2. Dezember

Millionen- und milliardenfache Quantitäten behaupten sich – auf der Wortebene – auch in andern Zusammenhängen … auch in der Alltagswelt der Normalverbraucher. Unlängst hat in den USA ein solcher Normalverbraucher zweihundertvierzig Millionen US$ beim Lotteriespiel gewonnen, ein anderer in Großbritannien hat seinen Millionengewinn verfallen lassen. Für das ›Abstrakte Bild 779-2‹ von Gerhard Richter wurde vor wenigen Tagen auf einer Auktion in New York ein Rekordpreis von annähernd fünfzehneinhalb Millionen US$ bezahlt, und in der heutigen Presse ist die Rede von einer Buße in Höhe von fast zwei Milliarden US$, zu der die HSBC gestern wegen Geldwäsche (ebenfalls in Milliardenhöhe) verurteilt wurde. Die Rede ist auch von einer Salzburger Finanzbeamtin, die durch eigenmächtige Spekulationen im Alleingang dreihundertvierzig Millionen Euro zum Schaden der Kommune verzockt hat. In einem Kleininserat der NZZ bietet eine Immobilienfirma Liegenschaften rund um den Zürichsee im Wert von zehn bis hundert Millionen CHF an. Roger Federer hat an der sogenannten »Goldküste« am Zürichsee für je einen zweistelligen Millionenbetrag ein Stück Land erworben und den Bau einer Villa in Auftrag gegeben, derweil er auf seiner Exhibition-Tournee durch Südamerika innerhalb von vierzehn Tagen ebenfalls eine zweistellige Millionensumme generiert. Verglichen damit ist es eher eine Bagatelle, wenn ein deutscher TV-Sender seinen Quizkandidaten einmal wöchentlich die Chance gibt, Millionär zu werden. In Millionen und Milliarden lassen sich heute die unterschiedlichsten Quantitäten zählen, positive wie negative; die große runde Zahl kann als Rekord, als Argument, als Gewinn- oder Verlustbilanz ausgewiesen werden, sie triumphiert aber mehr und mehr auch als Qualitätsbeweis. Zu einem maßgeblichen Millionenwert sind die Klicks geworden, mit denen Abermillionen von Internetnutzern ihre Vorlieben und Bedürfnisse signalisieren. Die Zahl als solche wird zum Qualitätskriterium, beglaubigt den Erfolg, diskreditiert jeglichen künstlerischen Anspruch. Der Dominanz von Klicks, Likes, Ratings scheint auch der Kulturbetrieb sich beugen zu wollen. Die Qualität großer Kunst wird an Auktions- und Museumspreisen gemessen, Literaten werden nach der Anzahl von Preisen, Stipendien und verkauften Titeln beurteilt – alles soll »zahlreich« sein, denn nur, was reich an Zahl ist, wird auch reich an Erfolg und Gewinn sein. Die Autoren haben zu liefern, das Publikum soll kaufen, die Kritik wird’s zu schätzen wissen. Die Sensation übersteigt den Sinn. – Was mir Krys unlängst gestehen wollte, war … ist eine »große Liebe«, die ihr beim Workshop in Heiden unterlaufen sei: Ein russischer Künstler, sensibel und hungrig, brutal und scheu, mittlere Begabung, keine Ambition, ein Mann mit mehr Vergangenheit als Zukunft und eben deshalb ungeheuer gegenwärtig – »bei jeder sich bietenden Gelegenheit sind wir ineinander gestürzt, und das war’s dann, jedes Mal war’s nur einfach das!« Dazu ist naturgemäß nichts zu sagen. Mich bringt’s zum Nachdenken darüber, wie Alter und Sinne ineinander spielen. Mit dem Alter, man weiß es, schwinden die Sinne … schwinden zumindest gewisse Sinne; doch man vergisst – oder man realisiert nicht –, dass andere Sinne wacher, heftiger werden. Die Potenz mag schwinden, das Begehren wächst; die Sehkraft mag sich eintrüben – das Gesehene prägt sich tiefer ein; die Erinnerung mag geschwächt sein – das Gedächtnis wird schärfer, plastischer, übersichtlicher. – Anruf einer Unbekannten, die sich als Olga M. anmeldet – sie sei eben in Zürich-Kloten gelandet, habe dreieinhalb Stunden Aufenthalt, ihr Anschlussflug nach London sei verspätet usf. – ob ich kommen … ob wir einander treffen könnten? Olga? Olga! Ich erinnere mich – wir waren in den Jahren 1968/1969, als ich mit einem Stipendium des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbands in Prag lebte, für einige Monate heftig befreundet gewesen, hatten uns mit meinem kleinen weißen Austin Morris kreuz und quer durch die besetzte Republik bewegt, hatten Schriftsteller interviewt, Künstlerateliers besucht, russische Okkupanten befragt usf. Eine hohe Zeit, spannend, anstrengend und auch ein bisschen riskant. Dann die plötzliche Trennung, als ich das Land nach einem Autounfall kurzfristig verlassen musste. Wir haben damals noch ein wenig korrespondiert, hin und wieder telefoniert, sind dann aber bald wieder eigene Wege gegangen. Das war vor … vor fünfundvierzig Jahren, und nun kommt am Meetingpoint eine hagere, völlig ergraute Dame auf mich zu, fällt mir um den Hals, begrüßt mich als Feljuscha, beginnt detailbesessen von damals zu erzählen. Damals! Ja, ich war damals dabei, ich war in Olga verliebt und mit ihr vertraut, erinnere mich an ihren aufmerksamen Blick, an ihre geschickten Hände, an ihr linkes Knie an meiner rechten Seite, an ihren herben Duft, der mir irgendwie pflanzlich vorkam, erinnere mich auch plötzlich wieder an ihr feines graues Achselhaar – ein silbriges Glitzern, das ich bei einer jungen Frau so noch nicht gesehen hatte … das es bei einer jungen Frau eigentlich gar nicht geben kann, es sei denn, sie hat’s gefärbt. All diese präzisen Erinnerungen kommen in mir hoch im selben Augenblick, da ich erkenne, dass ich diesen Menschen in keiner Weise mehr auf mich und mein Leben beziehen kann. Olga ist mir völlig fremd geworden, nichts an ihr kann mir jemals vertraut gewesen sein, selbst ihr Name kommt mir wie ein unübersetzbares Fremdwort vor. Olga? Ja, wir hatten gemeinsam Milan Kundera und Milan Uhde in Brünn besucht, hatten an der Prager Karls-Universität ein Dreiergespräch mit Karel Kosík geführt, hatten im Theater am Geländer mit Václav Havel ein Premierenfest erlebt, waren nach Olomouc zum damals schon hochbetagten Philosophen Josef Fischer gefahren und nach Karlsbad zu einem Treffen mit Pavel Kohout. Und manches andere mehr. Und jetzt? Nichts. Außer meinen und Olgas Erinnerungen ist nichts geblieben, die Frau, der Mensch von damals ist äußerlich nicht wieder zu erkennen … ist eine Zumutung, die ich als Niederlage empfinde. Das Provozierende daran ist, dass ich mich an die einstige Geliebte einerseits so genau erinnern kann und dass sie sich nun, da sie fremd vor mir steht, wie ein schwammiger Schatten auf mein Gedächtnis legt, um es – und damit auch sich selbst – zu löschen. Offensichtlich hat sie in diesem Moment eine andere Empfindung. »Du bist«, sagt sie flüsternd, »noch immer der Alte.« Alt? Damals war ich sechs-, siebenundzwanzig; und sie wohl vier, fünf Jahre jünger. – Habe verschlafen bis gegen acht. Draußen liegt eine frische hauchdünne Schneeschicht, darüber strahlendes lauteres Licht, der Himmel steht steil auf dem goldgezackten Horizont, angelehnt ans rostbraune Hügelgelände jenseits des Sees, nach oben begrenzt durch ein schimmerndes Band von zartem Rosa, das auf halber Höhe in ein ebenso zartes Blau übergeht und immer heller, heiterer und schließlich absolut weiß wird. In dieser höchsten Weiße hängt bereits silbern der Mond von heute Nacht, sieht aus wie ein blindes, leicht zugekniffenes Auge, durch das sich der Blick in noch fernere Weiten eröffnet. – Ebenso auffällig wie Fjodor Dostojewskijs Allgegenwart als vielzitierter Meisterdenker im postkommunistischen Russland ist die Tatsache, dass Anton Tschechow – trotz der hohen Wertschätzung, die ihm schon immer zuteil wurde und weiterhin zuteil wird – in den kontroversen Debatten um die »russische Idee«, den »russischen Weg«, die »russische Zukunft« keinerlei Rolle spielt. Politiker wie Publizisten tun sich schwer, Tschechow parteilich oder weltanschaulich zu vereinnahmen, und tatsächlich sind bei ihm weder patriotische Slogans noch gar prophetische Sprüche zu holen. Wohl hat Tschechow die Kürze als »Schwester« seines literarischen Talents bezeichnet, ein Aphoristiker war er dennoch nicht; dem Gedankenblitz zog er die Nachdenklichkeit vor, der effektvollen Vereinfachung – die kompromisslose Einfachheit, der zitierbaren Wahrheit – die präzise Wahrnehmung. Im Unterschied zu Dostojewskij (den er nicht sonderlich mochte) war Tschechow kein »engagierter«, philosophisch und politisch versierter Autor, der sich zum anklägerischen oder schönrednerischen Sprachrohr irgendwelcher Interessengruppen hätte machen wollen. Glaubenssätze zu vertreten, höhere Einsichten auf den Punkt zu bringen, Urteile abzugeben, Prognosen zu verkünden, Rezepte auszustellen – das alles war seine Sache nicht. Der schon mehrfach unternommene Versuch, Tschechows »Gedanken«, »Ideen« oder »Lebensweisheiten« anthologisch zu erschließen, hat sich denn auch jedes Mal als unproduktiv erwiesen: Wer von diesem Autor jäh einleuchtende Maximen und Reflexionen in flotter, leicht kolportierbarer Formulierung erwartet, wird enttäuscht sein von der Sprödigkeit und Beharrlichkeit, mit der ihm nichts anderes als der schlichte Menschenverstand und dessen Gebrauch beliebt gemacht wird: »Also zum Teufel mit der Philosophie der Großen dieser Welt!« Statt wie Dostojewskij zu sagen, worauf es ankommt und wo es lang geht, begnügt sich Tschechow damit, aus stets gleich bleibender Distanz aufzuzeigen, was der Fall ist, und eben dies weist ihn denn auch als einen zutiefst gleichgültigen Beobachter aus, dem tatsächlich alles und jedermann gleichermaßen gültig ist. Fast klingt es zynisch (und ist doch nur ein Imperativ vernünftigen Tuns), wenn Tschechow in einem Privatbrief festhält: »Auf dieser Welt muss man unbedingt gleichgültig sein. Nur die Gleichgültigen sind in der Lage, die Dinge klar zu sehen, gerecht zu sein und zu arbeiten …« Immer wieder hat man Tschechow diese Gleichgültigkeit zum Vorwurf gemacht, hat sie missverstanden als politisches Desinteresse, als ohnmächtige Hinnahme menschlichen Leids und menschlicher Niedertracht. Weit öfter noch wurde die von ihm vorgeführte schlechte Alltäglichkeit, die dominiert ist von Gier, Neid, Angst, Verrat, falscher Hoffnung und falschem Glück, dadurch aufgehellt und erträglicher gemacht, dass man auf das »milde Lächeln« verwies, mit dem der Autor den Horror der Normalität angeblich denn doch immer wieder verklärt habe. Aber wie man es auch dreht und wendet – bei Tschechow gibt es keinen Trost. All seine Bühnen- und Erzählwerke, eingeschlossen die beliebten Humoresken und Satiren, sind letztlich desolate Nullsummenspiele, man könnte auch sagen: Permanentszenen ohne Anfang und Ende – die Katastrophe in Permanenz, die Lüge in Permanenz, die Trivialität in Permanenz. Tschechow kennt, im Gegensatz zu Dostojewskij, weder rundum positive Helden noch bedrohliche Dämonen, die nachzuahmen oder zu bekämpfen wären; nicht sozialen, ethnischen, religiösen oder weltanschaulichen Differenzen gilt sein Interesse, sondern der Tatsache, dass Bauern wie Intellektuelle, Frauen wie Juden, Proleten wie Adlige, Ärzte wie Künstler, Geistliche wie Militärs gleichermaßen verantwortungslos, korrupt, geil, denkfaul, selbstsüchtig, brutal, feige, angeberisch, unehrlich oder ehrlos sein können, dabei aber durchaus als ganz normale, bisweilen auch sympathische Zeitgenossen zugange sind. Ob schlecht oder gut, hässlich oder schön, dumm oder klug, arm oder reich – bei Tschechow geht es um den Menschen schlechthin, um das Menschliche am Menschen, doch dieses bleibt hinter dem Bestialischen und Banalen so weit zurück, dass es nur ausnahmsweise überhaupt noch auszumachen ist, bei einem geschundenen Kind vielleicht, oder auch, metaphorisch versetzt, bei einem geschlagenen Hund, einem Gaul. In seiner ebenso abgründigen wie luziden Skepsis vermochte Tschechow in der condition humaine weder einen Sinn noch eine Bewährungsprobe oder gar eine höhere Bestimmung zu erkennen; das Leben war für ihn nur einfach dies – das Leben: »Mehr ist dazu nicht zu sagen.«

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