimmen. Hawaii fungiert in dieser Ferne nicht unbedingt als geografische Markierung. Das Fragezeichen nach dem letzten Wort entlässt das Schlussbild in den offenen Raum zwischen Harmonie und Bruch, in die Polarität: Ist Hawaii als klischiert oberflächliches Paradies, als Sonnenbank des Eskapismus, als amnestische Löschung der Identität des Sprechers zu verstehen? Oder steht das Mekka der Surfkultur wegen des weltweit höchsten Wellenganges für die Zerstörung der vorgelebten Gedanken? Eine ironische Absage an das destruktive Potential der Träume und Zukunftsvisionen?
Einzig fester Punkt in diesem horror vacui ist das nachgeborene Ich, das in der Abgrenzung auf ein anderes Erleben hofft. Diese Ferne versucht es, in Worte zu gießen, sich und den Leser von der emotionalen Distanz zum Inhalt zu überzeugen: Die wenigen Adjektive und vielen nominativen Setzungen korrespondieren mit der inhaltlichen Erstarrung des Gedichtes. Allerdings brennen sich kleine Stichflammen der Verbitterung durch die stoische Unterkühlung und strafen seine Belustigung Lügen. Hierzu Grünbein:

Immer seltener kam es mir in den Sinn, gegen das Zeitgeschehen Einspruch zu erheben, seit das Begreifen und Deuten mir mehr abverlangte als jedes Meinen und Handeln. Ich habe, so sehr es mich manchmal beschämt, den Zerfall der Diktaturen im Osten tatsächlich als einen Zerfall erfahren, das heißt grundsätzlich passiv, als politikferner Tagedieb […]

Was für eine Persönlichkeit entwickelt sich im gleichgeschalteten Bewusstsein dieses Staatsapparates? Ein Ich, das den Eskapismus, die Ferne als sehnsuchtsvolles Schutzschild kultiviert wie der Recke Don Quichotte den ritterlichen Irrsinn?

Der Ritter von der traurigen Gestalt
Allein die Wahl der gedrängteren Erzählform, laut Grünbein „die Einzelzelle […], das Gedicht mit seiner gefährlich hohlen Akustik, dieser narzisstische Echoraum“, verweist bekanntlich auf einen subjektiv begrenzten Erlebnis- und Erfahrungshorizont: VITA BREVIS ist Bruchstelle zwischen Konvention und Individuum. Ein strenges Reimschema und die polierte Form entrichten ihren Tribut an die Tradition, Wortwahl und Jargon dagegen brechen mit herkömmlichen Lesegewohnheiten. Dabei ist der getragene Sprachstil so elastisch, dass er Alltagsjargon als auch elegische Reminiszenzen des Ichs umfasst. Sinnfällig und konsequent spiegeln Form und Syntax dieser „Einzelzelle“ Beschaffenheit und Verfassung des Gedicht-Ichs: Das geordnete harmonische Äußere steht konträr zum widersprüchlichen, gebrochenen Inneren. Hier ist der Gedankensprung der Erinnerungen Puls der Syntax. Zu Standbildern gerinnende und wieder zerfließende Entwicklungen werden in Enjambements so montiert und gesetzt, dass das Zeilenende nicht mit dem Satzende zusammenfällt. Stattdessen wird der Sprachfluss durch Interpunktionen in der Zeilenmitte unterbrochen. Das lautliche Skelett des Gedichtes bildet der konsequent in vielen unreinen Reimen verschliffen nuschelnde Kreuzreim. Dieser Reim rahmt das Mosaik aus zersplitterten Erinnerungen, die laut zu skandieren in verquälten Fehlzündungen spröder Arhythmie scheitert. Zeitliche Dynamik des Erinnerns und erstarrte Bildkompositionen verlaufen ineinander. Diese Abfolge von Bild und Bewegung, von Vorwärtsdrang und spröder Statik des gesetzten Augenblicks verweigert sich einer einheitlich-gefälligen metrischen Rhythmisierung, ebenso wie sich die Erinnerungen zu keiner harmonischen Gegenwart zusammenfügen lassen.
Allein der Schluss setzt sich hiervon ab: Ob als Zeichen der Hoffnung im Sinne einer fernen Zukunft oder als Eskapismus zu verstehen, Hawaii ist Gegenort zu Russland und der Heimat des lyrischen Ichs. Weder liegt es in seiner tatsächlichen Reichweite, noch ergibt sich seine Setzung schlüssig aus den Stimmungs- und Motivbereichen Großstadt, Subjekt und Kollektiv, Zensur und Militär. Das Fragezeichen und die Endung „ii“ produzieren einen offenen Doppelvokal, dessen lautlicher Nachhall weiterschwingt, die Hoffnung trotz der Endgültigkeit und Eindeutigkeit des Schlusses in die akustische Leere, in die Unendlichkeit verlängert. Somit setzt der Schluss keinen Endpunkt, sondern steht als mögliche Basis für eine noch unbestimmte Zukunft. Die Gegenwart als unentrinnbare Endzeit, als Dunkelkammer, die sich lediglich aus erzählten Einzelerinnerungen, aus fragmentierter Vergangenheit zusammensetzen und bestimmen kann und scheinbar endgültig rückbezüglich ist, wird aufgebrochen. Das Nichts nach dem Schluss ist Projektionsfläche für eine weitere Dimension, zeitlich hineingeleuchtet in die Zukunft oder räumlich gesetzt durch den tatsächlichen Ort Hawaii.
Dennoch besitzt das Sich-Erzählen, die Rückbezüglichkeit großen Stellenwert für das Ich: Erst eine sprachgewordene Vergangenheit bildet und justiert die Identität und ist Bedingung einer authentischen und individuellen Zukunft. Eine Negation der eigenen Geschichte erscheint dem Ich zwar lehensnotwendig, blockiert aber auch seine Weiterentwicklung: „Bevor du verreckst“, „und sieh da, ich bin immer noch hier“. Das Ich deklamiert VITA BREVIS als „Knastlitanei“, was ein abgespultes Lamento, ein inhaltsloses vergebliches Erinnern assoziiert. In diesem Erzählbericht trennt das Subjekt aus seiner auktorialen Position heraus zwischen erzählendem und erlebendem Ich, was am Tempuswechsel sichtbar wird. Der Eindruck von Endgültigkeit und Abgeschlossenheit entsteht, indem das Ich seine Geschichte hauptsächlich im Perfekt vorstellt. Seine zeitraffende Ausführung ab dem fünften Vers geschieht folgerichtig größtenteils in einem gereihten Imperfekt, das eher aufzählt als erzählt. Entwicklungsschritte im Verhalten markiert es mit erneutem Perfekt. Dieser Wechsel von Perfekt zu Imperfekt wird durch das Präsens in Vers 28 gebrochen, danach folgt im erneuten Rückbezug das einheitliche Erzählperfekt. Unklar bleibt der Adressat des Erzählberichtes. Ist das Gedicht Selbstgespräch, innerer Monolog des Ichs? Oder ist die Litanei an jemand Bestimmten, etwa einen ,Knastbruder im Geiste‘ gerichtet?
Sei der Leser als Adressat direkt angesprochen oder nicht, die rückblickend allwissende stoische Pose des Ichs hält ihn auf emotionaler Distanz und versichert sich im Sprechen seiner selbst. Hermann Korte hat dazu treffend festgestellt:

Die stoische Haltung ist Teil eines Überlegenheitstopos, mit dem die Ich-Figur der Gedichte die eigene Souveränität behauptet. […] Sobald sich der historische Anspielungshorizont öffnet, ist sein Status durch eine Sprecherstimme vermittelt, die mit Autorität ausgestattet ist und das officium eines stoischen Kulturphilosophen versieht.

Diese Position erfordert einen flüssigen Wechsel zwischen elaboriertem bildhaftem Code und Alltagssprache. Häufige Inversionen geben der emphatischen Litanei einen archaischen Beigeschmack, an der sich der Alltagsjargon reibt. Die insgesamt eher prosaische Erzählhaltung verschleiert, dass das Gedicht nur ein zeitraffendes Derivat, kein Erzählkontinuum ist somit als Ausschnitt keine totale Gültigkeit besitzen kann. Die Formulierungen entsprechen nicht einer Formel.
Mit Hilfe dieser Formulierungen, mit der Sprache sondiert das Ich sich selbst, seine Geschichtlichkeit und ist sich in seiner Gegenwart nicht selbstverständlich, wenn es sich bar aller Bildungsimplantate vor sich zu verantworten hat. Sprache ist für das Ich auch ein Mittel der Realitätsverweigerung, der Modifikation. Das Metapherngestöber um die Pole Ich/Kollektiv, Privat/Öffentlich, Wirklichkeit/Fantasie, Ratio/Emotion untergräbt die lakonische Glätte des Gedichts und macht trotz aller stoischen Distanz die Zerrissenheit des labyrinthischen Anpassungsprozesses spürbar. Grünbein grundiert das Gedicht mit auditiven Reizen, mit unreinen Alliterationen, Lautmalerei und Diphthongen, er grundiert Erfahrungen und Zustände in bestimmter klanglicher und somit sinnlich erfahrbarer Färbung: „lang vor den Lilien den Müllwind geschnüffelt, die Dünste“, „lang ists her, und sieh da, ich bin immer noch hier“. Das Ich parallelisiert die lautlich und visuell skizzierten Selbstentwürfe, um sich in der Erinnerung als schlüssiges, ganzheitliches Selbst zu konturieren. Allerdings ist ihm das nur im Nebeneinander, in der Montage fragmentierter Wahrnehmung mittels der Sprache möglich.
Sie ist das Echolot, mit dem das Ich sich als Relikt, als Strichfassung einer nicht mehr vorhandenen Ganzheit ergründen will. Es versucht, aus dem Double-Bind seiner Kindheit und Jugend, der Parallelität von staatlich verordneter Realität und der als gegensätzlich erlebten ,eigenen‘ Realität, eine einheitliche narrative Identität und eine Wahrheit herzustellen und scheitert an dieser différance. Der absurde Spagat dieses postmodern fragmentierten Subjekts, „des einzelnen Menschen, des selbstentfremdeten Tiers“ zeigt sich in der Reihung antithetischer Selbstbeschreibungen und Schilderungen der Außenwelt. Etwa wenn das Ich „[…] auf leerem Appellplatz tollkühn, schweigsam in stummer Masse“ die Null hoch dekoriert sieht und den „Palast in Betongrau“ besuchen muss. Das Leitmotiv von Lüge und Illusion bewegt sich im Zyklus gegensätzlicher Begrifflichkeiten. Gegensätze wie Lüge und Wahrheit, Ich und Kollektiv, Körper und Geist, Sprechen und Schweigen verschwimmen in einem Bedeutungsfluss zu polyphonen Wahrheiten. Nicht einmal Negation ist dem Ich möglich, da keine feste Wahrheit existiert, von der es sich abgrenzen könnte. „Alle Bedenkzeit der Welt hab ich gehabt, doch es gab nichts / was das Kopfschütteln lohnte“. In diesem horror vacui bleibt dem Ich nur die fragmentarische Wahrnehmung und Erinnerung. Die sprachliche Konstitution der zwei Parallelrealitäten verweist auf eine dritte Größe, ebenfalls innerhalb der Sprache: die Differenz zwischen dem Versprochenen und der Gegenwart. Diese dritte Kategorie ist die Lehre, die Entwertung des Versprochenen, der Verzicht auf Utopie, auf Eindeutigkeit, auf Entfaltungsmöglichkeit und besonders auf Authentizität. So ist das Ich gezwungen zur Korrektur der eigenen Wahrnehmung und individuellen, weil abweichenden Gefühlsäußerung – „hab ich […] mein schiefes Grinsen rasiert“ und nimmt verschiedene Rollen wie die des Sankt Petrus und Thomas von Aquin an. Diese Reihung disparater Entwürfe läuft jedoch nicht mechanisch ins Leere, sondern findet immer wieder zurück zu seinem kleinsten gemeinsamen Nenner: Das Erleben des Bezugspunktes Ich, das ihm eine – wenn auch zersplitterte – Identität setzt, genauso brüchig wie das Staatskonstrukt, das es hervorrief. Gerade das überbetont subjektive Sprechen verweist dialektisch darauf, dass Eskapismus und Rückzug nicht allein als Reaktionen des Ichs, sondern als allgemeine Reaktionsweisen auf Repression anzusehen sind. Auch die Vermeidung konkreter Angaben zu Raum und Zeit heben den Beispielcharakter dieses Lebenslaufes unter einem Überwachungsstaat hervor. Im „Hier“ entscheidet sich das Ich zum  Rückblick, zur „Nostalgie“, deren Produkt das Gedicht ist. Dabei stellt es fest, dass die Rückreise in die eigene Vergangenheit auch eine Aufarbeitung der Landesgeschichte erfordert, die letztendlich, um sie zu überleben, als blind spot verdrängt werden muss. So ist die Nabelschau des Individuums unentrinnbar zugleich immer auch ein politisches Kartogramm der Vergangenheit und persönliche Anamnese. Das Verhältnis staatsbildendem und -bauendem Subjekt und dem Staat ist symbiotisch, das eine des anderen Bezugspunkt. Der Körper schient das einzig fest Bestimmbare, das Objekt ohne Selbst zu sein in der dynamischen Kollektividentität die aus der politischen Observanz des Privatleben heraus entsteht, aus einer idealen Verschmelzung von politischem und individuellem Denken und Handeln.

In den Neubausteppen habe ich den ersten mageren Körper geliebt.

Die Politisierung des Ichs erfolgt über die Verhinderung von Isolation und Abgrenzung im Alltag: Dessen Strukturierung zielt auf die Verwischung der Grenzen zu anderen. Das Ich charakterisiert sich als Teilnehmer an Gruppenunternehmungen wie der Schule, dem Fußballspiel und Chor, dem Leben in Kaserne und Zeltlager. Alleinsein beschreibt es als einen Zustand der möglichen Auflehnung, ein Deserteurdasein, das sich über seine bloße Abkehr definiert, keine Abstimmung mit den Füßen leistet: „war ich auf leerem Appellplatz tollkühn“. Auch das Sprechen findet nicht als Dialog, sondern als Monolog statt und zeigt das Gefangensein des Ichs auf der Bühne ,Gesellschaft‘. „Ungefragt sprechend wie andere spucken, beiseite“. Die Auf- und Ablehnung kreist in dieser Isolation um sich selbst, hat nur sich selbst und in der Nachzeit den Leser als Publikum, als Zuhörenden. So muss das Ich auch „allein auf die Reise“ gehen. Souvenir dieses Exkurses ist das Gedicht, das Psychogramm des Ichs, das paradigmatisch für die Bewusstseinshaltung der Dissoziation, Entgrenzungserfahrung und inneren Emigration des DDR-Bürgers steht und nicht zuletzt die Suche nach Individualität durch die Kunst als psychologischen Reaktionsreflex entwertet. In diesem Zusammenhang kann VITA BREVIS auch als zynisches Epitaph des Ichs betrachtet werden, das in pointiert-selbstkritischer Form Klage, Kondolenz und Nachruf in einer abschließenden Betrachtung zusammenstellt.
Aus ideologisch motiviertem Verlust der Vergangenheit durch gesellschaftliche Anpassungszwänge resultiert der Mangel an gelebter Gegenwart, die Flucht in die Welt der Worte und somit auch der Zustand emotionaler Zukunftslosigkeit. In dieser Poetik des Überlebens, schwankend zwischen Analyse und Eskapismus, wird deutlich, wie die Verweigerung der eigenen Geschichte Gegenwart und Zukunft des Ich beeinträchtigt.

Im Gedicht drängt zuallererst sich das Schreckliche eines eingeschlossenen Subjekts auf, das mit ganzer Überredungskunst nach außen zu dringen sucht. Seine Schönheit beginnt als Verwirrung, Unzulänglichkeit, Engstirnigkeit, vielleicht böse, fast immer nervös sich äußernde Sinnlichkeit […] Ihr Ideal heute, von dem sie nichts wissen muss, ist eine Gedächtnismaschine, präzis wie ein Insektenauge, zum Wiederfinden gelebter Zeit. Denn Dichten beginnt als Schichtung zunächst ganz sinnloser Bewusstseinsstadien, durch die der Einzelne […] hindurch muss, ohne Rücksicht auf Kausalitäten und Chronologien. […] So überwiegen die Risse im Illusionären, das Unversöhnte, in schockhafter Montage Gefügte, doch in Metren, gleiche welchen, schleppt sich auch Zeit mit.

Die Kunst des Beiseitesprechens
So ist VITA BREVIS für sein lch gestauchte, gekrümmte oder gedehnte und immer auch erlebte und gelebte Zeit, doch was lässt sich über sein Verhältnis zur Sprache sagen? Zunächst ist sie das Mittel, mit dem es sich in Erzähldistanz zu sich selbst verdoppelt und ,über-redet‘, Sprache und Sprechen in ihrer ureigensten Funktion: Kommunikation, die Mitteilung von Befindlichkeiten als momenthafter Ausweg aus der unvermeidlichen Isolation und Einsamkeit jedes Einzelwesens, als Gefäß für Gefühl und Geist. Das Ich ringt um sich selbst, was seine Sprache als Medium ohne Übermittlungsverlust dem Leser aufbürden soll: „Die Sprache beschönigt nichts mehr, sie ist genauso zerrissen und nervlich angespannt wie die Lage, aus der sie sich strauchelnd erhebt“. Begründet und bekräftigt wird die Identität und Einzigartigkeit des Ichs erst durch die sprachliche Setzung seiner Geschichtlichkeit, durch das Sich-Erzählen. Beschränkt der Maulkorb der Zensur die subjektive Entfaltung und freie Aussprache, transportiert Sprache beides: den Versuch individueller Abgrenzung von der Norm und ex negativo eben jenes Kollektiv. Sprache kann Fremdheit hervorrufen – „dawai, dawai!“ – oder eine Heimat – ein geistiges Exil – sein. Auch sublimiert ihr freier und künstlerischer Grad das Ich, schreibt ihm einen Wert zu. Sie überwindet die Zeit, befriedet und setzt Wirklichkeiten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: In der Vergangenheit zeigt sie sich in Erinnerungen und „Legenden“, die Gegenwart kann mit ihr beispielsweise durch Humor umgedeutet und bewältigt werden. Die Zukunft wird durch immer auch sprachliche Vorstellungen einer Utopie oder deren Abwesenheit geordnet und antizipiert. Nicht nur linear abfolgende, auch nebeneinander bestehende Mehrwahrheitlichkeiten innerhalb eines Momentes, bereits beschriebenes schizophrenes Double-Bind, wird durch Sprache geschaffen. Sie zeigt sich in Humor und Zynismus als Träger und Vereiner von zwei Wirklichkeiten. Worte sind für das Ich Gegenwelt und Waffe zum Missbrauch der Sprache als Propaganda, als Machtmittel, sind gegen die Verlogenheit der „Schönen Künste“, gegen die neuen Bibeln gerichtet. Nicht zu vergessen das Kriterium der subjektiven Ästhetik: Sprache ist hier als politischer Abwehrgestus und ästhetischer Gegenwurf zur Parteisprache zu verstehen.
Festzuhalten bleibt: Sprache ist in Grünbeins Gedicht subversiv, geschieht sie im Beiseitesprechen oder „[Summen] von zwei, drei Zeilen“. Sie trägt aber auch Konformität und Lüge als Gleichsang im Chor, Lüge gegen die Musen oder als ein Meineid gegenüber den Eltern, der interpunktionell explizit als (Falsch-)Aussage des Ichs innerhalb des Gedichts gekennzeichnet ist. Sie ist das Medium, das den Staat bekräftigt und entlarvt, das Ich narkotisiert – die Ohnmacht zu verleugnen „mit schwarzem Humor“. Dennoch besitzt sie ihrerseits Macht: Zwei Zeilen leisten Widerstand gegen „die Zensoren, die ideologischen Flurhüter“ und spülen die brüchige Sandburg des Staates hinweg. In diesem Zusammenhang verweist das Leitmotiv von Sprechen und Sprache in VITA BREVIS auch auf die Bedeutung des Gedichtes, auf Haltbarkeit, Fehlbarkeit und Funktion des sprachlichen Gebildes, und verbindet sich in mehreren Motiven mit einer Aussage Grünbeins über den Zusammenhang von Architektur und Literatur:

Im allgemeinen macht der Mensch seine erste eigene Erfahrung mit Architektur als Kind in der Sommerfrische, wenn er am Meeresstrand Sandburgen baut. Jeder kennt sie, die tiefe Befriedigung, die ihm währenddessen und nach vollbrachter Tat, bei Betrachtung des Kunstwerks, erfasst. […] Nicht umsonst hat ja die Sandburg als Gegenüber die Brandung. […] Die Schriftsteller haben sich auf die Seite des Meeres geschlagen. Mit ihren Phantasiegebilden sind sie zu Komplizen der Vergänglichkeit geworden. Heimisch im Metaphysischen, blinzeln sie mit jeder weiteren Zeile der Leere entgegen. Die zertrampelte Sandburg hat sie ein für allemal das Verzichten gelehrt [Anm. d. A.]

Die gesprochene Sprache nimmt in VITA BREVIS auffällig großen Raum ein: Ist das Beiseitesprechen als dynamischer Prozess, als Monolog zu sich selbst, als Dialog innerhalb der sprachlichen Erstarrung oder doch lediglich als Zeichen der Isolation des lchs zu verstehen? Trotz aller Erlösungshoffnung, die der Sprache im Gedicht zugeschrieben wird, ist sie in Form der Stimmlichkeit respektive Stimmigkeit keine zuverlässige Sonde zur Wahrheitsfindung. So entfaltet sich beispielsweise der Gesang, in Vers 30 bis 32 in der Figur des Chorknaben bereits als harmonische Anpassung antizipiert, in Vers 24 zur offenen Lüge. Die akustische Gegenbewegung, das Summen, wird erst im Nebeneinander, in der Überblendung zweier Tonspuren wirksam. Die Musik muss die Gedankenflucht tarnen, bildet eine schützende auditive Hülle. Die „Nostalgie“ ist in der Verzweiflung des Ichs nur noch als fistelnde Stimme vernehmbar, eine Verzweiflung, die sich in der dramatischen Schwächung ihrer Stimme selbst ironisieren will. Der Stimmhaftigkeit des Gedichts entsprechend, beschreibt das Ich häufig auditive Sinneswahrnehmungen, die durch ihrer Koppelung an gesprochene Schrift die musikalische Komponente von Sprache betonen wie „den russischen Laut des Sergeanten“.
Sprache ist in VITA BREVIS eine Universalie. Sie ist zugleich Konstitution, Dekonstruktion und Destruktion. Sie zeigt und ist kaleidoskopisches Spektrum von Menschlichkeit. Sprache vereint dynamisch die Gegensätze der Theorie, als Zeichen für etwas, und der Praxis – als Medium einer bestimmten Intention, die eine bestimmte Wirkung hat. Gerade angesichts ständig wechselnder parteipolitischer Kursvorgaben verschiebt sich das Verhältnis von Bezeichnetem und Bezeichnendem, von Signifikat und Signifikant. Im repressiven Staat existiert eine sprachliche Unsicherheit bezüglich dessen, was geäußert werden darf, was nicht – und in welcher Form dies geschehen darf. Darin besteht der poetische Mehrwert des Gedichts; es stellt sich zaghaft den alten poetologischen Fragen: Was kann, soll und muss die Literatur, muss Sprache angesichts solcher Vorzeichen leisten? Wie ist das Verhältnis von Poesie und Politik zu bestimmen? Auf diese Fragen durch hermeneutische Interpretation eine ganzheitliche Antwort zu finden fällt schwer angesichts der Fragmentierung von Ich und Erinnerung. Der poststrukturalistische Ansatz Michel Foucaults wirft einen anderen Fokus auf das Gedicht, betrachtet man dieses als Teil einer diskursiven Formierung über die DDR.

„Wer darf sprechen?“
Michel Foucaults Betrachtungen kreisen auch um die Themenkomplexe Macht, Diskurs und Subjekt. Mit Diskursen sind „keine Einzeltexte oder Textgruppen gemeint, sondern Komplexe, die sich aus Aussagen und den Bedingungen und Regeln ihrer Produktion und Rezeption in einem bestimmten Zeitraum zusammensetzen.“ Foucault kritisiert somit die Vorstellung, dass sich hinter einem Text immer ein Subjekt verbergen muss, dessen Aussage die Bedeutung des Textes bestimmt respektive mit ihr gleichzusetzen ist. Diskursanalyse untersucht die umfassenden Bedingungen der Möglichkeit von „Aussagen“. Vor dem Hintergrund der kritischen Analyse von Subjektsein und subjektivem Sprechen kann in VITA BREVIS von der Entsubjektivierung des Sprechens in nebeneinander gelagerten Strömen gesprochen werden. Die Leitfrage „Wer darf sprechen?“ führt zu einer Betrachtung des Textes durch die Historische Diskursanalyse, die seinen Sinn nicht als von innen kommend versteht, sondern Bedeutung als „innerhalb kultureller Entwicklungen und vor allem durch Machtbeziehungen von ,außen‘ historisch hergestellt“ sieht.
In dem Bemühen seine Identität, seine Sprache innerhalb des damaligen Diskurses zu verorten und daraus seine Gegenwart zu bestimmen, gibt das Ich in VITA BREVIS mit seiner Regression in Ansätzen einen laienhaft-mündlichen Überblick über damalige Diskurse. Gleichzeitig ist das Gedicht auch Element des heutigen Diskurses über die Lebensbedingungen in der DDR. Dieser Nachwendediskurs um Trauerprozess der DDR-Künstler und Exorzismus ihrer Traumata wird über das Ich und seine Äußerungen hinausgehend vermittelt. Seine Identität als Sprecher wird entwertet, da laut Foucault das Subjekt erst innerhalb der Macht entsteht: „Diskurse sind die Formen, in denen Machtverhältnisse von den ihnen Unterworfenen reproduziert werden. Gleichzeitig produzieren sie in diesen Formen auch sich selbst als ,Subjekte‘“. Foucault betrachtet den Autor nicht als Subjekt der Aussage, dessen Absicht und deren Inhalt zu untersuchen wären, sondern als „Aussagesubjekt“, das erst durch bestimmte, historisch rekonstruierbare, konkrete Praktiken als ein „Subjekt“ konstituiert wird, das sich dann in der Position eines „Aussagenden“ befindet. Oder anders: Begibt man sich mit Foucault auf die Suche nach dem Subjekt des Gedichts, ist für den außerhalb der Zelle DDR stehenden Betrachter kein großer Wille, keine Mitte mehr auszumachen, lediglich ein textuelles Strömen durch eine fleischliche Markierung. Obgleich auch diese ein Bild, die Brandung von Hawaii, visualisiert, ob das Zusammengefügte dissoziativer Wahrnehmungen – das Ich letztlich in der textlosen Leere für immer ins Nichts versinkt, ist nicht absehbar, aber auch nicht von Bedeutung. Das in VITA BREVIS vorgestellte Ich mag kein ganzheitliches sein, besitzt aber auch unter poststrukturalistischem Zugriff dennoch eine aktuelle Wahrnehmung, eine „wirkliche und unkörperliche Seele…“, ein gefühltes Jetzt, das alle zu ihm gehörenden Bruchstücke für den Augenblick in sich zusammenfasst. Foucault negiert nicht das Subjekt an sich, sondern kritisiert das Subjekt des Wissens, das „epistemische Subjekt“. Dies bedeutet jedoch nicht die Negation des „empirische(n) Subjekt[s], der Erfahrung, dass Denken, Handeln die Verhältnisse und sich selbst verändern kann.“ Auf dieses Subjekt bezieht Foucault seine Ausführungen – so Wilhelm Schmid.
Wissen wird gewonnen durch diskursive Praktiken, durch verschiedenste Formen von Textsprache und ist nur innerhalb des Diskurses möglich. So existieren für das Ich keine absoluten Wahrheiten: Bedingt durch die Polysignifikanz des mehrschichtigen Sprechens unter der Zensur lassen Wahrheitsgefüge alternativ auch immer andere Wahrheitsgefüge zu. Die Akzeptanz dessen, was für wahr genommen wird, korreliert mit der herrschenden Autorität, die bei Foucault nicht mit der Macht gleichgesetzt werden darf. Denn: „Unter Macht […] ist zunächst zu verstehen: die Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren […].“ Diese Macht beschränkt sich nicht auf ein Zentralorgan und dessen Unterworfene, sie durchdringt alle Institutionen und Schichten, ist integrativ und omnipräsent: Das Ich in VITA BREVIS ist somit nach Foucault nicht als unterdrücktes Subjekt, sondern als Mitkonstitutor zu verstehen. „Allgegenwart der Macht: […] Nicht weil sie alles umfasst, sondern weil sie von überall kommt, ist die Macht überall“. Die Staatsmacht ist für Foucault „nur der Gesamteffekt all dieser Beweglichkeiten“. Mit ihm stellt sich die Frage, wie das Spiel dieser Machtbeziehungen durch ihren Vollzug beeinflusst wird. In VITA BREVIS herrscht das Prinzip der wechselseitigen Konstitution und Affirmation: Auf Seiten des Staates findet sich zunächst entsprechend der Repressionshypothese der Zwang zu Kontrolle und Bestrafung seiner Bürger. Da ein totalitäres Staatsgebilde auf der institutionellen Integration von Machtbeziehungen beruht, muss es abweichende Meinungen präventiv unterbinden, eindämmen und auslöschen. Dieses Konzept ist deshalb so einfach „unter Wasser zu setzen“, weil es auf ständige Rekonstitution durch die Beherrschten angewiesen ist. Der absolute Gehorsam kann deshalb nur als Näherungswert betrachtet werden – die Machtverhältnisse im Sinne Foucaults sind nie statisch. Auf Seiten der Beherrschten, dem Negativ zur Herrschaft, regieren vordergründig komplementäre Vorgaben: Die Angst vor Bestrafung und sozialer Isolation, die als Gruppengefühl den Zwang zu Konformität hervorruft und somit die beschriebene Bewusstseinszensur indirekt bejaht und ihr Bestehen verlängert. Diese „Logik der Zensur“, „die Untersagung“, nimmt nach Foucault drei Formen an:

die Behauptung, dass das nicht erlaubt ist; die Verhinderung, dass das gesagt wird; die Verneinung, dass das existiert. […] paradoxe Logik eines Gesetzes, das sich als Einschärfung von Nichtexistenz, Nichtkundgabe und Schweigenmüssen äußert.

Die vordergründig binäre Struktur von Staat als Täter und Untertan als Opfer wird durch ihre Anerkennung fortgeführt, das Ich in seiner „Mittäterschaft“ entlarvt. Allerdings besteht seine Reaktion auf die Macht nicht aus passivem Verharren: „Die Verhältnisse“ bewirken, als Gegentrend zur Propagandisierung der Sprache erst die Kreativität des Ichs: „Die Machtbeziehungen bilden nicht den Überbau, der nur eine hemmende oder aufrechterhaltende Rolle spielt – wo sie eine Rolle spielen, wirken sie unmittelbar hervorbringend.“ Zudem ist nach Foucault selbst ein offener Aufstand von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn es sein Ziel ist, frei von der Macht zu sein oder zu werden: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht“. Der Verantwortungsdruck hin zum Widerstand, der Vorwurf der Mittäterschaft, der auf jedem Subjekt lastet, wird teilweise durch die Tatsache entkräftet, dass in der Sichtweise Foucaults die „Seele der Revolte“, der „Brennpunkt aller Rebellionen“ überhaupt nicht existieren kann: Machtverhältnisse bestimmen sich durch ihre Abgrenzung zu vielen Widerstandspunkten, die allerorten vorhanden sind. Der Mythos der „Großen Weigerung“ ist demontiert, denn „es gibt einzelne Widerstände: mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromissbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände, die nur im strategischen Feld der Machtbeziehungen existieren können.“ Die Diskurse oder deren Nichtvorhandensein, das Schweigen, wie es in VITA BREVIS der Fall ist, sind mobile „Hindernis[se] Gegenlager; Widerstandspunkt[e]“ zur Macht, gleichzeitig aber auch „Machtinstrument und -effekt“. Die Rollen des Petrus und Thomas können somit als verschiedene Ausprägungen des Diskurses, als Punkte, zwischen denen der Ich-Diskurs aufgespannt wird, betrachtet werden. Effektiver Widerstand ist demnach für das Ich möglich, wenn auch nicht in der zielgerichteten Form und einer einfach berechen- und bestimmbaren Kausalität von Einsatz und Wirkung.
Der Punkt, in dem sich hermeneutische Lesart und von Foucault entlehnte Betrachtung berühren, ist die Kritik; Foucault hat Kritik als eine Haltung bestimmt, die ihre Position nicht von einem Ort außerhalb des Kritisierten entwickelt. Kritik ist als ein Verhältnis zu einer Gegenwart, zu dem, was existiert, zu verstehen. Das Ich ist seiner Vergangenheit gegenwärtig und leistet offene Kritik, vordergründig sinn- und wirkungslos, da aus der Erinnerung heraus. Für den Leser dagegen ist es beredtes und schweigsames Zeugnis einer verzweifelten Spurensuche; es wird, da in der Form des Gedichtes auf immer eingefroren, als Abbild fragmentierter Momente Mahnung und Aufgabe bleiben:
Das Dichterwort strebt in die Vertikale wie eine Rakete, sein Betriebsgeheimnis ist die ballistische Kurve. Keiner kann sagen, wo es landen wird. Es strebt fort vom Augenblick und hält ihm gerade deshalb streng fest als eine Art planetarischer Botschaft, die an die Zukunft gerichtet ist oder vielleicht sogar an die Außerirdischen. In gewissem Sinne sind alle Nachgeborenen Außerirdische, die immer aufs Neue versuchen, die Botschaft aus ihrer Zeitkapsel herauszulösen und zu entziffern.

Cosima Hohl, aus: Andrea Bartl (Hrsg.): Verbalträume. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Wißner-Verlag, 2005

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